In der Journalistenausbildung gibt es die Warnung, Geschichten totzurecherchieren. Gemeint ist damit – wenn man zu viel Informationen sammelt, kann die Geschichte kippen. Das trifft auf ganz eigenartige Weise auch auf diesen Text zu. Ich bin über folgende Meldung des öffentlich-rechtlichen NDR gestolpert: „AfD-Politiker Kevin Dorow aus SH droht möglicherweise die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Gießen. Es geht um eine Äußerung auf dem Gründungskongress der Jugendorganisation.“
Aha, wieder Nazi-Tourette, war mein erster Gedanke – denn tatsächlich bläst der polit-mediale Komplex routinemäßig auch ohne Anlass alles zu Nazi-Maßstab auf. Im konkreten Fall geht es um folgende Aussage von Dorow: „Wie es Björn Höcke vor wenigen Monaten rezitiert hat, Jugend muss durch Jugend geführt werden, und dieses Prinzip muss unser Leitstern sein.“ Der Spruch, so heißt es in dem NDR-Bericht, sei eine Losung der Hitlerjugend gewesen.
Meine erste Reaktion: Da wird wieder etwas zu Nazi-Sprech erklärt, was dem Normalmenschen nicht als solches bekannt ist – wie bei Björn Höcke der Ausspruch „Alles für Deutschland“ – wegen dessen er sogar verurteilt wurde, da spitzfindige Juristen die Aussage für NS-Sprech halten – obwohl sie kaum jemand so einordnete.
Beim Nachlesen wurde mir dann aber klar, dass „Jugend wird durch Jugend geführt“ nicht irgendeine Losung war – sondern eine, wenn nicht gar die zentrale Losung der Hitlerjugend. Jemandem wie Dorow war das wohl genauso wenig bekannt wie mir. Aber jemandem wie Höcke, der Geschichtslehrer ist und sich ganz öffentlich nicht nur im Studium und Unterricht intensiv mit der NS-Zeit befasst hat.
Wäre es der einzige Ausrutscher von Höcke in die NS-Sprache gewesen – man könnte wirklich an einen dummen Zufall glauben. Ebenso wie bei dem Ausspruch „Alles für Deutschland“. Aber Höcke liefert zu viele solcher Zufälle. Wenn er vom „tausendjährigen Staat“ spricht in seiner Dresdner Rede, ist das eine kaum kaschierte Anspielung auf den Hitler-Begriff „Tausendjähriges Reich“. Wenn dann noch die Verwendung von Begriffen wie „Entartung“, „Volksverräter“ hinzukommt, die allesamt historisch belastet sind, wird es schwierig. Erst recht bei Aussagen wie der, einige Parteifreunde sehe er am liebsten „ausgeschwitzt“.
Ich weiß, damit trete ich jetzt einigen Lesern auf die Füße – aber ich wäre kein Journalist, der diesen Namen verdient, wenn ich mich deswegen selbst zensieren würde. Und die Frage treibt mich wirklich um: Kann es wirklich Zufall sein, dass Höcke so oft mit der NS-Sprache kokettiert? Ganz ehrlich – bei der Vielzahl von Vorfällen halte ich das für unwahrscheinlich. Also drängt sich zwingend die Frage auf: Warum tut er das?
Denn es schadet nicht nur der AfD enorm. Es liefert den „Brandmauer“-Parteien und Journalisten die beste Munition. Und nutzt damit vor allem den Rot-Grünen, die mit dieser Brandmauer sicherstellen, dass immer eine linke Partei mit an der Macht ist und die bürgerliche Mehrheit nicht eine bürgerliche Regierung stellen kann. Dieses Hegemonie-Spiel geht nur, wenn man die AfD verteufeln und als Nazi-Partei diffamieren kann. Und das geht nur, wenn Leute wie Höcke solche Steilvorlagen liefern.
Höcke gibt diesen Kräften genau das, was sie brauchen: die Karikatur eines Rechten.
Und das ist das wirklich perfide: Union, SPD, Grüne, Linke – sie alle brauchen Höcke.
Ohne ihn gäbe es keine Brandmauer. Und ohne Brandmauer gäbe es Machtwechsel.
Die große Frage ist: Warum liefert Höcke so zuverlässig diese Steilvorlagen für alle, die die AfD dämonisieren wollen – und vielleicht sogar müssen, um die eigene angebliche moralische Überlegenheit zu pflegen oder die bröckelnde Brandmauer zu zementieren? Wenn es eine Figur wie Höcke nicht gäbe, müsste man sie basteln. Idealerweise in Uniform und mit Fackelzug.
Also: Wenn das alles so offenkundig kontraproduktiv ist – warum macht Höcke es trotzdem? Ist er dumm? Beratungsresistent? Masochistisch? Oder steckt dahinter mehr?
Meine Hypothese: Höcke folgt einer anderen Logik als die parteistrategische Vernunft. Für ihn ist maximale Polarisierung kein Problem, sondern Prinzip. Er will gar keine Bündnisfähigkeit mit CDU oder FDP. Er will eine Fundamentalopposition, die nicht integriert, sondern ersetzt. Die Schockwirkung seiner Rhetorik ist für ihn kein Kollateralschaden – sie ist das Werkzeug zum Aufbau eines geschlossenen, kampfbereiten Milieus.
Dazu drei Thesen:
1. Höcke betreibt Identitätspolitik von rechts – nicht Machtpolitik.
Während Chrupalla, Weidel oder von Storch den Anspruch erheben, die AfD koalitionsfähig zu machen, geht es Höcke nicht um Machterlangung im klassischen Sinn. Er will keine Ministerien – er will ein anderes Land. Und dafür braucht es nicht 51 Prozent, sondern ein entschlossenes, hartes Drittel. Um ein drastisches, provokatives Bild zu verwenden – Verzeihung: Er will kein Haus renovieren, sondern den Altbau abreißen.
2. Die Eskalation stärkt seine eigene Hausmacht – innerparteilich. Mit jedem Skandal um seine Person gewinnt Höcke an Strahlkraft im rechten Kernmilieu. Er steht für Unbeugsamkeit, für „Widerstand“, für das „wahre Gesicht der AfD“. Und so paradox es klingt: Je untragbarer er nach außen wird, desto unanfechtbarer wird er nach innen.
Er ist der Mann, der den medialen Sturm aushält – und dafür geliebt wird.
Ein Märtyrer mit Mikrofon.
3. Die AfD profitiert – trotz allem. Aber nur kurzfristig. Ja, Höcke schreckt viele Wähler ab. Aber er mobilisiert auch – nicht trotz seiner Rhetorik, sondern gerade wegen ihr.
Er nutzt eine Stimmung, die es längst gibt, und die ich teile: das tiefe Gefühl, von den etablierten Parteien verraten zu sein. Die Wut über politische Kälte, moralische Arroganz, Bevormundung. Nur: Er kanalisiert diese Stimmung nicht in konstruktive Politik – sondern in Eskalation. Und das zwingt die anderen Parteien zu überzogenen Reaktionen – was dann wiederum, mit Recht, als Beleg für Doppelmoral, Zensur oder „Cancel Culture“ empfunden wird. Es ist ein Perpetuum mobile der Empörung – das beiden Seiten hilft.
Strategisch wäre es für die AfD in der Breite viel klüger, auf Figuren wie Höcke zu verzichten. Ohne ihn wäre sie schwerer angreifbar – und wahrscheinlich schon längst in Regierungsverantwortung auf Landesebene. Doch genau deshalb halten viele Gegner an ihm fest: Höcke ist der Joker im Anti-AfD-Spiel.
Was treibt Höcke an? Und ist er wirklich ein „Nazi“, wie seine Gegner behaupten?
Ich will das offen sagen: Der bösartige – und oft geradezu hinterfotzige – Umgang vieler Medien mit Höcke hat mich jahrelang empört. Ich habe ihn aufmerksam beobachtet, viele Interviews mit ihm aufmerksam verfolgt – und dabei regelmäßig mehr Anstand und Nachdenklichkeit bei ihm erlebt als bei den Fragestellern. Und auch Verletzlichkeit, die viele nicht erwarten würden. In Momenten, in denen Kollegen ihn regelrecht vernichten wollten, habe ich Empathie empfunden – nicht mit allen seinen Aussagen, aber mit dem Menschen hinter der öffentlichen Figur. Vielleicht treibt mich gerade deshalb seine politische Entwicklung heute so um.
Und damit zur Antwort auf die eingangs gestellte Frage:
Nein, Höcke ist kein Nationalsozialist. Auch niemand, der Hitler verehrt. Aber er ist jemand, der sehr national und sehr sozialistisch denkt. Und vor allem: ein politischer Romantiker. Einer, der nicht in erster Linie den Ist-Zustand verbessern will, sondern das Gefühl einer verlorenen Größe beschwört. Der persönlich unter deren Verlust leidet, sich geradezu schmerzhaft nach dem „Alten“ sehnt. Der nicht verwalten, sondern „wiederherstellen“ will – ein Volk, eine Ordnung, eine Geschichte.
Aber genau diese Geschichte zeigt: Solche Menschen sind – auch wenn sie persönlich integer oder sogar liebenswürdig sein mögen – gefährlich, wenn sie Macht bekommen. Nicht, weil sie böse wären oder zwangsläufig Diktatoren würden. Sondern weil sie nicht loslassen können von der Idee, die Welt müsse wieder so werden wie früher – oder endlich so, wie sie ihrer Überzeugung nach sein sollte. Weil sie – genau wie ihre rot-grünen Gegenparts – glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein.
Höcke ist klug, gebildet, eloquent – und überzeugt von sich. Und seiner Mission. Ein Mann, der seit Jahren Zielscheibe extremer, oft menschenverachtender Hetze ist – landesweit zur Hassfigur stilisiert, zum Inbild des Bösen erklärt. Und der dennoch öffentlich die Contenance wahrt.
Er ist kein Technokrat, kein Stratege, kein Apparatschik, kein Ungeheuer, als das ihn Rot-Grün gerne karikiert. Er ist ein Sendungsbewusster, ein „Verklärer mit Verachtung“, wie es einmal jemand formulierte. Er liebt das große Wort – und hasst den Kompromiss. Seine Sprache ist nicht zufällig historisch aufgeladen – sie ist die Sprache von jemandem, der sein nostalgisches Weltbild nicht modernisieren, sondern lieber die Welt diesem Weltbild anpassen will. Das ist keine Nazi-Ideologie. Aber es ist rückwärtsgewandter Autoritarismus mit historischer Anmutung. Und genau das macht ihn so anschlussfähig für jene, die mit der Gegenwart abgeschlossen haben – aber keine konkrete Zukunftsvision haben, außer der Ablehnung dessen, was ist.
All das führt logisch zu meiner spitzen These zum Schluss: Höcke ist für beide Seiten Gold wert. Für die Linke als Schreckbild. Für die Rechte als Märtyrer. Nur für die politische Vernunft ist er ein Desaster.
Ich glaube, das ist der Kern dieses Textes: Nicht, dass man Höcke mögen oder verteufeln muss. Sondern dass es Zeit wird, den politischen Diskurs endlich wieder ehrlich zu führen – ohne sprachliche Tarnkappen, ohne ritualisierte Empörung, ohne automatischen Applaus oder automatische Verurteilung. Und dass wir uns – egal ob Freunde oder Kritiker Höckes – eines eingestehen: Ohne Figuren wie ihn, die bewusst eskalieren, wäre es viel einfacher, die Brandmauer zu überwinden und eine bürgerliche Mehrheit zu ermöglichen, die zumindest versuchen könnte, die schlimmsten Auswüchse rot-grüner Politik einzuhegen.
Ich will Höcke nicht schwarz-weiß sehen. Nicht als Bösewicht und nicht als Lichtgestalt. Ich sehe eine politische und menschliche Tragik in seiner Figur. Ich glaube nicht, dass er ein V-Mann ist, wie manche unterstellen. Ich halte ihn für aufrichtig, aber zu sehr in seiner Ideologie und historischer Nostalgie gefangen.
Ich weiß, viele Menschen wünschen sich klare Einordnungen. Schublade auf, Figur rein, Diskussion beendet. Auch bei Höcke. Verräter oder Held. Und keine Grautöne. Aber genau diese Lagerlogik hat unser Land dahin gebracht, wo es heute steht: festgefahren, polarisiert, unfähig zum Kompromiss. Und zu differenzierter Betrachtung.
Ich habe keine Lust, mich dieser Logik zu unterwerfen. Ich will hinschauen – auch wenn es weh tut. Auch wenn es Widerspruch auslöst, Klicks und Unterstützung kostet. Auch wenn es bedeutet, sich zwischen alle Stühle zu setzen.
Aber: Journalismus, der nur noch für das eigene Lager schreibt, ist kein Journalismus mehr. Und leider leiden unsere alternativen Medien stark an dieser Krankheit – in vielem fast genauso wie die Systemmedien, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Und wer sich – völlig zu Recht, wie ich auch – über Brandmauern beklagt, sollte innerlich nicht selbst welche ziehen. Ich schreibe seit Jahren gegen die Dämonisierung und Diskriminierung der AfD an, fast täglich. Ich verteidige die demokratischen Rechte der AfD lautstark. Ich kritisiere die Brandmauer scharf.
Auch und gerade deshalb wäre es aber Verrat, sich Kritik an der AfD zu verkneifen. Etwa, wenn – wie jetzt gerade – bekannt wird, dass sich ihre Abgeordneten eine teure, luxuriöse Reise nach New York leisteten – auf Kosten der Steuerzahler. Auch das ist eine der Steilvorlagen für die AfD-Hasser. Und nur deswegen den Mund dazu zu halten, wäre fatal.
In diesem Sinne meine Bitte an Sie: Nehmen Sie aus diesem Text mit, was für Sie stimmig ist. Widersprechen Sie, wo Sie es für nötig halten. Diskutieren Sie mit mir, streiten Sie mit mir, auch hart. Aber lassen Sie sich dabei nicht von Empörung führen – und zu persönlichen Angriffen hinreißen.
Ich denke, wir haben jedes Recht, uns über die Dämonisierung Andersdenkender und der AfD zu empören. Über die Einseitigkeit und die Propaganda in den großen Medien. Aber wir würden dieses Recht verlieren, wenn wir es spiegelbildlich genauso machen würden, nur unter anderen Vorzeichen. Aber ich bin mir sicher – meine Leser, die mir über all die Jahre treu geblieben sind, wollen keinen Kadavergehorsam und keine Scheuklappen – sondern kritischen Journalismus und kritische Gedanken. Die sie auch mal vor den Kopf stoßen – aber nur dank solcher Stöße entwickeln wir uns, unsere Gedanken und unsere Weltsicht weiter.
Wer aufgehört hat, zu lernen, ist tot, lautet eine alte Weisheit, die mir heilig ist. Ich würde sie noch fortsetzen: Wer aufgehört hat, seine eigenen Sichtweisen kritisch zu hinterfragen, ist erstarrt. Es ist wie in Ehen: Nur Harmonie – das geht nicht, das ist künstlich und langfristig fatal. Lassen Sie uns lebendig bleiben. Zusammen.
PS: Ich weiß, auch mit diesem Text habe ich mich wieder einmal zwischen alle Stühle gesetzt. Aber besser so – aufrecht –, als sich schief zu setzen.
PPS: Ich denke: Die Fans von Höcke werden mir vorwerfen, der Artikel sei zu kritisch. Und diejenigen, die ihn verteufeln, er sei nicht kritisch genug. Für mich sind solche Reaktionen von beiden Seiten meist das beste Zeichen, dass ich meine journalistische Aufgabe erfüllt habe.
❆ WEIHNACHTSGABE ❆
FÜR KRITISCHEN JOURNALISMUS
Im Dezember 2019 ging meine Seite an den Start – damals mit einem alten Laptop am Küchentisch. Heute erreicht sie regelmäßig mehr Leser als manch großer Medienkonzern. Und trotzdem: Der Küchentisch ist geblieben. Denn eines hat sich nicht geändert – meine Unabhängigkeit. Kein Verlag, keine Zwangsgebühren, keine Steuermittel. Nur Herzblut – und Sie.
Umso dankbarer bin ich, wenn Sie bei Ihren Weihnachtsgaben auch an mich denken. Jede Geste, ob groß oder klein, trägt mich weiter. Sie zeigt: Mein Engagement – mit all seinen Risiken, Angriffen und schlaflosen Nächten – ist nicht vergeblich.
1000 Dank dafür! Und eine frohe, besinnliche Advents- und Weihnachtszeit!
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