Von Ates Köprü
Vor einigen Jahren auf Reisen in der Türkei war da immer dieser leicht bemitleidenswerte Blick, der vor allem von den stolzen Istanbulanern hinter einem Lächeln versteckt aus den Augen blitzte, wenn wir mit unserem schlechten Türkisch um eine Ware handelten und irgendwann zugaben: „Wir sind in Deutschland aufgewachsen.“
Das wusste der Basarhändler natürlich nicht. Aber nun mussten wir nicht mehr den gängigen überhöhten Touristen-Preis zahlen, sondern der Verkäufer ging weiter runter mit dem Preis für seine Waren. Aber höchstwahrscheinlich nie so weit runter, wie ihn ein „echter“ Türke, ein Einheimischer, von ihm bekommen würde. Das verlangt man als Tourist ja auch gar nicht, aber da war dieses seltsame Gefühl, dass man eigentlich gar keiner ist.
Der Witz an der Sache ist jedoch, dass ein echter Türke nie da rumrennen würde, wo wir Fake-Türken rumrennen und shoppen.
Würde der Händler nichts wissen von diesen Euros in unseren Taschen, die wir sogar ganz insidermäßig nicht in den Exchange-Büros wechseln, sondern bei den Goldhändlern und Juwelieren, wäre vermutlich genug Mitleid für uns übrig, um einen annähernd einheimischen Preis von ihm zu bekommen.
Wie Verrückte rannten wir damals, 2015, in Istanbul herum, um den besten Kurs zu erwischen. Die Wechselstuben hatten wir genau im Blick. Es gehörte schlicht zum Urlaubsritual in der Türkei dazu, diese Schuppen zu bespähen. Die roten großen Zahlen auf den Tafeln waren immer aufregend mit ihrem ständigen Auf und Ab.
„Heute! Heute müssen wir wechseln, heute kriegen wir satte 2,45 – also mehr als das Doppelte für einen Euro! LOS LAUF, BEVOR SICH GLEICH WIEDER WAS ÄNDERT!“
Außerhalb des Stadtkerns von Istanbul, von denen es gefühlt über zweihundert gibt und in Wirklichkeit wahrscheinlich sogar noch viel mehr, wurde der mitleidige Blick immer mehr zu einem verachtenden.
Je ländlicher, desto weniger Verständnis dafür, dass unsere sogenannte Muttersprache nicht mehr ganz ohne Stottern, ohne diese vielen „Äh’s“ und „Hm’s“ auskommt.
Pappstrohhalme sind so deutsch
Einmal lachte sich ein Kellner schlapp, als einer von uns nach einem Strohhalm für seine Cola fragte. Ihm fiel der türkische Begriff nicht ein und er fragte im Grunde nach einem „Abflussrohr“. Der Kellner bekam sich nicht mehr ein und erzählte es der ganzen Belegschaft, die ebenfalls herzhaft lachte. Die Cola ging natürlich aufs Haus. Kaum ein Türke in Deutschland kennt den türkischen Begriff für Strohhalm.
Bei anderen Händlern kann sowas auch bestraft werden mit teureren Preisen, bei denen wir uns gar nicht mehr trauen zu handeln, weil es peinlich wäre. Peinlich, dass wir unsere Muttersprache und unser Vaterland für Geld verkauft haben, oder eher gesagt unsere Eltern, und scheinbar immer noch nicht genug Geld haben, um das Handeln ganz sein zu lassen. Dabei ist Handeln doch das eigentliche kulturelle Erlebnis in der Türkei und in anderen Ländern, in denen es eine traditionelle Basarkultur gibt, die man uns möglicherweise verweigern würde.
Wüssten die Händler nicht, dass wir diese Euros in den Taschen haben, würden sie uns vielleicht gar nichts verkaufen. Aber sie sind darauf angewiesen.
Heute im Jahre 2021 ist alles anders. Da ist kein mitleidiger Blick mehr. Keine Verachtung mehr. Zumindest nicht mehr uns gegenüber. Ein Euro ist keine zweieinhalb Lira mehr wert, sondern zehn.
Wir sind in Erdogans Türkei und mit zehn Lira kauft man problemlos ein paar Kleinigkeiten für den Tag zum Essen und Trinken ein. Sogar eine Schachtel Zigaretten ist drin. Oder fast eineinhalb Liter Benzin, während wir hier in Deutschland für Benzin gefühlt unser Erstgeborenes entbehren sollen.
Die staatliche Rente beträgt umgerechnet ungefähr dreihundert Euro und jeder Rentner lebt an der Armutsgrenze, wenn die Familien sich nicht untereinander aushelfen würden. Das setzt aber natürlich Familie voraus. Die wird in der Türkei stark gefördert.
Außerhalb gibt es viele riesengroße Spielplätze und Familienparks. Ja sogar staatliche Restaurants, in denen man auch als armer Rentner theoretisch mal auswärts essen könnte. Aber selbst das ist kaum möglich. In diesen Restaurants wird nie und nimmer Alkohol ausgeschenkt. Alkohol ist teuer und der neue Luxus. Auch unter dem Deckmantel der Religion legitimiert man die massive Inflation, die jeder wahrnimmt und spürt. Eine Inflation, die schlimmer wurde seit den Gezi-Protesten, die brutal zerschlagen wurden von der Regierung – unzählige ausländische Investoren verließen unverzüglich das Land.
Aber ein Lichtblick: Die Strohhalme hier sind immer noch aus Plastik. Starbucks & Co. verkaufen hier zu denselben Preisen wie in Deutschland, nur dass dort eben nicht Euro, sondern Lira dransteht.
Selbst Capri-Sun-Trinktüten haben noch Plastik-Strohhalme, während sich bei uns in Deutschland nach zweimal Nippen die neuen Pappstrohhalme im Mund auflösen. Man bekommt den Eindruck, als sei Capri Sun nicht ganz ehrlich und irgendwie nur in Deutschland umweltbewusst, indem der Pappstrohhalm, der mit Plastik umhüllt ist, wiederum auf einer Alu-Verpackung klebt.
Egal. Wir in Deutschland essen gerne Pappe für den guten Zweck, für die Umwelt, das Klima – während in Istanbul Turbokapitalismus und Massenkonsum die Menschen fest im Griff haben, wenn sie nicht gerade wieder millionenfach und stundenlang in ihren Autos im Verkehr feststecken.
Zu teuer: Erdogans neue Brücken benutzt kaum einer
Zehn Kilometer dauern gerne mal fast zwei Stunden. Als wir schon fünfundvierzig Minuten in einem Taxi sitzen, zeigt das Navi des Taxifahrers erst 34,70 Lira an. Das sind nicht einmal Dreifünfzig, umgerechnet in Euro. Soviel kostet Taxifahren in Deutschland, noch bevor man drinnen sitzt. Tagsüber. Aber der Vergleich hinkt. So wie der Verkehr.
Des Weiteren fällt auf: Die Straßen sind zu einer Art neuem Basar geworden, auf denen unzählige Verkäufer Waren für den normalen Alltag verkaufen. Waren es früher nur Wasserflaschen für die armen Reichen, die im Stau steckten wie alle anderen auch, sind heute noch viele andere Dinge hinzugekommen, die ein Mensch nun kaufen kann, ohne vorher an einer überfüllten Einkaufsmall anhalten zu müssen. Die Verkäufer auf den Staustraßen in Istanbul verkaufen neuerdings auch Brot, Schnittblumen, Hähnchen, Akku-Ladekabel, Ventilatoren mit USB Zugang, gegrillten oder gekochten Mais usw.
Aber was ist mit den schönen Brücken, die Erdogan bauen ließ, um dem Verkehrschaos entgegenzuwirken? „Die benutzt kaum jemand, weil sie zu teuer sind“, erzählt uns der Taxifahrer.
Wir wollen nach Europa. Nach Fatih. „Geht dort nicht hin. Fatih ist asozial“, warnten uns Verwandte. Fatih ist ein sogenannter Hotspot. Ein Brennpunkt. Und gewissermaßen das Shithole Istanbuls. Aber von dort aus sind viele touristische Attraktionen zu Fuß erreichbar. Sultan Ahmet wartet dort und der geschlossene Basar. Wir waren schon oft dort und wollten es wieder.
So buchten wir für sieben Tage ein Hotel in Istanbul City. Die Fahrt von Istanbul nach Istanbul dauert länger als der Flug von Deutschland in das Land.
Der Taxifahrer macht seltsame Handbewegungen aus dem Fenster heraus und fährt plötzlich rechts ran. „Ich traue mich bei dem Verkehr nicht über die Brücke zu fahren! Ich werde bis heute Abend nicht zurück sein in Asien. Der Kollege arbeitet in Europa und soll euch mitnehmen. Ich sage ihm, er soll auch keine Gebühren für die Brücke von euch nehmen“, sagt der Taxifahrer, und wir steigen aus. Weiter vorne hält ein anderes Taxi und winkt uns zu sich. Wir wechseln also das Taxi mitten auf der Autobahn. Europa scheint so weit weg zu sein, obwohl es laut Navi nur noch fünfzehn Kilometer sein sollen.
Bei der Ankunft ahnen wir, warum wir den Stadtteil Fatih meiden sollten. Die Menschenmengen, die Geschäfte, Händler, Autos, Straßenbahnen, der Lärm, die Hitze, das Chaos überreizt uns so schnell, dass wir vor lauter Aufregung nur noch schnell ins Hotel wollen.
Wir kommen an und die Lobby ist voll. Was sofort auffällt: Überall Frauen mit Kopftüchern. Ja, sogar Burkas. Umso näher an Europa, desto mehr Kopftücher und Moscheen, die die geistigen Grenzen zu Europa ziehen, als bräuchte es neuerdings so ein Bollwerk. In Asien hingegen gab es viel weniger Frauen mit Kopftüchern.
Zum ersten Mal bin ich froh, dass es auch in der Türkei eine Maskenpflicht gibt. Diese wird zwar willkürlich von den Menschen gehandhabt, aber ich verspüre schnell das Bedürfnis, mein Gesicht unter all den verhüllten Frauen ebenfalls zu verdecken.
Wir stehen unter Schock, denn jeder spricht Arabisch. „Salam Aleikum“ sagt der Mann hinter der Rezeption.
Ich höre klar das -a- heraus und nicht das -e-.
Es hieß mal „Selam Alleiküm“. Das -e- und das -ü. waren Indikatoren für Türkisch. Der Mann hinter der Hotellobby schaut mich in meinen kurzen Shorts an und fängt an, türkisch sprechen.
„Siz türksiniz?“ („Ihr seid Türken?“)
Meine Schwiegermutter, ebenfalls in kurzen Hosen und Trägershirt, sagt laut und wütend: „JA, WIR SIND TÜRKEN!“
Plötzlich waren wir wieder „die Türken“. Obwohl wir hier doch immer die Deutschen waren. Aber trotzdem türkischer, als die ganzen Menschen aus den arabischen Ländern, die hier schon auftreten, als sei es ihr Istanbul.
Der Mann nimmt unsere Ausweise und unsere Koffer werden in die Zimmer gebracht. Wir nutzen die Zeit für einen Spaziergang. Es ist kaum zu glauben, was wir erleben. Was wir sehen. Die Straßen sind voll mit Menschen. So viele Menschen und so viele Burkas und Kopftücher habe ich in meinem Leben vorher in der Türkei nicht gesehen.
Reizüberflutung schon nach einer Stunde
Wir laufen schweigend durch die Straßen und schauen uns um. Überall werden wir auf Arabisch angesprochen. Überall arabische Schriften in den Schaufenstern. Russisch und Arabisch. Aber wir sind noch zu geblendet vom regen Leben auf den Straßen und von den Waren, die in Unmengen angepriesen werden.
[ngg src=“galleries“ ids=“9″ display=“basic_thumbnail“ thumbnail_crop=“0″]So viel Leben gibt es in Deutschland nirgendwo. Aber in Deutschland gibt es auch keine Stadt mit über fünfzehn Millionen Einwohnern – und das sind nur die, die schon registriert sind. Die Dunkelziffer ist viel höher, und seitdem Erdogan die Grenzen öffnen ließ, gibt es auch diese – früher üblichen – Ortsschilder nicht mehr, auf der die Einwohnerzahl der dort lebenden Menschen angegeben war.
„Das hat er wegmachen lassen, weil die Zahlen eh nicht mehr stimmen“, sagte uns ein Verwandter. „Keiner weiß, wie viele Menschen hier leben. Nur weiß jeder, dass es garantiert keine fünfzehn Millionen mehr sind, sondern schon viel mehr.“
Nach einer Stunde sind wir mal wieder reizüberflutet. Wir kehren zurück ins Hotel. Es gibt Probleme mit den Zimmern, die wir gebucht haben. Schwiegermutter geht zur Lobby. Sie ist sauer und will den Manager sprechen.
Frau Nuray kommt und nimmt sich unserer Probleme an. Statt Zweibettzimmern hatten wir Einbettzimmer bekommen. Frau Nuray löst das Problem und will mit uns einen Kaffee trinken.
Bei dem Gespräch nimmt die Schwiegermutter kein Blatt vor den Mund: „Wieso ist das Hotel voll mit Arabern?“
„Ja das ist leider so geworden. Es gibt kaum noch Türken hier“, sagt Frau Nuray. Ich höre zu und schaue sie erwartungsvoll an. Sie fährt fort: „Vor einem Jahr wollten wir keine arabischen Gäste mehr aufnehmen. Aber nach einem Monat ist uns klar geworden, dass wir das Hotel dann sofort zumachen könnten.“
Wir sind wieder geschockt, aber uns fehlen die Worte. Erdogans Konterfei, wie einst Atatürks, hängt riesengroß über der Kaffeemaschine in der Lobby. Offensichtlich hat Erdogan ihn ersetzt. Eigentlich fehlen und nicht die Worte, sondern wir trauen uns nicht zu sagen, was wir denken. Fatih ist voll mit AKP-Anhängern.
Das wissen wir, und wir wissen auch, was mit Erdogan-Kritikern passieren kann.
Nachdem wir die Zimmer gewechselt haben, gehen wir raus. Eigentlich wollen wir herumlaufen, aber es ist zu viel. An jedem Laden und jedem Stand, an dem wir vorbeilaufen, werden PCR-Tests angeboten wie Obst, Gemüse oder Taschen von Dior und Louis Vuitton. Zwischen einhundert und fünfhundert Lira. Corona ist ein großer neuer Markt und man kann feilschen um den Preis. Wer diese Tests macht, weiß man nicht, man weiß nur, dass an den Flughäfen eh keiner genau hinschaut. Weder beim Hin- noch beim Rückflug.
„Würden die richtig gucken, könnte man den ganzen Tourismusverkehr komplett aussetzen“, sagte uns der Taxifahrer, der sich unser erbarmt hat und anhielt, um uns einsteigen zu lassen. Der einzig angenehme, ruhigere Moment in Istanbul ist tatsächlich nur in einem Auto erfühlbar. Die Karossen sind wie eine Schutzhülle um das Individuum, das sonst beinahe erstickt in der Menschenmenge.
Wir wollen irgendwohin fahren. Hauptsache erstmal weg aus dem Kern. Wir atmen auf. Es ist laut und stickig. Der Taxifahrer trägt seine Maske auf dem Kinn und auch wir haben längst vergessen, dass dieses Teil irgendwie an uns hängt, aber eben nicht da, wo es sein sollte.
Es interessiert keinen. Corona existiert nur auf Schildern. Alle Menschen rennen mit den Masken herum, als sei es ein Accessoire. Mal im Gesicht, mal an der Hand, an der Tasche, auf dem Kopf wie eine Brille, mal vor dem Mund – aber nicht auf der Nase.
Und für mich dient diese Maskerade im Moment nur noch einem Zweck: mich sozial zu distanzieren. Ich will nicht, dass jemand sieht, wie ich gucke oder mein Gesicht verziehe. Ich will nicht, dass jemand in meinem Gesicht lesen kann.
Ich tarne meine Sozialphobie unter der Maske. Ich tarne meine Abneigung unter der Furcht vor dem Virus, der mehr Geld einbringt, als es Patienten in Krankenhäuser spült.
Afrikanerviertel in Istanbul ist No-Go-Area
Der Taxifahrer lässt uns an einem ruhigeren Ort heraus und wir suchen einen Platz zum Essen. Wir umgehen dabei alle arabischen Geschäfte, weil wir in der Türkei gerne türkisch essen wollen.
Wir setzen uns an einen Tisch draußen am Straßenrand. Die Preise sind lächerlich gering. Fünf Personen bezahlen gerade mal neun Euro für komplette Fleisch- und Grillteller mit Getränken. Wir haben ein schlechtes Gewissen und geben 150 Lira. Der Mann ist dankbar und wir stehen auf. Seine Dankbarkeit will er uns zeigen, indem er uns rät, nicht den Weg weiterzugehen.
„Geht nicht diese Straße weiter. Ab der Kreuzung kommen die afrikanischen Ghettos. Die sind voll mit den Flüchtlingen, die Erdogan uns geschenkt hat. Es ist gefährlich dort“, sagt er grinsend, und neigt den Kopf.
Ich schaue in das Innere seines kleinen, spärlichen Restaurants. Dort hängt ein Bild von Atatürk, so wie ich es eigentlich immer gewohnt war in der Türkei.
Die Schwiegermutter wird sauer. „Was ist hier eigentlich los? Was ist hier passiert?“, fragt sie, ohne wirklich zu fragen.
„Abla (große Schwester), die Türkei ist nicht mehr, wie sie mal war. Man kann hier froh sein, wenn man noch Türken findet“, antwortet der Mann.
„Er hat uns unser Land geraubt und es den Arabern und Flüchtlingen geschenkt.“
Wir schütteln entsetzt den Kopf und schauen in die Straße hinein. Tatsächlich sieht man dort viele Menschen aus Afrika herumlaufen.
„Die haben sogar alle eigene Geschäfte und wir verhungern hier fast und können kaum Miete bezahlen“, sagt der Mann.
Wir kehren um zur Hauptstraße und warten auf ein Taxi. Es geht schneller als zuvor und wir steigen ein. Atatürk baumelt als Anhänger am Rückspiegel hin und her, nachdem der Wagen losgefahren ist. Wir sind mutiger und fragen den Taxifahrer direkt:
„Sind hier nur noch Araber und Flüchtlinge?“
Der Fahrer dreht sich verwundert zu uns und sagt:
„JA! Das haben wir unserem König zu verdanken. Aber alle lieben ihn, weil er Brücken gebaut hat und eine Müllabfuhr in den Dörfern eingerichtet hat. Der holt sie alle und in Wirklichkeit holt er sich seine Wähler, weil er weiß, dass kein normaler Mensch in diesem Land ihn noch wählen würde. Aber ihr seid aus Deutschland oder?“
„Ja“, antworten wir.
„Bei euch ist es doch genauso, oder?“
„Wir sind fremd in unserem eigenen Land.“
Das Gespräch endet im Schweigen. Als wäre es ein Gespräch, was ich in Deutschland führe mit Deutschen. Oder mit Türken in Deutschland – nur andersherum.
Da ist 2021 kein mitleidiger Blick mehr uns Profitouristen gegenüber. Sondern ein schmerzhafter und wütender aus dem Taxi heraus auf die vollen Straßen. Auf den nimmer endenden Stau trotz der Millionen teuren Brücken. Als würden man in diesem Taxi im selben Boot sitzen auf der Brücke in die Entfremdung.
Ich schaue auf den Bosporus. Die Schönheit des Horizonts erschlägt mich. Ich vergesse alles. Jedes Gespräch.
Religion, Tradition und brutalster Kapitalismus
Nach wie vor gibt es keine Stadt für mich, die einen Menschen derart aus den Fugen reißen kann, wie Istanbul. Die Menschenmengen, die Massen, der unglaublich laute Geräuschpegel durch den Verkehr, die Musik, die aus allen Läden auf die Straße hinausdrängt, das andauernde Hupen, die Polizeisirenen, das Hundegebell, das Meeresrauschen, die Muezzin aus den Minaretten der unzähligen Moscheen, die alle kaum einen Kilometer voneinander entfernt sind und nahezu gleichzeitig anfangen zu beten, aber nie ganz synchron sind und es dadurch zuerst klingt, als gäbe es ein Echo.
Wenig später wird daraus ein Gesang wie im Kanon. Und egal wie laut alles andere drumherum auch war, in diesem Moment herrscht Stille. Die Musik ist aus, alles ist aus, und es fühlt sich an wie eine kleine Pause von all dem, was Istanbul eigentlich ausmacht. Eine Einkehr. Tourismus, Konsum, Lärm, multikultureller Meltingpot, Vergangenheit und Moderne, Historie und Zukunft, Religion, Tradition und brutalster Kapitalismus – alles nebeneinander, miteinander, aufeinander und untereinander.
Sie merken vielleicht, ich habe was für Istanbul übrig.
Denn wenn es eine Gegend auf der Welt gäbe, die meine innere Zerrissenheit, aus der sich meine mittlerweile erwachsene Identität unter anderem gespeist hat, irgendwie widerspiegelt, dann genau diese Stadt, die auf zwei Kontinenten liegt – halb Europa und halb Asien.
Istanbul ist wie meine Seele, die nur darauf gewartet hat, dass Erdogan endlich mehr Brücken baut, um sie miteinander zu verbinden, damit es flüssiger läuft. Aber es sind keine Brücken, die Europa und Asien geografisch und kulturell miteinander verbinden.
Es sind Brücken geworden zurück in eine Vergangenheit, welche die Türkei unter Atatürk abreißen und hinter sich ließ. Brücken, die Erdogan wieder aufbaute, Brücken, die jetzt nicht mehr nach Europa führen, sondern in ein Land, das wieder Arabisch spricht und schreibt.
Brücken in ein Land vor meiner Zeit, von dem meine Eltern schwärmten, die aber nun noch mehr Entfremdung fühlen als jemals in Deutschland überhaupt.
Die Corona-Maßnahmen haben unzählige Menschen extrem hart getroffen. Sie haben viele Existenzen gefährdet und vernichtet. Ich möchte Menschen, die betroffen sind, helfen – und veröffentliche deshalb auf meiner Seite Reklame von ihnen. Mit der Bitte an meine Leser, sie wohlwollend zu betrachten.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Atis Köprü schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: privat
Text: Gast