Von Alexander Wallasch
Oft wurde es behauptet, spätestens jetzt ist es wahr geworden: Das Magazin „Der Spiegel“ ist dort angekommen, wo man nicht mehr tiefer fallen kann: in einer von journalistischer Moral und Ethik vollkommen befreiten Sphäre.
Erschütternd kommt hinzu, dass es, worüber leider gleich zu berichten ist, auch noch offiziell einer jener Artikel ist, die von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) mit Millionen Euro an den Spiegel unterstützt werden – kommt hier zusammen, was zusammengehört? Erst die Unabhängigkeit verloren und dann den ethisch-moralischen Kompass hinterhergeschmissen wie überflüssigen Abfall. Oder – um vorwegzugreifen – weggeworfen wie eine unkeusche Jungfrau auf dem Frauenmarkt am schmuddeligen Busbahnhof in Bulgarien.
Mit der 2,3 Millionen Euro Puderdose von Bill Gates be(s)täubt, berichtet in der aktuellen Online-Ausgabe des Magazins Redakteurin Nicola Abé (seit 2021 Spiegel-Korrespondentin in Sao Paulo) über den Verkauf von Frauen auf einem traditionellen Heiratsmarkt.
Ein Artikel ist es geworden, der sich liest wie aus einer alten deutschen Kolonialfibel, hier nur anstelle der elendsnackten Afrikanerinnen bebildert mit herausgeputzten Frauen auf dem Weg zum Marktplatz, wo ihr Verkauf ansteht.
„Der Preis hängt davon ab, wie lang ihr Haar ist“, lautet die Überschrift, so ergänzt: „Heiratsmarkt der Roma“. Da heißt es dann aus der Feder von Abé für Spiegel und Gates-Stiftung ganz unschuldig:
Der zukünftige Ehemann und seine Familie wählen eine junge Frau aus, für die ein Preis verhandelt wird. Dieser hängt davon ab, wie alt sie ist, wie lang ihr Haar ist und wie hell ihre Haut. Das wichtigste Merkmal aber: Sie muss Jungfrau sein.
Romantisiertes Elend
Vorabgestellt steht da beinahe pflichtschuldig abgeliefert: „Die Regeln sind weniger romantisch als strikt patriarchal“, aber dieser Einschub ist hier weniger als Kritik gedacht, denn als Alibi für das traditionelle Prozedere. Kein ernstzunehmend alarmierendes Wort davon, was mit dem Mädchen tatsächlich passiert, wenn die beschaute „Marktware“ keine Jungfrau mehr ist – sowas findet sich im Spiegel-Artikel nicht.
Aber eben das ist doch, was so eine Reportage zwingend erfassen muss.
Hier wird Elend romantisiert: Junge Frauen ausstaffiert und dekoriert wie Brauereipferde zur Festwoche. Dabei spielt es im Übrigen auch keine Rolle, ob einige der betroffenen Frauen diese überlieferten Rituale auf welche Weise auch immer wertschätzen.
Denn wer aus der freien Welt auf so etwas schaut und bei einem der immer noch größten Magazine Europas schreibt, der hat eine Pflicht zu erfüllen, an der das Magazin, die Stiftung und die Autorin glänzend gescheitert sind.
Doch, einmal kommt Kritik auf. Da heißt es: „Zum Stamm der Kalaidzhi gehören rund 18.000 Menschen. Sie leben in Bulgarien, wo sie auf vielfache Weise diskriminiert werden.“
Das muss man sich erst einmal einfallen lassen: Bei der voyeuristisch kritiklosen Betrachtung der Diskriminierung der jungen Frauen als Ware hält sich die Autorin zurück, um dann quasi übergeordnet und allgemein von einer (zweifellos bestehenden) Diskriminierung des kleinen Völkchens in Bulgarien zu plaudern. Vor der konkreten Beobachtung die Augen verschlossen und dann auf der Meta-Ebene ausgerutscht.
Sätze stehen da, wie dem Zigarettenklebealbum des Bilderdienstes von 1914 entrissen: „Die Kalaidzhi leben von der Mehrheitsgesellschaft weitgehend abgeschieden und heiraten meist untereinander.“ Ach je, wie aufregend, wie Fantasie anregend!
Wie in Italien bei der Oma
Mehrmals im Jahr finden diese Brautmärkte statt. Und was sagt der Fotograf Giuseppe Nucci dazu, der von der Autorin in ihrem Text zitiert wird? Es erinnere ihn an seine italienischen Vorfahren und an „das blutige Taschentuch, das nach der Hochzeitsnacht zum Beweis der vorehelichen Keuschheit der Braut präsentiert wird.“ War das so bei seiner Großmutter?
Wo findet dieser archaische Brautmarkt statt? Auf einem Busparkplatz in der bulgarischen Region Thrakien. Der Bericht erzählt, dass so eine Braut „zwischen 500 und 15.000 Euro“ kosten würde.
Sechzehn Bilder zeigen die zum Verkauf zurechtgemachten Frauen. Auf Bild 1 wird davon berichtet, dass die Mädchen minderjährig seien – inwieweit hier hier Handlungsweisen nach EU-Recht strafrelevant sind, interessiert den Spiegel überhaupt nicht, man sonnt sich stattdessen lieber in den Aufnahmen der Mädchen in ihren teils bonbonfarbenen engen Kleidern.
Nach einem fotografisch festgehaltenen Verkauf wird in der Bildunterschrift des Spiegel erzählt, die Braut hätte den neuen Ehemann „rund 8600 Euro“ gekostet. Ein blutiges Taschentuch wird den Anwesenden dabei präsentiert, unklar, ob der Beweis gleich vor Ort vollzogen oder anderweitig zwischen den Bussen am Busbahnhof erledigt wurde – man will es sich nicht vorstellen müssen.
Auf naivste Art und Weise heißt es beim Spiegel stattdessen rechtfertigend: Der Brautmarkt sei „für viele junge Kalaidzhi die einzige Möglichkeit, Männer kennenzulernen.“ Warum das so ist, will die Autorin überhaupt nicht wissen. Werden die Mädchen ansonsten weggesperrt? Wahrscheinlich ist auch das, aber der Leser erfährt es nicht.
Es wird noch grotesker, wo Nicola Abé den Bogen schlägt bis nach Deutschland – auch hier, ohne kritisch nachzufragen oder ihre Stimme im Sinne der jungen Frauen zu erheben, wenn sie über die Käufer der Ware Mensch berichtet:
Sie sind zwischen elf und 19 Jahre alt. Die jungen Männer zeigen dort ihre Reichtümer, etwa deutsche Autos der Marke BMW oder Mercedes und Goldketten. Viele pendeln zum Arbeiten nach Deutschland oder Großbritannien.
Ach so: „Die jungen Kalaidzhi nutzen Smartphones und Facebook.“ Fast schon entschuldigend klingt das, erzählt von der Autorin des Spiegel über die jungen Frauen, bald so, als suche Abé nach schönen Seiten dieses altertümlichen Geschehens.
Nein, keine falsche Geste, kein falscher oder angeblich oder tatsächlich übergriffiger Satz eines alten weißen Mannes wird sonst beim Spiegel liegengelassen, aber hier wird das tatsächliche Geschehen auf eine Weise ignoriert, das an den großen weißen Elefanten im Raum erinnert. Nur, dass der hier blutige Flecken von der Jungfernhaut hat, die stolz präsentiert werden, so wie man beim Pferdehändler die Lefzen hochzieht, um sich über den Gesamtzustand des Pferdes zu erkundigen.
Es ist traurig:
Die heute 17-jährige Nona hatte mit fünfzehn einen Interessenten, erfährt man, mit dem sie jetzt, zwei Jahre später, zum ersten Mal per Facebook Nachrichten austauschen darf. Das hätten die Eltern erlaubt. Das Foto dazu zeigt die junge Frau, lächelnd über etwas, das man präziser als so etwas wie ein Stockholm-Syndrom bezeichnen müsste. Wann hat Autorin Abé ihren ersten Freund kennengelernt? Wie lief das ab? Erinnert sie sich da nicht an eine Diskrepanz zum hier so furchtbar kritiklos Beobachteten?
Es ist kaum zu fassen. Über ein Paar, das aus Armut nachts samt Kind im Freien schlafen muss, schreibt der Spiegel lakonisch: „Den Sommer über ziehen sie in Bulgarien von Dorf zu Dorf auf der Suche nach Gelegenheitsjobs – ein Nomadenleben wie in den alten Zeiten.“ Das ist lupenreine Elendsmalerei für das bürgerliche Wohnzimmer.
Und was essen die beiden Camper? Zwei Igel hat der Mann gefangen, die dann verspeist werden: „Die Familie hat einen Hund, der dabei hilft, die Igel zu jagen. Später wird das Fleisch über einem offenen Feuer geröstet.“ Der Spiegel-Leser erfährt nicht, ob die Autorin und der Fotograf diese Köstlichkeit dann auch probieren durften. Aber möglicherweise war das für Abé auch der schockierendste Moment ihrer Bulgarienreise auf Kosten von Bill Gates.
Und wieder ein weiterer Zigarettenklebebildtext:
Auch Nonka gehört zur Familie von Donka und Kroum. Sie hat mit 15 Jahren geheiratet und neun Kinder geboren. Frauen sind bei den Kalaidzhi für Hausarbeit und Kinderbetreuung zuständig. Viele Männer vergleichen Heiraten mit dem Kauf eines Tieres, etwa eines Pferdes.
Junge Frauen, die sich länger als eine halbe Stunde ohne Aufsicht in Gesellschaft von Männern befinden, gelten von da an als unkeusch und wertlos.
Nicola Abé schreibt:
Für viele Kalaidzhi-Familien ist die Heirat einer Tochter eine der wenigen Möglichkeiten, an Geld zu kommen.
Aber was hat Bill Gates mit all dem zu tun? Läuft da auf diesen Frauenmärkten nebenbei eine Impfkampagne, möchte man fast ketzerisch fragen? Der Deal mit Gates läuft unter der Überschrift „Projekt Globale Gesellschaft“. Aber wozu dann so ein unkritischer Artikel über einen Jungfrauenmarkt mit Höchstgeboten von 15.000 Euro?
Reporterinnen und Reporter würden für dieses Gates-finanzierte Projekt „über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung“ schreiben.
In Form eines romantisierenden Artikels mit hübschen bunten Bildern und ohne den Hauch einer Reflektion des Gesehenen? So rundum zufrieden mit der Oberfläche zu sein, hat mit einer Reportage rein gar nichts zu tun.
Armutsprostitution? Ach, lieber nicht ...
Mehr noch: Sich hier abwenden zu können, bedarf schon einer inneren Eiseskälte oder schlimmer: einer groß angelegten Selbstgefälligkeit. Denn wo werden hier die westlichen Werte verhandelt und dieser vom Spiegel als Folklore verharmlosten Verkaufsveranstaltung gegenübergestellt? Wo sind die Bezüge zu Ehrenmorden und dem Elend der Unkeuschheit überführter Frauen, die in der Armutsprostitution landen?
Wohlgemerkt, hier geht es nicht um eine Forderung nach Haltungsjournalismus, sondern darum, hinzuschauen. Zu schreiben, was ist, nicht zu schreiben, was die Protagonisten vorgeben, was sei. Und das bedeutet dann eben: Hingehen, wo es weh tut. Näher herantreten und bleiben, bis man verstanden hat, dass man berichten kann.
Die Süddeutsche Zeitung titelte schon im April 2011: „Prostitution in Dortmund: Nachschub kommt aus Bulgarien“. In diesem Bericht wird Prostitution sogar noch verteidigt: „Für die Frauen ist das Elend dort noch viel größer als hier“, sagt eine Elke Rehpöhler von der katholischen Beratungsstelle Kober. Und weiter: „Die Sinti und Roma schicken ihre Töchter zur Prostitution, damit es die Familie daheim besser hat.“
Vom Frauenmarkt zum Igelessen zur erzwungenen Armutsprostitution?
Eines allerdings mag dieser gruselig romantisierende Artikel über den Jungfrauenmarkt in Bulgarien erreichen: Empathische Menschen mit einem funktionierenden westlichen Wertegerüst erfassen möglicherweise noch, was der Spiegel für die Millionen von Bill Gates hier aus welchen Gründen auch immer fahrlässig auslässt.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger und betreibt den Blog alexander-wallasch.de. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann), schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“ Seit August ist Wallasch Mitglied im „Team Reitschuster“.
Text: wal
mehr Zum Thema auf reitschuster.de