Der Brexit – Verlierergeschichte oder Erfolgsmodell? Viele Medien malen durch Desinformation ein verzerrtes Bild

Ein Gastbeitrag von Sylvie Weber und Linsay Rackham

Die Kluft zwischen Berichterstattung und Realität

Seit 1. Januar 2021 ist die Trennung des Vereinigten Königreiches und der EU vollzogen. Während die Probleme in England überhöht dargestellt werden, erfährt der interessierte Medienkonsument über positive wirtschaftliche Entwicklungen so gut wie nichts.

Durch privaten Kontakt zu verschiedenen Geschäftsleuten erfuhren die Autoren, dass die so dargestellte prekäre Lage überhaupt nicht bestünde. So konnte eine befreundete Geschäftsfrau (Volvo Car Corp.), die zu der Zeit der medialen „Schreckensmeldungen“ mit dem PKW mehrere Tage zwischen London und Maidenhead, Berkshire, pendelte, keinerlei Auffälligkeiten an britischen Tankstellen feststellen. In mehrfachen Telefonaten wurde immer wieder bestätigt: Auch auf Nebenstrecken und den Peripherien war alles ganz normal, keine Fahrzeugschlangen, keine Verknappung. Es war – genau nichts. In den Supermärkten klafften hingegen hier und dort kleine Lücken, die jedoch ganz offensichtlich auch der nun durch die EU provozierten Behinderungen des Warentransports über Straße und Schiene sowie global gestörten Lieferketten geschuldet waren. Für die Autoren war auch dies einer der Gründe, sich die Situation in Großbritannien einmal genauer anzuschauen.

Verliert Großbritannien mit dem Austritt aus der EU an Wirtschaftskraft und an weltweiter Bedeutung?

Was wurde immer wieder in den deutschen Medien gewarnt! Im Oktober 2021 titelte die Tagesschau „Brexit-Folgen schlimmer als Pandemie“. Die Lebenshaltungskosten werden steigen, Versorgungsengpässe auftreten und das Bruttoinlandsprodukt langfristig sinken. Der Merkur sprach von 4.000 fehlenden Busfahrern sowie 100.000 LKW-Fahrern, von Spritmangel an Tankstellen von BP bis Shell. Der Bayerische Rundfunk titelt noch im Dezember 2021 „Wirtschaft nach dem Brexit: Mehr Fragezeichen als Geschäfte“.

Gewinnt Großbritannien mit dem Austritt aus der EU Souveränität zurück und wird wirtschaftlich wachsen?

Die Briten haben einen ausgeprägten Wunsch nach mehr Souveränität und weniger europäischer Bürokratie und Einmischung. Brexit-Befürworter sehen durch den Wegfall der EU-Regeln ein Wachstumspotenzial von 1,6 % für Großbritannien. Im Januar 2022 wurde bei einer Umfrage von Pricewaterhouse Coopers bei knapp 5.000 CEOs aus 89 Ländern festgestellt, dass die Erwartungen an die wirtschaftliche Entwicklung in Großbritannien positiv sind: Bei britischen CEOs erwarten 82 % eine Verbesserung für 2022, bei amerikanischen CEOs sehen 76 % England als Wachstumsmarkt.

Wie kam es zum Brexit?

Großbritannien ist der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ als Vorläufer der EU erst relativ spät, im Januar 1973, beigetreten. Zu dieser Zeit war die konservative Regierung der treibende Teil der Anbindung an die EU, Kritiker fanden sich eher im linken Lager bei der Labour Partei. Margaret Thatcher handelte als Premierministerin den sogenannten „Briten-Rabatt“ mit der EU aus. So wurden England 66 % der Nettozahlungen rückerstattet.

Mit dem 1992 unterzeichneten Vertrag von Maastricht begann die langsame Umwandlung der rein wirtschaftlichen Union in eine politische. Damit wuchs die Kritik in England – gerade aus konservativen Kreisen. Mit der Opt-out-Klausel bekam Großbritannien das Sonderrecht, nicht an der gemeinsamen Währung zu partizipieren. Beim „Sozialprotokoll“ wichen die Briten von arbeitsrechtlichen Mindestnormen ab.

Aber all die gewährten „Leckerlis“ halfen nicht, England in der EU zu halten. Mit dem 2007 unterschriebenen Vertrag von Lissabon wurde eine weitere Kompetenzverlagerung zur EU beschlossen. Der britische Unmut wuchs und 2013 kündigte Ministerpräsident David Cameron ein „In/Out Referendum“ an. In einer Rede zu Europa spricht er sich für eine neu verhandelte EU aus und möchte einen besseren „Deal“ für die Briten. Die darauf beginnenden Reformverhandlungen mit der EU endeten im Februar 2016 mit einem Kompromiss, der am Status quo kaum etwas änderte. Mehr Entgegenkommen der EU war nicht.

Im Juni 2016 kam es zur Volksabstimmung über „remain“ oder „leave“. Knapp 52 % der Briten stimmten für den Austritt aus der EU. Am 31. Januar 2020 endete die Mitgliedschaft, der Brexit wurde vollzogen. Für das komplette Jahr 2020 galten noch Übergangslösungen.

Wie ist die Lage ein Jahr später im Vereinigten Königreich?

In der Tat haben einige europäische Unternehmen Konsequenzen aus der Unsicherheit über den britischen EU-Austritt gezogen. Einige namhafte Unternehmen (Panasonic, Sony, Goldman Sachs) haben ihre Firmenzentralen auf das europäische Festland verlegt.

Aber der Brexit scheint dabei nicht alleiniger Grund zu sein. Der japanische Fahrzeughersteller Honda hat angekündigt, die Produktion für den europäischen Markt wieder nach Japan zurückverlegen. Motivation für die Schließung des einzigen Werkes in Europa seien dabei „globale Trends“. Gleiches gilt für den Autohersteller Nissan, der seine Produktion ebenfalls zurück nach Japan verlagert.

Die Gründe, dass einige Firmen England verlassen, sind nicht monokausal dem EU-Austritt geschuldet, sondern scheinen vielschichtiger zu sein. Und von der deutschen Medienwelt weitgehend ignoriert, gibt es auch Firmen, die sich von Kontinentaleuropa abwenden und nun nach Großbritannien gehen.

So ist der englisch-niederländische Konsumgüterkonzern Unilever von einem Umzug auf den Kontinent wieder abgerückt und belässt seinen Hauptsitz in England. 99 % der Aktionäre stimmten schon im Oktober 2020 dafür, die Doppelstruktur zugunsten eines einzigen Hauptsitzes in London aufzugeben. Das Unternehmen erhofft sich in einer Pressemitteilung dadurch mehr Flexibilität und eine verbesserte Unternehmensführung.

Eines der größten Mineralöl- und Erdgasunternehmen „Shell“ möchte komplett britisch werden und plant seinen Umzug von Den Haag nach England. Aus „Royal Dutch Shell“ wird „Shell“ – mit dem kürzeren Namen wird auch eine vereinfachte Unternehmensstruktur und eine Vereinfachung der Aktienstruktur angestrebt. Der steuerliche Wohnsitz wird ins Vereinigte Königreich verlegt. Die deutsche Firma Aldi plant, die 600 schon eröffneten Läden im Vereinigten Königreich auf 1.200 Filialen bis 2025 aufzustocken. Im Februar 2020 wurde dafür das größte Verteilzentrum in Sawley eröffnet. Edelautohersteller Jaguar, der inzwischen zum indischen „Tata Motors“ Konzern gehört, hat schon 2019 den Bau neuer Elektromodelle in einem seiner drei Werke in Großbritannien angekündigt – trotz Brexit.

Auch die volkswirtschaftlichen Kennzahlen sind für Großbritannien nicht so schlecht wie prognostiziert. Demnach soll die Wirtschaft 2021 um 6,5 % wachsen. Die Arbeitslosigkeit soll auf 5,25 % steigen, die Inflation 4,4 % erreichen. Mittelfristig soll das BIP weiter steigen. Die Deutsche Industriebank (IKB) prognostiziert das BIP-Wachstum in England sogar auf 7,5 % für das Jahr 2021.

Aber Wirtschaft ist vor allem Psychologie. Und die Stimmung ist gut in England. Der britische Wirtschaftsverband CIPS sieht in einer Umfrage Anfang Januar 2022, dass 73 % der Befragten optimistisch ins Jahr 2022 schauen, nur 7 % erwarten einen wirtschaftlichen Rückgang. Ähnlichen Optimismus verbreitet – berufsbedingt – Boris Johnson in seiner Neujahrsbotschaft. Er sieht in seinem Land das größte Wirtschaftswachstum in der G7-Gruppe.

Welche Handelsabkommen hat Großbritannien nach einem Jahr abgeschlossen?

Die Aushandlung neuer Handelsabkommen war nach dem Brexit prioritär für die britische Regierung. Deswegen hat Großbritannien verschiedene Handelsabkommen neu verhandelt.

So wurde das Handelsabkommen mit der EU Ende 2020 unterschrieben und trat Anfang 2021 in Kraft. Es geht über traditionelle Freihandelsabkommen hinaus, die wirtschaftliche Verflechtung ist allerdings nicht mehr so eng wie vor dem Brexit.

Auch mit knapp 70 Nicht-EU Staaten sind die Handelsabkommen schon in Arbeit oder voll ratifiziert. Es ist geplant, der CPTPP, einem Abkommen für die transpazifische Partnerschaft, beizutreten. Das Handelsabkommen mit Australien ist seit Dezember 2021 abgeschlossen und befreit fast alle Exporte unter den beiden Partnern von Zöllen. Die Einigung mit Neuseeland wurde schon im Oktober 2021 bekanntgegeben. Mit den USA konnte bis jetzt keine Einigung erzielt werden. Weitere Abkommen sind inzwischen mit Japan, Südkorea, Singapur, Vietnam, der Schweiz, Ukraine, Kanada und Mexiko ratifiziert worden. Die „Insel“ stellt sich somit auf dem globalen Markt erkennbar breiter auf.

Wie ist dagegen die Situation in Deutschland?

Auch hier rechnen Experten mit einem stärkeren Aufschwung für 2022. So soll die Wirtschaft aufgrund gestiegenen privaten Konsums nochmal zwischen 3,5 % und 4 % zulegen. Die Inflation lag im Dezember 2021 schon bei 5,3 %, Tendenz steigend. Die Arbeitslosigkeit lag bei 5,7 % und damit höher als in Großbritannien.

Beim „deutschen Wirtschaftswunder“ ist die herausragende Stellung der Firma Biontech zu beachten. „Impfstoff als Booster“ – das Manager-Magazin stellte im Januar 2022 fest, dass ein Fünftel des Wachstums vom BIP nur der Firma Biontech geschuldet ist. Die deutsche Volkswirtschaft ist im Jahr 2021 um etwa 2,7 % gewachsen, ohne den ausgiebigen Export der Impfstoffe wären es nur 2,2 % gewesen. Der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands beruht also zu einem großen Teil auf einem aggressiven Impf-Marketing und ist damit abhängig von dem sehr volatilen Erfolg einer einzelnen Firma.

Inwieweit haben sich die düsteren Prognosen bewahrheitet?

Nach dem Brexit fielen die Vorhersagen für die wirtschaftliche Entwicklung in Großbritannien sehr düster aus. Diese Prognosen haben sich in dieser Dramatik nicht bestätigt. In den letzten zwei Jahren litt die Wirtschaft sowohl in der EU wie auch in England massiv unter pandemiebedingten Einschränkungen. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen Schäden haben – nach Meinung der Autoren – die Probleme durch den Brexit überlagert.
Die meisten volkswirtschaftlichen Kennzahlen zeigen für England eine positivere Entwicklung. Die Arbeitslosenzahlen und die Inflation sind geringer als in Deutschland, das Wirtschaftswachstum dafür höher.

Im November 2021 fragte die Deutsche Industriebank (IKB) in ihren „Kapitalmarkt-News“ ketzerisch „Großbritannien: Wo bleibt das Brexit-Chaos?“. Nach ihrer Einschätzung zeigt sich die britische Wirtschaft trotz Corona-Maßnahmen wieder in relativ guter Verfassung.

Bekommt Großbritannien eine Vorreiterrolle und damit die EU ein Problem?

Mit dem Austritt Englands hat die EU ein Exempel statuiert. Aus dem gemeinsamen Staatenverbund darf nicht ausgestiegen werden! In den Verhandlungen über den Brexit zeigten die EU-Länder maximale Härte, Kompromisse wurden nicht gemacht.

Nun stellen sich zwei Probleme. Zum ersten könnten „die Letzten die Ersten“ sein. Während in der EU die bürokratischen Hemmnisse, zum Beispiel wegen des „Green New Deals“, wachsen werden, setzen die Briten auf mehr Liberalität. Die Aufhebung fast aller Einschränkungen in der Pandemie wird für Großbritannien 2022 zum Standortvorteil – ein echter „Booster“ für die Wirtschaft.

Wenn die Briten auf lange Sicht wirtschaftlichen Erfolg haben und nicht mehr als „mahnendes Beispiel“ herhalten könnten, hätte das weitere negative Auswirkungen auf die EU. Es gibt nämlich noch andere „EU-Wackelkandidaten“, besonders im Osten des Kontinents, die gar nicht so gerne ihre (relativ junge) Souveränität an eine übergeordnete politische Gemeinschaft abgeben wollen. Wenn sich der Brexit als Erfolgsmodell herausstellt, ist es durchaus denkbar, dass es in einigen Jahren zu einer Austrittswelle der osteuropäischen Staaten kommt.

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Sylvie Weber; *1970; lebt in Koblenz. Sie hat ihren Lebensmittelpunkt allerdings bis auf weiteres ins Ausland verlegt. Sie ist studierte M.A. Geographie mit Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Bis März 2020 war sie als Merchandiserin im Tour- und Eventbereich tätig – wie sie sagt, ein anstrengender, aber ein Traumjob. Sylvie Weber war 18 Jahre lang bei den Grünen politisch aktiv – mittlerweile ist sie Mitglied der Partei dieBasis.

Linsay Rackham arbeitete viele Jahre als Journalist und Chefredakteur im automotiven Bereich und in den neuen Medien. Das besondere Interesse für Politik und Wirtschaft ergab sich in den vergangenen Jahren. Er schreibt hier unter Pseudonym.

Bild: Shutterstock
Text: Gast

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