Ein Gastbeitrag von Dr. med. Friederike Kleinfeld
Von solchen Infektionszahlen hätte Deutschland bis vor ein paar Wochen noch träumen können! 1,5 Millionen Corona-Infektionen in Meldewoche 11 – und wir haben keinen Lockdown.
Bis Dezember 2021 ist mit zunehmender Infektionszahl auch die absolute Anzahl der Verstorbenen und der prozentuale Verstorbenenanteil gestiegen. Die Korrelation von Infektionszahlen und Todeszahlen war also etwa proportional.
Seit ein paar Wochen fallen die Corona-Todeszahlen stark ab, obwohl die Infektionszahlen höher gestiegen sind, als sie in den letzten zwei Jahren jemals waren.
Zum Vergleich: Beim ersten Corona-Hochpunkt in Meldewoche 14 des Jahres 2020 lagen die Infektionszahlen bei 36.047, in der entsprechenden Woche starben 6.105 Corona-Patienten; der Verstorbenenanteil stieg bis auf 7,05 Prozent.
Beim zweiten Infektionszahlen-Hochpunkt in Meldewoche 51 des Jahres 2020 waren 174.685 Menschen infiziert – also ungefähr fünfmal so viele wie beim ersten Hochpunkt. Es verstarben 6.434 Menschen mit oder an Corona – absolut gesehen ungefähr so viele wie beim ersten Hochpunkt, bei fünfmal höheren Infektionszahlen; der Verstorbenenanteil erreichte danach ein Hoch von 4,64 Prozent.
Aktuell liegen wir bei einem Infektionszahlen-Höchststand von 1,5 Millionen – ca. neunmal so viel wie beim zweiten Hochpunkt, und es verstarben in Meldewoche 11 nur noch 298 Menschen. Der Verstorbenenanteil liegt bei 0,02 Prozent – das bedeutet: Von zehntausend mit Corona infizierten Menschen sterben zwei.
Das Alter der Verstorbenen wird aktuell im Mittelwert auf 81 Jahre, im Median auf 85 Jahre angegeben. Beide Werte übertreffen die bei Geburt für Männer aktuell gemittelte Lebenserwartung.
Zur Einordnung der Todeszahlen ist es hilfreich, die Daten vom Statistischen Bundesamt aufzurufen. Aktuell sterben etwa 3.000 Menschen pro Tag deutschlandweit, durchschnittlich leicht mehr, als im Mittel der letzten sechs Jahre gestorben sind. Während der Influenza-Epidemie 2018 lagen die Todeszahlen über mehrere Wochen bei 3.300 bis 3.900 pro Tag; was bedeutet, dass unsere Todeszahlen sich bereits unterhalb des Epidemie-Todeszahlen-Levels befinden.
Sollte dieser Trend so bestehen, wäre es stark anzunehmen, dass Corona eine endemische Entwicklung vollzogen hat. Damit könnten die Empfehlungen zu Kontaktbeschränkungen, verminderten Reisen und häufigerem Impfen eingestellt werden und Deutschland könnte in die Selbstbestimmtheit zurückfinden, die wir vor Corona hatten.
Dennoch lauten die aktuellen Empfehlungen in der Risikobewertung des RKIs, „dass auch weiterhin nicht notwendige Kontakte reduziert und Reisen vermieden werden sollten. Kontakte sollten auf einen engen, gleichbleibenden Kreis beschränkt werden. In Innenräumen sollten kontinuierlich medizinische Masken getragen werden“.
Die Gefahr einer Infektion wird vom RKI für Ungeimpfte als sehr hoch, für Genesene und Geimpfte mit zweifacher Impfung als hoch und für die zweifach Geimpften mit Booster als moderat eingeschätzt. Diese Einschätzung erscheint nicht schlüssig, da laut aktuellem RKI-Wochenbericht die Mehrheit aller Covid-positiven Patienten tatsächlich zweifach geimpft und geboostert sind.
Professor Lauterbach fordert die Länder aufgrund der hohen Infektionszahlen auf, Möglichkeiten für eine stärkere Corona-Eindämmung zu nutzen. „Es gibt keinen Freedom Day, es gibt keinen Grund, hier nachzulassen.“ Der einzige Weg aus der Pandemie heraus sei die allgemeine Impfpflicht, da einige Menschen vor anderen und vor sich selbst beschützt werden müssten.
Professor Lauterbach setzt seine Maßnahmen prophylaktisch um, damit es auch in Zukunft den Menschen nicht schlecht geht. Das ist grundsätzlich ein wohlwollender Ansatz. Dieser Ansatz erfüllt nur dann seinen Zweck nicht mehr, wenn das Beschützen nicht mehr nötig ist. Wenn Menschen nicht beschützt werden möchten. Wenn sie zurückfinden möchten in die Selbstbestimmtheit, die in Deutschland einmal ganz selbstverständlich war.
Egal, ob es um Kinder geht, oder alte Leute, die durch die Maßnahmen geschützt werden sollen. Vielleicht sollten wir genau diese Kinder und Alten fragen, was sie nach zwei Jahren zu diesen Maßnahmen sagen. Ich kenne ein altes Ehepaar. Die beiden sind älter als 80 Jahre und mussten miterleben, wie die meisten ihrer Freunde sowie ihre Tochter verstorben sind. Die Treffen mit meinen Kindern haben den beiden Alten immer viel Energie und Lebensfreude gebracht.
Als Corona nach Deutschland kam, wollte auch ich den Kontakt zu den „Alten“ herunterfahren, zumal ich Corona-Intensivpatienten behandelte. Daraufhin haben die beiden sich geäußert, wie wichtig ihnen der Kontakt zu den Kindern sei. Dass sie lieber in Kauf nähmen, zu sterben, als meine Kinder zwei Jahre lang nicht mehr zu sehen und dann traurig zu sterben. Wir haben uns darauf geeinigt, die ersten Treffen draußen zu gestalten, um den Keimtransport geringer zu halten, und erst nach einiger Zeit, uns wieder drinnen zu treffen.
Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn tatsächlich einer von den beiden erkrankt oder gar gestorben wäre. Natürlich wäre ich verzweifelt gewesen. Aber das, was in meiner Arbeit oft eine Bedeutung hat, ist der „mutmaßliche Patientenwille“. Danach gilt es sich zu richten. Und in unserem Fall brauchte ich nicht zu mutmaßen; der Wille war klar kommuniziert. Meiner Meinung nach ist es wichtig, diesen Willen und damit die Selbstbestimmtheit anderer in möglichst hohem Maße zu respektieren. Auch von den Alten und den „Schwächeren“ unserer Gesellschaft.
Die Selbstbestimmtheit geht durch die Regeln der Pandemie zu einem großen Teil verloren, und ich fände es gut, wenn bald wieder jeder für sich selbst entscheiden darf, wie viele Leute er wann treffen möchte, wann und wo er eine Maske trägt und wie oft er sich impfen lässt. Der einzige Souverän in unserem Land ist schließlich der freie Bürger.
Ich habe nichts dagegen, wenn Menschen wie Professor Lauterbach, der viel Vorsicht walten lässt, sich nicht mit vielen Menschen treffen möchten. Ich habe aber auch nichts dagegen, wenn Menschen wieder Zeit zusammen verbringen und sich am Leben erfreuen. Dazu ist das Leben auch irgendwo da. Zum Leben halt.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Dr. med. Friederike Kleinfeld arbeitet als Ärztin in der Anästhesie und Intensivmedizin, und hat 1,5 Jahre lang Covid-Patienten auf Intensivstation betreut. Ihre Doktorarbeit hat Frau Kleinfeld in der Mikrobiologie geschrieben. Hier schreibt sie unter Pseudonym.
Bild: ShutterstockText: Gast