Die Demokratie eines Landes ist so gut wie die Institutionen, die die Kontrolle ausüben Eine Presse, die sich mit der Regierung verbrüdert, verrät die Demokratie

Ein Gastbeitrag von Vera Sandström*

Eine Grundannahme der Aufklärung über das Wesen politischer Systeme ist, dass Menschen in jeder Gesellschaft gleichermaßen von Macht fasziniert sind, und zwar sowohl diejenigen, die kraft eines Amtes Macht ausüben, als auch diejenigen, die geführt werden. In der politischen Theorie wird deshalb für eine funktionierende Demokratie Transparenz und Beschränkung von Macht vorausgesetzt. Demokratische Entscheidungsträger sind entsprechend niemals grundsätzlich als moralisch bessere und vertrauenswürdigere Menschen zu betrachten, die als Individuen irgendwie anders beschaffen wären als frühere Könige oder Fürsten, obwohl demokratische Politiker gerne so wirken (wollen). Wenn also ein Demokrat seinem Volke zuruft „vertraut mir, ich bin ein guter Demokrat, ich will nur das Beste für euch“, so sollte das Volk in einer funktionierenden Demokratie antworten mit „ja, du bist ein guter Demokrat, aber nur, weil und solange wir dir misstrauen und dich kontrollieren.“

Folglich lernen Amtsträger in einer funktionierenden Demokratie, dass sie ständig einer strengen Kontrolle ihrer Gesellschaft unterliegen (sie erleben diese Kontrolle täglich aufs Neue) und unterlassen deshalb von vornherein Dinge, die wahrscheinlich sanktioniert würden. So bildet sich allmählich eine demokratische politische Kultur. Nur (!) dadurch wirken demokratische Politiker normalerweise gemäßigter und aufrichtiger als Machthaber in Monarchien, Diktaturen oder Oligarchien. Üben Mächtige (in welchem System auch immer) ihre Macht aber längere Zeit zu frei aus, werden sie gleichermaßen von ihr korrumpiert. Warum ist das so? Weil alle Politiker, Wirtschaftsführer, Fürsten, Kaiser, Kalifen, Zaren am Ende normale Menschen sind – in Deutschland, in China, in Russland, in den USA, in Frankreich, überall und immer. Heute, vor 100 Jahren, vor 2000 Jahren – der Mensch ist eben so: Bekomme ich Macht (oder Geld), gebe ich das ungern ab, eigentlich nur, wenn ich unbedingt muss.

Im Klartext: In einer funktionierenden Demokratie kann Macht durch systemische Begrenzung von den Mächtigen nicht frei ausgelebt werden, obwohl diese das schon gerne würden. Es ist für einen aufrechten Demokraten vorsichtshalber stets davon auszugehen, dass auch bei seinen Politikern der Wunsch, möglichst unbegrenzte Macht auf Lebenszeit zu besitzen und diese auch für seine geistigen und/oder genetischen Nachkommen zu sichern, vorhanden ist. So wie bei allen anderen Mächtigen in Politik (und Wirtschaft) überall auf der Welt.

Nicht primär Gut- oder Bösartigkeit der Herrschenden, nicht Moral oder Dekadenz, sondern funktionierende und weitgehend voneinander unabhängige Institutionen eines demokratischen Systems machen den Unterschied aus: unabhängige Gerichte, freie und geheime Wahlen, ein „sprechendes“ Parlament unter Vertretung aller gesellschaftlichen Akteure und vor allem eine freie Presse, in der jeder Standpunkt offen diskutiert werden kann, und nicht zuletzt der kritische und mündige Bürger selbst! Praktisch jeder wohlwollende Demokrat läuft Gefahr, zum autoritären Herrscher zu werden, wenn diese begrenzenden Institutionen entweder nicht vorhanden sind oder aber, aus welchen Gründen auch immer, längere Zeit nicht mehr gut funktionieren.

Eine weitere Grundannahme von Demokratie ist, dass es in der Regel mehrere Perspektiven bei der Betrachtung eines Problems gibt und mehrere Wege zu einer möglichen akzeptablen Lösung. Der Presse kommt die Aufgabe zu, bei der Beleuchtung dieser unterschiedlichen Perspektiven zu unterstützen, Ideen zu entwickeln und dadurch zu möglichst effektiven Lösungen zu kommen, die alle wichtigen Aspekte und Gefahren berücksichtigen. Es ist auch Aufgabe einer freien Presse, politische Akteure möglichst kritisch zu beleuchten und deren Motive jenseits des vordergründig Gesagten zu hinterfragen sowie darüber zu informieren, was diese Menschen wirklich antreibt.

Demnach sind Skepsis, Kritik und Hinterfragen ganz zentrale Elemente unseres demokratischen Gesellschaftsmodells und sollten von uns allen täglich neu gefeiert werden.

So weit die schöne Theorie. Es gibt nur ein ganz großes Problem mit dieser Demokratie nach Lehrbuch, ein wirklich fundamentales Problem, weil es ein psychologisch-soziales ist: Das gesellschaftliche Miteinander ist unter den beschriebenen Umständen leider so unharmonisch! So viel in diesem System ist auf Kontrolle, Misstrauen und Konflikt ausgelegt, es fühlt sich einfach nicht gut an für die unmittelbar Beteiligten auf beiden Seiten. Niemandem auf der Welt gibt Kritik und Kontrolliertwerden ein gutes Gefühl, niemand wird gerne durchleuchtet und in seinen Absichten hinterfragt, für keinen Menschen auf diesem Planeten ist das angenehm, nicht für Kim, nicht für Xi, nicht für Biden, Putin oder Merkel, nicht für Drosten, nicht für Sie und nicht für mich. Sogar für Herrn Reitschuster nicht (außer er schafft es, Kritik zu Recht als Anerkennung zu deuten). Und auch nur relativ wenige Menschen wollen argwöhnische Kontrolleure sein, wenn ihnen eine „positiv-optimistische“ Alternative zu ihrer alten Rolle gezeigt wird. Man möchte sich gegenseitig vertrauen und das Gute in der „demokratischen Macht“ sehen, auch im Gegensatz zur „undemokratischen Macht“, über die man sich dann umso mehr gemeinsam ärgern kann. Und gemeinsam ist man vermeintlich stark. Auch in einer funktionierenden Demokratie werden Amtsträger deshalb Tendenzen zeigen, die Wirksamkeit der Institutionen in eigenem Interesse zu beeinflussen und werden diese Institutionen wiederum Gefahr laufen, sich mit der Regierung zu „verbrüdern“.

Das funktioniert aus Sicht der Mächtigen am besten, wenn man es schafft, die vorgesehenen demokratischen Kontrollinstanzen der Gesellschaft möglichst menschlich-persönlich an der eigenen Macht zu beteiligen, also mit einem scheinbar gemeinsamen „guten“ Ziel und einem scheinbar gemeinsamen „bösen“ Feind zu locken. Um die Presse wird man sich dabei ganz besonders bemühen. Ziel ist, aus dem im demokratischen System begründeten Streit endlich ein friedliches Miteinander zu machen, was für die persönlich Beteiligten auf beiden Seiten so viel entspannter ist. Wer sich dann von der Beteiligung an Macht und Feindbild nicht locken und korrumpieren lässt, wird eben marginalisiert oder gleich selbst zum Feind erklärt.

Am Ende dieser Entwicklung wird das Verhältnis zwischen politischem Akteur und politischem „Kritiker“ superharmonisch, ohne Misstrauen und Konflikt, man ist miteinander best friends – verschmilzt zu einer Einheit für das Gute gegen das Böse im Innern und im Äußeren. Als Folge dieser Verschmelzung wird die Rolle der Institutionen uminterpretiert, die dann nicht mehr die Regierung, sondern die Feinde der Regierung kontrollieren sollen und wollen (schließlich sind es ja Kontrollinstanzen …).

So harmonisch und zufriedenstellend es sich dann für die miteinander Verschmolzenen (vorübergehend) anfühlt, so sehr, dass sie sogar ihre ursprünglich angedachten Rollen völlig vergessen, so frustrierend und zerstörerisch ist diese Entwicklung für alle anderen – für Gesellschaft, Staat und Demokratie. Und mit einer gewissen Verzögerung wird diese Verschmelzung auch absolut (selbst-)zerstörerisch sein für die Verschmolzenen selbst, eine wahrhaft toxische Beziehung.

 

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* Die Autorin (m/w) ist Psychologin und Therapeutin und schreibt hier unter Pseudonym.

Bild: Shutterstock
Text: Gast

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