Ein Besuch in Tschernobyl – die Hölle vor Augen Eine Reportage im Grenzbereich

Heute vor 35 Jahren explodierte ein Reaktor im Kernkraftwerk im ukrainischen Tschernobyl. Ich war zum 15. Jahrestag der Katastrophe vor Ort. Auch in dem Gebäude des Unglücksreaktors selbst. Es war eines der gruseligsten Erlebnisse in meinem Leben. Lesen Sie hier meine Reportage, die ich damals geschrieben habe. Mit mir unterwegs war mein Freud und Fotograf Igor Gavrilov. Igor war 1986 einer der ersten Fotografen, der am Unglücksreaktor Bilder machte. Für ihn war es eine Rückkehr. Seine Bilder von 1986 sind zwischen den Absätzen zu sehen.

 

Zwanzig Meter neben der Hölle nichts als Langeweile. Regungslos hat sich Juri Drabtschuk über sein Arbeitsbuch gebeugt, den Vollbart in seine Hände gegraben. Er starrt auf die 100 Anzeigetafeln und Regler an seinem Kontrollpult und raucht. Seit Monaten gibt es nichts mehr zum Regeln. Einen einzigen Eintrag hat der 40-Jährige in sein Arbeitsbuch geschrieben: den Schichtwechsel. Dabei schiebt er schon fünf Stunden Dienst. „Früher hatte ich um die Zeit mindestens zwei Seiten voll“, seufzt Drabtschuk. „Aber früher war ich auch noch Ingenieur und kein Totenwächter.“

Die Leiche in Drabtschuks Obhut ist das Atomkraftwerk Tschernobyl, das am 15. Dezember 2000 vom Netz ging. Sein Wachposten ist der Kontrollraum des dritten Reaktorblocks. Zwanzig Meter weiter, hinter einer mächtigen Betonwand, liegt der Unglücksreaktor begraben. Eine hastig errichete Schutzhülle aus Beton und Metall bedeckt hier seit fünfzehn Jahren die extrem strahlenden Überreste des ehemaligen vierten Reaktorblocks.Um das abgesperrte Gelände rankt sich ein Gespinst aus Intrigen und Vertuschung. Jeden Tag kann dieser Sarkophag entzweibrechen. Jeden Tag kann die radioaktive Zeitbombe hochgehen, die im Herzen des stillgelegten Kraftwerks tickt. Jeden Tag kann es wieder zu einer Katastrophe kommen.

 

Drabtschuk mag nicht an das schlafende Ungetüm hinter der Betonmauer denken. „Dazu ist es zu nah.“ Aus den Lautsprechern singt Stevie Wonder „I Just Called To Say I Love You“. Es riecht nach Instantkaffee und dem Qualm billiger Zigaretten.

Drabtschuk und seine Kollegen haben jetzt viel Zeit zum Reden, aber vom 26. April 1986 spricht hier keiner gern. Genauso wie sie jetzt saßen damals vier Ingenieure im baugleichen Kontrollraum des vierten Reaktors. Einen Test sollten sie machen. Alles lief nach Vorschrift ab. Mehr oder weniger, wie es in Russland eben so ist mit Vorschriften. Als sie dann den AS-5, den Notabschaltknopf, drückten, schaltete nichts mehr ab. Der vierte Block war explodiert. Ein Super-GAU.

Die radioaktiven Wolken aus Tschernobyl verseuchten weite Teile der Ukraine, Weißrusslands und Russlands – ein Gebiet, in dem sieben Millionen Menschen lebten. Hastig ließ die Sowjetführung nach der Katastrophe „Freiwillige“ einfliegen. Todgeweihte.

Die „Freiwilligen“ mussten eine Schutzhülle bauen, den Sarkophag – aus 300 000 Tonnen Beton, 7000 Tonnen Metall. 61 Meter hoch. Wie viele Menschen die Katastrophe das Leben kostete, lässt sich nur schätzen. Von bis zu 500 000 ist die Rede. Das Gebiet um Tschernobyl ist bis heute verseucht. Sperrzone. Verbotene Dörfer. Polizeiposten. Zäune. Stacheldraht. 30 Kilometer um das Kraftwerk. Bürokratisch stur gezogen mit dem Zirkel. Obwohl die Atomwolke nach Westen ging.

Nach dem Super-GAU im vierten Block ließ die Sowjetführung die drei anderen Reaktoren rasch wieder ans Netz gehen. „Für uns wurde Tschernobyl ein ganz normaler Arbeitsplatz“, sagt Drabtschuk. „Bis zum 15. Dezember 2000. Die haben uns nur abgeschaltet, weil der Westen solchen Druck gemacht hat – und unseren Politikern so viele Dollar für die Schließung zahlte.“

 

Etwa 9000 Menschen arbeiten heute in Tschernobyl – von der Köchin bis zum Schichtleiter. Gut bezahlt – für ukrainische Verhältnisse. Drabtschuk kommt auf umgerechnet 550 Mark im Monat. „Aber keiner weiß heute noch, ob er morgen nicht arbeitslos sein wird. Ohne Strom kein Geld, ohne Geld kein Gehalt.“ Offiziell ist der Reaktor nur „außer Betrieb“ – denn für eine Stilllegung fehlt der Betreibergesellschaft die Lizenz. Also wird bis 2006 „Normalbetrieb“ vorgespielt.

Ein Techniker kommt in den Kontrollraum und reißt die Ingenieure aus ihrem Dämmerzustand: „So, Leute, wo ist das Pult? Seit wann streikt es?“ Ein Defekt? Der Schichtleiter lacht: „Alles geht mal kaputt. Ist ja nur das Telefonpult.“ Wenigstens etwas Abwechslung.

Drabtschuk drückt seine Zigarette aus. „Seit Dezember geht es uns wie Rennfahrern, die von einem Tag auf den anderen nicht mehr fahren dürfen – nur noch dasitzen und gelegentlich zur Kontrolle die Wagenfenster hochkurbeln müssen.“ 20 Meter weiter, hinter der Mauer, rast der Rennwagen weiter. Die Radioaktivität im Sarkophag lässt sich nicht abschalten, auch nicht mit vielen Dollar aus dem Westen. Im Zaum halten soll das strahlende Ungetüm ein hagerer Mann mit fingerdicken Brillengläsern, Horngestell Marke Jaruzelski.

Valentin Kupny ist der Herr über den Sarkophag. Wenn der 64-jährige dreifache Urgroßvater aus seinem Bürofenster blicken würde, könnte er den Unglücksreaktor sehen. Aber Kupny hat keine Zeit für Ausblicke. Berge von Akten auf seinem Schreibtisch. Ein Telefon, das ständig klingelt. Und eine Klimaanlage, deren Blubbern klingt, als hätte das Gerät Blähungen.

Fast schon komisch, wären Kupnys Worte nicht zum Fürchten: „Die Hülle um den Katastrophenreaktor kann jeden Tag einstürzen, und dann sind wir wieder da, wo wir 1986 waren.“ Kupnys Stimme ist ruhig, bedächtig. Selbst seine alarmierendsten Erkenntnisse erzählt er ohne Aufregung: „Der Sarkophag ist so löchrig, dass jeden Tag Radioaktivität austritt. Und wir haben nicht einmal die Möglichkeit zu messen, wie viel es ist. Wenn man Radioaktivität sehen könnte, stünde wohl eine Rauchfahne über dem Sarkophag. Noch etwas Zucker in den Kaffee?“

Eine Horrorvision: Das morsche Dach der Schutzhülle kann jeden Tag auf die Reaktorruinen stürzen. „Was dann weiter passiert, hängt davon ab, welchen Wind wir haben“, sagt Kupny. „Dass wieder Radioaktivität bis in den Westen gelangt, ist aber unwahrscheinlich“, fügt er hastig hinzu.

Was sich im Innern des Sarkophags tut und wie der radioaktive Brennstoff auf das Regenwasser reagiert, weiß auch der Hüter des schlafenden Monsters nicht. Gelegentlich komme es noch zu atomaren Reaktionen, raunt Kupny und streckt die Hände von sich, als sei dies seine Schuld: „Im September 1996 haben wir die letzte Kettenreaktion gemessen. Aber es kann gut sein, dass auch jetzt etwas läuft. Wir wissen es nicht.“

Der Kampf gegen den Verfall des Sarkophags ist ein Wettlauf mit der Zeit. Und mit dem Strahlenmessgerät – dem Dosimeter. Wieder klingelt Kupnys Telefon. „Zum Dach? Auf den Schornstein? Wie viel kostet das?“ Kupny schiebt sich die Hornbrille zurecht. „0,5 Rem? Okay.“

Jede Arbeit am Sarkophag hat ihren Preis in Rem, der Maßeinheit radioaktiver Belastung. Zwei Rem, das ist der „Jahresgrenzwert“. Wenn einer von Kupnys 812 Mitarbeitern mehr als zwei Rem abbekommt, darf er bis zum Jahresende nicht mehr in den Sarkophag. Viele lassen ihre Strahlenzähler draußen liegen – und sich absichtlich kontaminieren. „Wenn wir streng nach Strahlenschutz arbeiten würden, wäre der Sarkophag schon lange eingestürzt“, erzählt einer der Arbeiter und blickt sich ängstlich nach allen Seiten um: „Wir sind menschliche Roboter.“

Das Jahr ist noch jung, und Wladimir Kaschtanow hat noch 1,7 Rem „gut“. Der junge Ingenieur sieht gut aus und hat das Lächeln eines Hollywood-Schauspielers. Zwei breite, leuchtend weiße Zahnreihen. Er grinst seine Angst weg: „Furcht ist doch nur etwas für die, die sich nicht auskennen mit Radioaktivität.“ Kaschtanow kennt sich aus. Er ist in der Hölle beschäftigt. Im weißen Schutzanzug aus Baumwolle startet er auf einen Kontrollgang ins Innere des Sarkophags.

Je tiefer es in den Bauch des Ungeheuers geht, umso weicher werden die Knie. Endlose Gänge. Goldfarben gestrichen. Ausgelegt mit Kunststofffolie. Ein Treppenhaus, zerfallen wie in einem Gruselfilm. Plastikplanen auf den Stufen. Spinnweben an den Wänden. Kaschtanow lächelt schon wieder, ohne die weißen Zähne, sie sind hinter dem Mundschutz verschwunden: „Keine Sorge, das stammt nicht von Spinnen. Es ist ein Mittel, das den Staub an die Wände bindet. Der Staub ist ja hoch radioaktiv hier.“

Das Unheimliche an der Strahlengefahr ist, dass sie nicht zu sehen ist. Nicht zu riechen. Nicht zu spüren. Auf einmal Aufregung. Das Messgerät zeigt zehn Röntgen an – so viel, als würden 70 Röntgenbilder der Lunge auf einmal gemacht werden. Und 1000-mal mehr, als laut „Strahlenplan“ auf diesen Stufen sein dürften.

Die Schritte nach oben werden schneller. Immer schneller. Vorbei an zwei verrosteten Türen. Ein hastiger Sprung über eine gebrochene Stufe. Eine scheinbare Ewigkeit später endlich wieder ein Gang. Hier sei es halbwegs „sauber“, verspricht Kaschtanow. Hoffentlich.

„Muss ein Messfehler gewesen sein auf der Treppe. Oder ein falscher Tritt.“ Kaschtanow mustert das Dosimeter. Und da ist wieder dieses Lächeln. „Oh, es ist ein Messfehler: In der Dunkelheit war einfach das Komma nicht zu sehen. Nicht zehn Röntgen, sondern zehn Milliröntgen.“ Ein Himmelreich für Kaschtanows Lächeln. Selbst wenn zehn Milliröntgen immer noch das Tausendfache der natürlichen radioaktiven Strahlung sind.

Ein paar Meter weiter liegt der Kontrollraum des vierten Blocks. Vor 15 Jahren muss es hier ausgesehen haben wie drüben, bei Juri Drabtschuk im dritten Block. Die gleichen Schaltpulte, die gleichen Zeiger. Nur ist hier die Farbe abgesplittert. Die Knöpfe sind angeschmort. Rost. Wieder „Spinnweben“. Kabel baumeln von den Wänden. So muss es nach einem Atomkrieg aussehen.

Kaschtanow öffnet eine schwere Eisentür. Dahinter ist kein Licht mehr. Nur noch ein Scheppern durch die Tritte auf den Stufen ist zu hören. Die Leiter muss aus Metall sein. Erst oben wieder ein paar Lichtstrahlen – die es eigentlich nicht geben dürfte. Das Dach hat offenbar Löcher. Ein schmaler Metallsteg. Rechts unten das Grauen. Reste von Rohren, Beton, Leitungen, Kabeln. Wild durcheinander. Trümmer über Trümmer.

„In viele Bereiche können wir gar nicht rein, wissen nicht, wie stabil das alles ist“, sagt Kaschtanow. „Die haben den Sarkophag damals einfach auf die Trümmer hier gebaut. Da wurde nicht einmal geschweißt oder geschraubt.“

Links eine Wand. Mit jedem Meter wird sie schiefer, neigt sich immer mehr nach rechts. Als ob sie jeden Moment einbrechen könnte. Oben wölbt sich das Dach. Wasser tropft herunter. Ein gespenstischer Klang in der Stille. Weiter vorn ein gewaltiger Betonpfeiler, der das Dach halten soll. Er ist eingeknickt. Ganz oben, wo er das Dach berührt, ein Riss. Handbreit. 50 Milliröntgen auf dem Dosimeter. Kaschtanow ist das Lächeln vergangen: „Jetzt aber schnell raus hier.“

Nach getaner Arbeit die „Reinigung“. In der „Ukraine“-Bar in Tschernobyl. Tische aus Plastik. Stühle aus Plastik. Gläser aus Plastik. Na sdarowje! „Wir nehmen den Alkohol zum Dekontaminieren – er reinigt uns von den Strahlen“, scherzt einer. Sie trinken auf ihre Arbeit – und auf Kupny, ihren Chef. Nach zwei Flaschen Moskovskaya ist der Unglücksreaktor weg. Weit, weit weg.

Prypjat lag zu nah. Fast 50 000 Menschen lebten hier. Bevor die radioaktive Wolke kam. Im Kindergarten liegen noch Puppen und Bettzeug verstreut. Die Natur holt sich die Stadt zurück. Bäume wachsen durch den Asphalt. In den Wohnungen sprießt Moos.

Nur ein Mann, der 49-jährige Wladimir Schinkarenko, trotzt dem Zerfall. Er hat Prypjat noch als blühende Stadt erlebt, hatte eine Wohnung hier. Nach dem GAU hat er sich in der alten Berufsschule ein Zimmer und ein Labor eingerichtet. Strom zapft er aus einer Kontrollanlage um die Ecke ab. Wasser bringen ihm Freunde aus dem AKW. Er jagt und fischt, sammelt Pilze. Was er auftischt, müsste in Deutschland wohl als Sondermüll entsorgt werden.

Erst beim dritten Versuch gelingt es Schinkarenko, seine Angel in den verseuchten Prypjat-Fluss zu werfen. Er ist völlig abgemagert, kann seine Hände kaum noch bewegen – Osteoporose in Folge von radioaktiver Strahlung. „Das Strontium hat mir das Kalzium aus den Knochen gespült“, sagt er und gießt sich einen Wodka ein. Sein Freund Mischa ist zu Besuch. Illegal hat er sich über Schmuggelpfade in die Sperrzone geschlichen: „Diese Stadt ist ein Friedhof. Sie ist unheimlich. Sie ist schrecklich. Und sie zieht mich an wie ein Magnet.“

Schinkarenko, gelernter Fotograf, baut aus verlassenen Häusern Elektrogeräte aus, repariert sie, verkauft sie in Kiew. „Radioaktivität? Fürchte ich nicht! Lasst uns nach Hause gehen und noch einen Wodka trinken. Der hilft.“

Doch zu Hause wartet eine böse Überraschung. Drei Polizisten mit Maschinenpistolen. „Was redest du hier mit Journalisten?“, herrschen sie ihn an. Schinkarenko rechtfertigt sich aufgeregt und redet auf die Beamten ein. Ohne ein Wort zu sagen, setzen sie ihn mitsamt Freund in ihren Jeep. „Jungs, lasst den Unsinn! Ich lebe doch schon seit 23 Jahren . . .“ Ein Kraftpaket in Uniform schlägt die Autotür zu. Schinkarenko wird zurückkehren, er ist immer zurückgekehrt.

Valentin Kupny darf nicht mehr wiederkommen. Nach seinen deutlichen Worten im Interview für diesen Text ist der Sarkophag-Direktor seinen Job los. „Als ich morgens zur Arbeit kam, stürmte der Chef des Wachdienstes herein und sagte mir, ich sei entlassen. Entscheidung der Kraftwerksleitung.“ Kupny habe Anweisungen von oben nicht befolgt, beschwichtigt ein Kraftwerkssprecher.

Der 64-Jährige hat eine andere Erklärung: „Ich war immer offen. Habe ehrlich gesagt, wie dramatisch die Lage im Sarkophag ist. Und ich wollte Rechenschaft ablegen, was wir mit den 748 Millionen Dollar machen, die der Westen für einen neuen Sarkophag geben will. Viele wollten diese Offenheit nicht.“

Es ist nicht das erste Mal, dass Kupny für seine „private Glasnost“ leiden muss. Als Tschernobyl 1986 explodierte, war er Direktor des benachbarten Atomkraftwerks in Saparoschje. Seine Messgeräte registrierten längst einen Super-GAU, als Moskau die Katastrophe noch als Unfall herunterspielte. Kupny hielt sich nicht an das Schweigegebot, warnte die Bevölkerung vor der Strahlengefahr. Kurz danach wurde er entlassen. Er schlug sich als Wissenschaftler durch. Nach dem Zerfall der Sowjetunion kam er nach Tschernobyl, wurde Chef des Sarkophags.

Und wieder nimmt er kein Blatt vor dem Mund. Sagt offen, dass man ihm schon mal, ganz diskret, Bestechungsgelder angeboten hat. Und dass ein heftiger Kampf um die westlichen Tschernobyl-Hilfsgelder entbrannt ist: „Die Reaktorleitung will sich das Projekt Sarkophag einverleiben, damit die Überweisungen aus dem Westen im allgemeinen Geldfluss aufgehen – und so leichter versickern können.“

Der 64-Jährige kämpft nun vor Gericht gegen seine Entlassung – und zu Hause gegen die Langeweile. Kupny ist eine Ausnahmeerscheinung unter den postsowjetischen Atommanagern. Viele heikle Details werden bis heute geheim gehalten.

„Anfang der 80er brach im ersten Block ein Brennstoffstab auseinander“, berichtet Wladimir Kusnezow, einst Ingenieur in Tschernobyl und heute Umweltschützer beim Grünen Kreuz. „Da hat man einfach Soldaten geholt.“ Für eine Extra-Entgelt kehrten die Wehrpflichtigen den vermeintlichen „Abfall“ mit Besen zusammen. „Dass das Zeug hoch radioaktiv war, sagte denen natürlich niemand.“

1981, fünf Jahre vor dem GAU, gab es schon einmal einen schweren Unfall in Tschernobyl. „Das wird bis heute geheim gehalten“, sagt Kusnezow, „da hat noch niemand darüber geschrieben. Dabei war das ein ganz schwerer Unfall.“ Kusnezow verrät: „Ein Dampfkollektor explodierte. Brennelemente platzten. Alles verdampfte nach außen.“

„Ja, es gab diesen Unfall“, gesteht auch Wiktor Brjuchanow. Er war Direktor von Tschernobyl, als 1986 der vierte Reaktor explodierte. Vier Monate später wurde er festgenommen. Das Oberste Gericht verurteilte ihn zu zehn Jahren Haft. „Die haben mich zum Sündenbock gemacht“, sagt Brjuchanow mit zittriger Stimme und nippt an seinem Branntwein. Heute lebt er in Kiew. Die Haftzeit hat tiefe Gräben in sein Gesicht gefurcht. Er ist 64 – und sieht aus wie ein Greis. 30 Mark Rente bekommt er im Monat.

Ingenieur Drabtschuk, der Totenwächter vom dritten Block, hat sich einen Wodka eingeschenkt. Er sitzt mit Kollegen daheim, in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Slawutitsch, der „Atomstadt“. Errichtet nach der Katastrophe, 50 Kilometer östlich von Tschernobyl.

Nach dem dritten Glas erzählt einer von Drabtschuks Kollegen, wie es wirklich war. Von den vielen Pannen. Oder vom Großbrand im zweiten Block. Oder vom vergangenen Jahr, als es ein Gewitter gab und Probleme mit der Kanalisation. „Die Notdiesel wurden überschwemmt und funktionierten nicht. Wir fuhren den Reaktor sofort runter, wie vorgeschrieben“, erzählt der Atom-Ingenieur und schüttet sich Wodka nach. „Auf einmal sehe ich – da blinkt was. Zwei Pumpen sind ausgefallen. Ich musste sofort die Kollegen rausschicken. Eine Minute später hatten wir die Dinger zum Glück wieder am Laufen.“

Drabtschuks Frau schüttelt den Kopf und hebt ihr Wodkaglas. „Juri, deine Langeweile hin oder her, ich bin heilfroh, dass der Reaktor nicht mehr läuft.“ Drabtschuk lächelt bitter. Er weiß, dass sein Job als Totenwächter gefährlich genug ist.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

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Bilder: Igor Gavrilov
Text: br

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