Der Mondbär in den Zeiten von Covid-19 Das Corona-Paradox verständlich erklärt

In den Kommentaren auf meiner Seite habe ich mich hier mit einer Leserin in einen faszinierenden Dialog verwickelt. Ich war so angetan von ihrem glasklaren Verstand, dass ich sie bat, einen Beitrag zu schreiben. Als Psychologin und Therapeutin erklärt sie für uns das Corona-Paradox, das wir täglich erleben, in einer so anschaulichen und verständlichen Weise, wie ich es selten erlebt habe. Hier mein neuer Leser-Beitrag – auf den ich besonders stolz bin!

Ein Gastbeitrag von Vera Sandström*

Vor einigen Wochen schaute ich mit meiner Tochter die Sendung mit der Maus, in der eine schöne und lehrreiche Geschichte erzählt wurde – die Geschichte vom Mondbären.

Es geht darin um einen kleinen Bären, der sich unglücklich in den Vollmond verliebt. Eines Nachts fühlt sich ein kleiner Bär einsam, geht hinaus und schaut zum Himmel. Dort sieht er den Vollmond, groß und rund, er hat ihn nie zuvor wahrgenommen. Und in dieser besonderen Nacht verliebt er sich in den Vollmond. Daraufhin schaut der kleine Bär jede Nacht bewundernd zum Himmel. Irgendwann merkt der Bär, dass der Mond kleiner wird, von Nacht zu Nacht immer ein Stück mehr. Der kleine Bär versucht zu verstehen, warum der Mond immer kleiner wird. Er macht sich große Sorgen und hat jetzt auch keine Lust mehr, mit seinen Freunden, den Vögeln, zu spielen. Die Vögel sind deshalb sauer auf ihn. Irgendwann ist der Mond ganz weg. „Wie kann das sein? Wie kann ich dem Mond helfen?“ fragt er sich. Vor lauter Sorgen isst der kleine Bär immer weniger und wird dünner. Als er abends mal wieder lustlos an seinem Honigtopf leckt, schießt ihm ein Gedanke durch den Kopf – hat der Mond etwa nicht genug gegessen? Der kleine Bär stellt von nun an jeden Abend seine Schale Honig vor die Tür. Morgens ist die Schale immer leer und der Mond wird wieder sichtbar, dann von Nacht zu Nacht immer größer. Der kleine Bär freut sich! Er hat jetzt wieder viel Appetit, aber wenn er dann abends vor seinem Honigtopf sitzt, schaut er auf den Mond und macht sich Gedanken, ob der Mond genug zu essen bekommt. Deshalb stellt er seinen Honigtopf weiter jeden Abend nach draußen und geht hungrig ins Bett. Morgens ist die Schale deshalb immer leer, weil die Vögel nachts den Honig essen. Der Mond wird immer größer, bis er wieder voll und rund ist. Toll! Aber der Bär wird immer dünner, es geht ihm nicht gut. Seinen Freunden, den Vögeln, tut der kleine Bär leid und einer der Vögel erzählt ihm die Wahrheit. Dass nämlich sie den Honig nachts aufessen und der Mond von sich aus größer und kleiner wird. Daraufhin isst der Bär wieder seinen Honig und versteht, wer seine wahren Freunde sind.

Das ist eine tolle Kindergeschichte und eine Kindergeschichte muss immer ein gutes Ende finden. Und das ist gut so. Für Kinder braucht die Welt nicht unnötig kompliziert zu sein.

Aber das wahre Leben ist bekanntlich kein Ponyhof und so enden unsere echten Geschichten nicht zwangsläufig mit einem Happy End. Man hat selten so gute und weise Freunde wie die Vögel, und wenn, dann hört man nicht unbedingt auf sie. Menschen sind ja nicht so, dass sie leicht und gerne sagen: „Ach, so ist das, danke für deine Erklärung und deinen Rat“.

Als ich diese harmlose und doch sehr tiefsinnige Geschichte über den Mondbären mit meiner Tochter ansah, musste ich unweigerlich daran denken, in welcher (Sur-)Realität wir uns gerade befinden und wie wunderbar diese Geschichte dazu passt. Und wie von selbst entwickelte sich in meinem Kopf die logische Fortsetzung – als Erwachsenenversion sozusagen, unter Einbeziehung unseres Wissens darüber, wie die menschliche Psyche funktioniert.

In dieser Erwachsenenversion behalten die Vögel ihr Geheimnis noch eine Weile für sich – es geht ihnen ja nicht schlecht mit dem Honig. Der Bär füttert also weiter den Mond, geht hungrig ist Bett, doch immerhin steht der Vollmond in seiner ganzen Pracht am Nachthimmel. Noch. Denn ganz langsam wird der Mond plötzlich wieder kleiner. Zuerst will der Bär das nicht wahrhaben, glaubt, dass es eine Wahrnehmungstäuschung ist. Aber dann kann er den abnehmenden Mond nicht mehr ignorieren – und innerlich macht sich Panik breit. „Warum wird der Mond wieder kleiner, was mache ich falsch?“ Und: „Ich muss ihn noch mehr füttern!“ Auch den Honig mittags isst der Bär nicht mehr und hebt ihn für den Mond auf. Die Vögel freut es, morgens sind immer beide Honigtöpfe leer. Doch die erwünschte Wirkung bleibt aus, der Mond nimmt weiter ab. Dem kleinen Bären geht es körperlich und psychisch immer schlechter. Er versucht zu verstehen, aber versteht es einfach nicht. „Ich muss noch mehr verzichten, der Mond braucht den Honig, alles für den Mond“ – auch der morgendliche Honigtopf wird vom Bären nicht gegessen, sondern abends nach draußen gestellt. Irgendwann ist Neumond und der Mond ganz verschwunden. Der Bär ist tief verzweifelt, liegt kraftlos im Bett, isst nichts mehr und steht nur auf, um seine drei Honigtöpfe zur Freude der Vögel abends nach draußen zu stellen. Und gerade als der kleine Bär aufgeben will und seinen Honig essen möchte, weil der Hunger so stark ist, sieht er, wie der Mond wieder sichtbar wird, ja tatsächlich Tag für Tag wieder wächst! Welch Freude! „Es hat sich gelohnt, ich habe nicht umsonst verzichtet! Ich hatte recht!“

Corona – Angst. Was mit unserer Psyche geschieht."Die Vögel haben aber inzwischen so viel Honig verputzt, dass sie Bauchschmerzen haben und keinen Appetit mehr darauf. Sie haben auch Mitleid mit dem armen Bären, der glaubt, den Mond zu füttern und so sehr leidet. Ein paar Vögel erzählen dem Bären die Wahrheit, aber er glaubt ihnen nicht. Er ist regelrecht sauer auf diese Vögel, weil sie ihm scheinbar seine Freude und seinen hart und mit totalem Verzicht erkämpften Erfolg nicht gönnen. Sein Weltbild hat sich so verfestigt, dass alle Zusammenhänge zwischen Honig und Mond darin logisch erscheinen, so absurd sie in Wirklichkeit auch sind. Der Bär fühlt sich durch den wieder aufsteigenden Mond in seinem Verzicht und Leid bestätigt. Die Gedanken, der Verzicht sei möglicherweise unnötig gewesen und sein Leiden sinnlos, kann der Bär kaum ertragen, sie lösen zu starke kognitive Dissonanzen aus.

Die Richtigkeit seines Handelns nun von irgendwelchen Vögeln in Frage gestellt zu sehen, verunsichert den Bären noch mehr, als der Hunger ihn quält. Was die Vögel erzählen, muss also falsch sein, nein: boshaft und verleumderisch! Die Vögel sind in der Erwachsenenversion nicht mehr seine Freunde, sondern in seiner Verfassung werden sie gefühlt zu seinen Feinden. Von den Vögeln und ihrem aus seiner Sicht boshaften Geschwätz will er nichts mehr hören, er ignoriert sie von nun an.

Man spürt, dass diese Geschichte irgendwie nicht gut ausgeht und hofft vielleicht doch auf ein Happy End für den Bären auch in der Erwachsenenversion. Denn diese Erwachsenenversion der Mondbären-Geschichte, das ist gerade unser Alltag.

Warum diese verhängnisvolle Entwicklung? Weil die menschliche Wahrnehmung nicht die Aufgabe hat, die „wahrhaftige Welt“ in ihrer Kompliziertheit zu begreifen, sondern sich bei jedem von uns (ja, auch bei Wissenschaftlern) eine Wirklichkeit konstruiert, in der wir leben können. Wenn es eine Sache gibt, mit der Menschen nur schlecht umgehen können, ist dies Ungewissheit. Jede noch so dämliche Erklärung und Handlung erscheint uns oft attraktiver als ein „ich verstehe es einfach nicht und mache erstmal nichts“. Um sein Dasein zu gestalten, möchte der Mensch glauben, dass seine unmittelbare Umgebung verständlich, sowie in einem Mindestmaß von ihm beeinflussbar, berechenbar und kontrollierbar ist. Außerdem braucht der Mensch das Gefühl, dass sein Handeln Sinn ergibt. Diese psychischen Grundbedürfnisse führen zwangsläufig dazu, dass Menschen a) sehr vieles vereinfachen und vereinheitlichen (dadurch werden Dinge scheinbar verständlicher), b) ihren eigenen Einfluss systematisch überschätzen und andere Faktoren vernachlässigen (dadurch fühlt man mehr Kontrolle über seine Umgebung) und c) Zusammenhänge erkennen, wo keine sind, dabei vieles selektiv ausblenden, was nicht ins Bild passt (dadurch ergeben die Dinge mehr Sinn). Und nicht zuletzt d) sich verbünden mit Gleichgesinnten, die das eigene Bild von der Wirklichkeit bestätigen, gegen diejenigen, die dieses Bild in Frage stellen.

Was sagt das über den bisherigen und aktuellen Umgang mit Corona? In welcher Mondbären-Phase befinden wir uns gerade? Die Antwort auf diese Frage überlasse ich dem mündigen Leser.

Nüchtern ist festzuhalten, dass „noch mehr von demselben“ niemals der richtige Ansatz sein kann, wenn eine Wirkung nicht zu erkennen ist. Wie in jedem Lebensbereich gilt: Bin ich auf dem richtigen Weg, dann erreiche ich mit geringem Einsatz schon eine große Wirkung (oft 80-20-Regel genannt).

Aber wirklich schwierig wird es dann, wenn ich eine Scheinwirkung erkenne und daraus, wie der arme Bär, falsche Zusammenhänge ableite. Dann bin ich dazu verdammt, denselben Fehler immer wieder zu machen – bis ich irgendwann nicht mehr kann oder irgendetwas anderes passiert, was mich aus diesem Teufelskreis falscher Zusammenhänge erlöst.

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* Die Autorin (m/w) ist Psychologin und Therapeutin und schreibt hier unter Pseudonym.

Bild: Teguh Mujiono
Text: Gast

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