Ex-STIKO-Mitglied kritisiert deutsche Corona-Politik: „Die Zahlen sind dramatisch falsch“ Medizinstatistiker Gerd Antes moniert mangelnde Beweiskraft für den Nutzen der Maßnahmen

Von Daniel Weinmann

Jahrzehntelang hat sich Gerd Antes dafür stark gemacht, dass medizinische Behandlungsmethoden wissenschaftlich überprüft und Patienten vor unwirksamen Therapien geschützt werden. Er zählt zu den renommiertesten Medizinstatistikern Deutschlands und war wissenschaftlicher Vorstand der Cochrane Deutschland Stiftung, die sich für wissenschaftliche Evidenz in der Medizin einsetzt. Während der Coronakrise hatte er sich immer wieder kritisch zu Maßnahmen geäußert, weil es an Beweiskraft für deren Nutzen fehle.

„Wir müssen das Wissen boostern“, sagte er bereits im November, als die sogenannte Auffrischungsimpfung zum Königsweg aus der Pandemie gekürt wurde. Der 72-Jährige, der als einer der Pioniere der evidenzbasierten Medizin in Deutschland gilt, hält viele Zahlen für falsch und fordert eine große Studie darüber, wie der Immunstatus in der deutschen Bevölkerung wirklich ist.

„Modellrechnungen liegen und lagen bisher teilweise unglaublich schief“, sagte er in einem Interview mit „RTL„, und zwar „nicht knapp daneben, sondern voll daneben“.

Modellrechnungen und die Datenlage seien daher „extrem unzuverlässig“. Exemplarisch nennt er Bremen, das als „Musterschüler“ eine hohe Impfquote habe. Die Infektionszahlen in dem Stadtstaat seien aber dennoch extrem hoch. Für Antes ist das „eigentlich ein Beleg dafür, dass wir sehr viel immer noch nicht verstehen. Und zwar nicht nur nicht richtig verstehen, sondern nicht mal ansatzweise“.

»Ich fand Lauterbachs Auftritte in Talkshows extrem unglücklich«

Die Politik kritisiert er schonungslos als „Mischung aus Inkompetenz und teilweise Arroganz“. Wenn man die Ministerpräsidenten höre, die immer wieder erklärten, dass sie eigentlich alles im Griff hätten, und man dann die Realität anschaue, dann „stimmt das einfach nicht“.

In der „Rheinischen Post“ nimmt er Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ins Visier: „Ich fand seine Auftritte in Talkshows extrem unglücklich. Er hat monoton gewarnt und dabei meiner Ansicht nach oft Kausalität und Korrelation verwechselt.“ Lauterbach habe auch in den letzten Jahren nichts wissenschaftlich Relevantes publiziert. „Das ist nicht schlimm“, so Antes, „aber dann muss man sagen: Er ist Politiker – kein Wissenschaftler“.

Mit Blick auf die wahre Immunität fordert der Medizinstatistiker, der bis 2011 Mitglied der Ständigen Impfkommission war, eine groß angelegte Studie. „Wir brauchen das Abbild der Gesellschaft in einer großen Studie und die muss richtig analysiert werden. Und das muss morgen beginnen.“ Dazu benötige man eine Kohorte von 40.000 bis 50.000 Deutschen, die „sauber strukturiert die Gesellschaft abbildet, damit wir über Blutproben und Tests dieser Menschen genauer sehen können, wie der Immunstatus der Gesellschaft ist“.

»Wir haben zurzeit einen Irrationalismus, der der Gesellschaft schadet«

Doch das sei bis heute versäumt worden und falle uns jetzt wieder auf die Füße, bemängelt Antes. „Das, was die Bevölkerung zu Recht verrückt macht, ist doch, dass die Zielwerte ständig steigen. Erst heißt es, 76 Prozent der Deutschen müssten vollständig geimpft werden. Dann sagt die Leopoldina, unter 90 Prozent wird es nie reichen. Diese Zahlen sind dramatisch falsch.“

Vor diesem Hintergrund verwundert kaum, dass er seine Kritik an der deutschen Corona-Politik gegenüber dem „Cicero“ Ende Dezember so auf den Punkt brachte: „Wir haben zurzeit einen Irrationalismus, der der Gesellschaft schadet und mit einem modernen Land vollkommen unvereinbar ist. Eigentlich – aber er ist Realität.“

Seine Worte sind ein Frontalangriff gegen Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Nicht wenige Bundesbürger dürften sich statt des omnipräsenten Talkshow-Königs einen waschechten Wissenschaftler wie Antes als einen wichtigsten Protagonisten der Corona-Politik wünschen.



Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Daniel Weinmann arbeitete viele Jahre als Redakteur bei einem der bekanntesten deutschen Medien. Er schreibt hier unter Pseudonym.

Bild: iunewind/Shutterstock
Text: dw

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