Ein Gastbeitrag von Gregor Amelung
In einem Altenheim in Leichlingen in NRW hatten sich Erkältungssymptome bei einer bereits geimpften Bewohnerin gezeigt. Der routinemäßig vorgenommene Corona-Schnelltest schlug positiv an. Nachdem ein zweiter Schnelltest das Ergebnis bestätigte, wurden alle Bewohner und Pflegekräfte durchgetestet. 17 waren positiv.
Mitte Januar geimpft, jetzt positiv
Anschließende PCR-Tests bestätigten die Schnelltestergebnisse bei einem Teil der Betroffenen noch am Mittwochnachmittag (14.04.). Spätestens am Freitag (16.04.) war dann klar, dass alle 17 auch PCR-positiv waren. Unter ihnen waren 12 Bewohner und 2 Angestellte, die ihre 2. Corona-Schutzimpfung bereits Mitte Januar erhalten hatten. Laut dem Focus waren die Senioren mit dem RNA-Vakzin von BioNTech geimpft worden. Als nun festgestelltes Virus gaben die örtlichen Behörden die britische Variante B.1.1.7. an.
»Ärgerlich« und »überraschend«
»Diese Dichte an Fällen an einem Ort, die ist schon überraschend«, so Prof. Dr. Jörg Timm, Direktor des Instituts für Virologie an der Uni Düsseldorf, noch am Donnerstag (15.04.). Deshalb müsse der Fall in Leichlingen genau untersucht werden.
Als »ärgerlich« bezeichnete der Infektionsepidemiologe Prof. Dr. Dr. Timo Ulrichs den Fall, »weil man da in Erklärungsnöten ist«. Schließlich gehe er wie die meisten anderen Experten davon aus, »dass die Impfung vor allen diesen Dingen – vor Infektion und Weitergabe und Erkrankung – schützt«, so Ulrichs laut ARD.
Fälle auch in Remscheid, Bochum und im Landkreis Fürth
Und Leichlingen ist kein Einzelfall. Zeitnah wurden in Remscheid und Bochum ähnliche Corona-Ausbrüche unter Geimpften registriert. Nach Angaben der Stadt Remscheid wurden 12 von 60 Bewohnern in einem Altersheim mit dem PCR-Test positiv getestet. Genauso wie zwei Mitarbeiter, die »ebenfalls bereits den vollen Impfschutz hatten«. Und in einer Bochumer Senioreneinrichtung, in der 81 Senioren untergebracht sind, gelten 13 als »infiziert«, obwohl 11 von ihnen eine Corona-Impfung erhalten hatten, so Tagesschau.de am Freitag (16.04.).
Zu einem ganz ähnlichen Corona-Ausbruch war es laut Nordbayern.de (15.04.) und den Fürther Nachrichten auch in einer Senioreneinrichtung im fränkischen Zirndorf im Landkreis Fürth gekommen. Dort haben sich 24 Bewohner mit der britischen Variante des Coronavirus »infiziert«, von denen 17 bereits den kompletten Impfschutz hatten.
Tödliche britische »Mutation« wird klammheimlich zur »Variante«
Die letzten Zweitimpfungen hatten am 11. März stattgefunden, so der Betreiber des Zirndorfer Seniorenheims, die Arbeiterwohlfahrt (AWO). Zum Einsatz gekommen war auch hier der Impfstoff von BioNTech. Zwei Wochen später, am 25. März, hatte ein routinemäßiger Schnelltest positiv angeschlagen. Insofern ist der Zirndorfer Fall nicht so klar und eindeutig wie der in Leichlingen, denn der volle Impfschutz soll erst 15 Tage nach der 2. Impfung gegeben sein.
Die anschließenden PCR-Tests hatten dann wie in Leichlingen die britische Variante B.1.1.7. zu Tage gefördert. Die galt im März noch als »64 Prozent tödlicher«. Basierend darauf hatte die Bundeskanzlerin am 24. März von einer »neuen Pandemie« gesprochen, in der sich Deutschland nun befinde. »Im Wesentlichen haben wir ein neues Virus, natürlich derselben Art, aber mit ganz anderen Eigenschaften – deutlich tödlicher, deutlich infektiöser, länger infektiöser.« Etwas mehr als drei Wochen später liest sich das in der Berichterstattung über die Corona-Ausbrüche bei Geimpften in NRW und Bayern schon deutlich anders.
Klammheimlich hat sich offenbar auch bei den Medien durchgesetzt, dass die britische Variante nicht der ”Superkiller” ist. Dieser Sinneswandel ist zwei britischen Studien von letzter Woche geschuldet, die zu dem Ergebnis kamen, dass die Variante zwar ansteckender, aber eben nicht tödlicher sei. Und so ist in den Berichten über die neuerlichen Corona-Ausbrüche bei Geimpften meist nur noch von der britischen »Variante« statt der »Mutation« zu lesen und das im März noch inflationär benutzte Adjektiv »tödlicher« fehlt ebenfalls.
»Wer geimpft ist, soll sich trotzdem an die AHA-Regeln halten.«
Ansonsten wurde in den Meldungen durchweg betont, dass die Betroffenen keine oder nur leichte Symptome gezeigt hätten, was die Wirksamkeit der Impfung bestätigen würde. So wurden die »aktuellen Fälle in NRW« beim Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) weniger zu einer Frage über die Wirksamkeit der Impfstoffe als vielmehr zu einem Beweis eben dafür: »Die Impfungen verhindern… wie in den aktuellen Fällen in NRW einen schweren Verlauf von COVID-19 und mildern die Erkrankung ab«.
Ganz ähnlich wurde der Zirndorfer Fall beim Bayerischen Rundfunk am Freitag (16.04.) eingeordnet. »Die Impfungen«, so Jeanne Turczynski aus der BR-Wissenschaftsredaktion, »schützen zu über 90 Prozent, aber eben nicht vollständig«. Am selben Tag erklärte ihre WDR-Kollegin Christina Sartori zu dem Fällen in NRW: »Experten sagen schon lange, wer geimpft ist, soll sich trotzdem an die AHA-Regeln halten.«
Punkte werden nicht verbunden, Informationen nicht gewichtet
Die vier Punkte – 14 Geimpfte in Leichlingen, 14 in Remscheid, 11 in Bochum und 17 in Zirndorf, alle positiv getestet – wurden medial aber nicht zu einem Fragenkomplex verbunden. Und auch ihre Menge wurde nicht gewichtet oder eingeordnet, obwohl gerade im Fall von Leichlingen die Daten auf dem Tablett langen.
So werden in dem betroffenen Seniorenheim insgesamt 300 Menschen in verschiedenen Häusern betreut. Nur eines dieser Häuser war von dem Corona-Ausbruch betroffen. In ihm arbeiten und wohnen 60 Menschen. Von ihnen wurden 12 Senioren und 2 Mitarbeiter positiv getestet bzw. erkrankten, die alle einen vollwertigen Impfschutz hatten. Darüber hinaus ist zu dem Heim auf Tagesschau.de zu lesen, dass 95 Prozent aller Bewohner geimpft waren oder bereits Corona hatten und dass die Impfquote der Mitarbeiter bei 90 Prozent liegt.
Wenn man nun davon ausgeht, dass die Impfquote der Mitarbeiter und der Senioren zusammen etwa 90 Prozent beträgt, dann wären das in einem Haus, in dem 60 Menschen wohnen und arbeiten, 54 geimpfte Personen. Und der positive Test von 14 von ihnen entspräche 26 Prozent. Womit die hier gemessene Übertragungssicherheit durch eine Corona-Schutzimpfung bei 74 Prozent liegen würde, was schon nicht unwesentlich weniger ist als die berichteten »über 90 Prozent«.
»Geimpfte dürfen frei reisen!«
Trotzdem fand keine Gewichtung statt und die Punkte wurden auch nicht verbunden, obwohl die Zündschnur des »überraschenden« Falls in Leichlingen bis nach Berlin reichte. Denn am Ostersonntag, den 4. April, hatte Bild.de geschrieben: »Gesundheitsminister Spahn verspricht ›Geimpfte dürfen frei reisen!‹« Auch für Friseurbesuche und Einkäufe im Einzelhandel sollte das gelten, denn: »Wer vollständig geimpft wurde, kann in Zukunft wie jemand behandelt werden, der negativ getestet wurde«, so Spahn weiter.
Das war schon ein deutlicher Politikwechsel, denn bisher hatte sich Spahn als scharfer Kritiker all jener gezeigt, die in der Pandemie Privilegien für Geimpfte gefordert hatten. Noch Ende Dezember hatte er klipp und klar auf Solidarität gesetzt und erklärt: »Viele warten solidarisch, damit einige als Erste geimpft werden können. Und die Noch-nicht-Geimpften erwarten umgekehrt, dass sich die Geimpften solidarisch gedulden.« Schützenhilfe hatte der Minister für seine Haltung vom Deutschen Ethikrat erhalten.
Anfang April kam dann die Neuausrichtung. Ihr willkommener Nebeneffekt war, dass man damit die unter dem AstraZeneca-Debakel gelittene »Impfbereitschaft« in Deutschland erhöhen konnte. Und diese Karotte, die man dem teils querdenkenden, teils Corona-müden deutschen Esel pünktlich zu Ostern vors Maul gehängt hatte, war darüber hinaus noch wissenschaftlich abgesichert vom RKI. Denn als Grundlage für seinen Sinneswandel gab Minister Spahn eine Auswertung der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse durch das Robert Koch-Institut an.
»Keiner sollte Sonderrechte einfordern, bis alle eine Chance zur Impfung hatten.«
Und eben deshalb waren das auch keine »Sonderrechte« für Geimpfte, wie Spahns Sprecherin Teresa Nauber drei Tage später (07.04.) Boris Reitschuster in der Bundespressekonferenz erklärte. Da konnte der »Blogger« noch so energisch Spahns eigene Worte vom 28. Dezember 2020 zitieren: »Keiner sollte Sonderrechte einfordern, bis alle eine Chance zur Impfung hatten.«
Klare Sache, Reitschuster hatte das Zitat einfach nicht begriffen: Man sollte keine Sonderrechte einfordern, gewähren durfte man sie schon. Vor allem dann, wenn man damit lediglich neuste wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem RKI exekutierte. Eben das versuchte Frau Nauber dann auch Boris Reitschuster klar zu machen, aber der begriff es nicht, weshalb Nauber nach einem »Zusatz« von Reitschuster schließlich aufgab: »Ich könnte das jetzt noch einmal wiederholen, aber das tue ich jetzt nicht.«
Leichlingen widerspricht Spahns Formel: Geimpft = negativ getestet
In dem besagten RKI-Bericht, auf den sich Spahn und Nauber beriefen, steht: »Nach gegenwärtigem Kenntnisstand ist das Risiko einer Virusübertragung durch Personen, die vollständig geimpft wurden, spätestens zum Zeitpunkt ab dem 15. Tag nach Gabe der zweiten Impfdosis geringer als bei Vorliegen eines negativen Antigen-Schnelltests bei symptomlosen infizierten Personen.«
Tja, irgendwas musste da in Leichlingen wohl mächtig schiefgelaufen sein, denn aus den 17 positiven Schnelltest-Ergebnissen waren ja 17 Labor bestätigte PCR-Positive geworden. Und das nicht vor, sondern nach »dem 15. Tag« nach der 2. Impfdosis. Und nicht unter 1.000 oder 10.000 Betroffenen, sondern in einer recht abgeschlossenen Population von 60 Personen.
Wie das nun dazu passen soll, dass »Reisende«, Menschen, die zum Friseur oder in den Einzelhandel wollen, laut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn als »negativ getestet« gelten und keinen Schnelltest machen müssen, wenn sie bereits geimpft sind, versteht man wahrscheinlich erst, wenn es einem vom BMG erklärt worden ist. Es sei denn, man steht auf dem Schlauch – so wie Boris Reitschuster des Öfteren in der Bundespressekonferenz.
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Text: Gast
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