Ein Gastbeitrag von Gregor Amelung
Seit dem 9. April 2018 ist Hanno Kautz Leiter Kommunikation im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und Pressesprecher von Jens Spahn (CDU). Zuvor war der damals 49-jährige Historiker seit 2007 für die Bild-Zeitung tätig. Drei seiner insgesamt elf Jahre beim Axel-Springer-Konzern hatte der »Westfale mit Hang zur Weltreise« (Bild über Kautz) als Korrespondent in China verbracht. Davor war Kautz als Parlamentskorrespondent im Hauptstadtbüro der »Ärzte Zeitung« tätig.
Das Bundesgesundheitsministerium »dirigiert die Presse«
Hanno Kautz ist also ein Medienprofi mit sehr viel Erfahrung. Und die nutzt er als Sprecher von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und »dirigiert die Presse«, so der Berliner Tagesspiegel. »Wer kritisiert, wird ausgeschlossen«.
Weiter schrieb der Tagesspiegel am 9. Mai 2021: »Seit Spahn« Kautz »auf den Posten holte, bündelt er die Medienkontakte bei sich. Wer von Kautz nicht begünstigt wird, hat es schwer, an aktuelle Informationen aus dem Ministerium zu gelangen.« Man gehört dann nämlich nicht zum exklusiven Pool derer, die vorab informiert werden. Teilweise in vertraulichen Gesprächen mit Regierungsvertretern, von denen die Öffentlichkeit auch deshalb nichts erfährt, weil das eben der Deal ist; der Informant und Zitatgeber aus der Regierung wird im späteren Artikeln namentlich nicht genannt. Mit der Veröffentlichung des exklusiven Materials ist dann »die öffentliche Aufmerksamkeit absorbiert«, so der Tagesspiegel weiter. »Wer sich später noch mit Kritik« in die Debatte einschaltet, wirkt ganz automatisch, »als habe er den Anschluss verpasst«.
»Bündeln«, »begünstigen«, »dirigieren«
Weitere Mittel, mit denen aus Spahns Ministerium heraus »dirigiert« wird, sind Antworten, die »oft nur Allgemeinplätze« enthalten, langes Warten auf Antworten oder auch die Nicht-Beantwortung von Anfragen, so der Tagesspiegel. Auf der Bundespressekonferenz bedient sich Hanno Kautz noch des Mittels der Unwahrheit, um die öffentliche Meinung zu lenken. So fertigte der Sprecher von Jens Spahn mit kaltschnäuziger Arroganz am 10. Februar 2021 eine Frage von Boris Reitschuster ab. Der Journalist hatte auf der Bundespressekonferenz Folgendes wissen wollen:
»Prof. Dr. Schichuchek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, war vor kurzem hier und hat die Zahl der Toten nach Impfungen mit 68 beziffert. Nun gab es in Berlin eine Anfrage des Abgeordneten [Marcel] Luthe [zum Zeitpunkt der Frage parteilos, heute Freie Wähler] an den Senat, und der Senat teilte mit, dass es in Berlin 31 Tote nach Impfungen gegeben hat. Ich sehe da eine Diskrepanz. Berlin stellt weniger als fünf Prozent der Bundesbevölkerung. Aber nach diesen Zahlen hätte Berlin 45 Prozent der Toten nach Impfungen. Ist Ihnen bekannt, dass es in Berlin zu irgendwelchen besonderen Problemen kommt, also ein Hotspot ist, oder sind diese Zahlen inzwischen andere? Wie ist dieser Widerspruch aufzulösen? Danke.«
Kautz: »Ich kenne die Zahlen in Bezug auf Berlin, die Sie jetzt genannt haben, nicht. – Zum einen heißt der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts Cichutek. Zu Ihrer anderen Frage: Wenn Sie ›Tote nach Impfung‹ sagen, würde ich darauf verweisen wollen, dass das einen zeitlichen, aber keinen kausalen Bezug hat. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen. Die von Herrn Cichutek erwähnte Zahl 68 können Sie für bare Münze nehmen, denn das Paul-Ehrlich-Institut ist für die Surveillance [= Überwachung der Covid-19-Impfstoffe] verantwortlich.«
Reitschuster: »Sie haben also keine Erklärung für diese Diskrepanz der Zahlen?«
Kautz: »Ich habe gerade schon geantwortet.«
Reitschuster: »Nein, Sie haben es nicht beantwortet.«
Kautz: »Ich habe ja gesagt, dass ich die [Berliner] Zahl nicht kenne.«
Reitschuster: »Okay, danke.«
Kautz: »Bitte.«
»Nach« als kausale Präposition
Das war brillant. Absolut brillant von Medienprofi Hanno Kautz. Denn Reitschuster war mit seiner Berliner Zahl und der errechneten Diskrepanz zwischen Berlin und Deutschland genau auf der richtigen Spur gewesen. Und er hatte eindeutig auch danach gefragt, ob die bundesweiten Zahlen inzwischen andere seien? Also, ob sie noch aktuell wären. Trotzdem konnte Kautz davon ausgehen, dass niemandem die Kaltschnäuzigkeit seiner Antwort auffallen würde.
Dafür hatte der Medienprofi genug Nebengeräusche in seine Antwort eingeflochten; dass Reitschuster den Namen des Präsidenten des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) falsch ausgesprochen hatte und dass die »Toten nach Impfung« einen »zeitlichen, aber keinen kausalen Bezug« hätten. Hier musste man schon semantischer Kümmelkacker sein, um zu bemerken, dass Kautz lediglich (Antwort-)Zeit verbrauchte, denn die von Reitschuster benutzte Präposition »nach« bezeichnet ja gerade eine zeitliche Abhängigkeit und keine kausale. Der Duden ist da eindeutig:
»nach… drückt aus, dass etwas dem genannten Zeitpunkt oder Vorgang [unmittelbar] folgt. Grammatik zeitlich. Beispiele… – nach Ablauf der Frist… – nach drei Wochen…«
Die Zahl können sie »für bare Münze« nehmen
Weniger wichtig als korrekter Gebrauch und Verständnis der Präposition »nach« war es dem Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums allerdings, den Journalisten Reitschuster darauf aufmerksam zu machen, dass er für die bundesweit gemeldeten Todesfälle die falsche Zahl benutzt hatte. Es waren nämlich nicht 68, wie Reitschuster in seiner Frage formulierte, sondern 69 Todesfälle, von denen PEI-Präsident Cichutek auf der Bundespressekonferenz am 29. Januar gesprochen hatte. Trotzdem nahm Kautz die 68 auf und erklärte in Richtung von Reitschuster: »Die von Herrn Cichutek erwähnte Zahl 68 können Sie für bare Münze nehmen.«
Darüber hinaus hatte Cichutek am 29. Januar noch von sogenannten »Zwischenberichten« gesprochen, die das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) veröffentlichen würde. Genau genommen heißen diese PDFs »Sicherheitsberichte« und sind auf der Website des PEI abrufbar.
113 sind nicht 69
Der 4. Sicherheitsbericht des PEI stammt vom 28. Januar, also vom Tag vor Cichuteks Auftritt auf der Bundespressekonferenz. Somit war er zum Zeitpunkt der Frage von Boris Reitschuster am 10. Februar bereits zwölf Tage alt. Dazu kamen weitere vier Tage, weil der 4. Sicherheitsbericht über gemeldete Verdachtsfälle auf Impfnebenwirkungen nur bis zum 24. Januar 2021 berichtete. Summa summarum waren die Daten des 4. Sicherheitsbericht zum Zeitpunkt von Reitschusters Frage also 16 Tage alt. Und in diesen 16 Tagen waren knapp 2 Millionen Impfungen hinzugekommen, so das Impfdashboard.de des Portals »Zusammen gegen Corona« von Hanno Kautz’ Arbeitgeber, dem BMG.
Insofern hätte Kautz am 10. Februar schon alleine wissen können, dass die Zahl 69 (bzw. 68) nicht mehr aktuell sein konnte. Trotzdem bezog er sich auf die 69 (bzw. 68), so als sei die von Reitschuster festgestellte Diskrepanz zwischen 31 Todesfällen in Berlin und 69 (bzw. 68) bundesweit einzig die Angelegenheit des Journalisten und seiner Rechenkünste.
Kalkulierte Irreführung der Öffentlichkeit
Hier könnte man Spahns Pressesprecher nun zugutehalten, dass es nicht seine ureigene Aufgabe ist, Journalisten auf der richtigen Fährte zu halten oder sie dorthin zu »dirigieren«. Allerdings hatte das Paul-Ehrlich-Institut bereits am 4. Februar, also sechs Tage vor Reitschusters Frage an Kautz, seinen neuen 5. Sicherheitsbericht ins Netz gestellt. Darin heißt es für die bis zum 31. Januar erfassten Verdachtsfälle auf Impfnebenwirkungen: »Dem Paul-Ehrlich-Institut wurden 113 Todesfälle bei Geimpften… gemeldet.«
Und 113 sind nicht 69. Auch nicht 68. In keiner Münzerei dieser Welt!
Mehr als 200 Todesfälle bundesweit zum Fragezeitpunkt
Nun anzunehmen, dass der Leiter Kommunikation im Bundesministerium für Gesundheit, dem das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) samt seiner Berichte als Behörde untergeordnet ist, nichts von der Existenz des 5. Sicherungsberichts gewusst hat und nur noch Cichuteks 69 aus der Bundespressekonferenz vom 29. Januar diffus als 68 im Kopf hatte, ist nahezu ausgeschlossen.
So sträflich uninformiert kann ein Medienprofi wie Hanno Kautz während der größten Impfkampagne, die Deutschland je gesehen hat, einfach nicht gewesen sein. Folglich muss man annehmen, dass ihm der 5. Sicherheitsbericht bekannt gewesen ist. Und damit wäre die einzig richtige Antwort auf die Frage von Boris Reitschuster die Zahl 113 gewesen. Und zwar zwingend mit dem Zusatz: »bis zum 31. Januar dem PEI gemeldet«. Denn bis zum Fragezeitpunkt am 10. Februar waren es sehr wahrscheinlich bereits über 200 Todesfälle, denn der 6. Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts, der am 18. Februar veröffentlicht wurde, gab bis zum 12. Februar 2021 »223 Todesfälle bei Geimpften« an. Was rein rechnerisch 204,6 bis zum Zeitpunkt von Reitschusters Frage ergibt.
Und damit zurück zu Reitschusters Frage: Für das Land Berlin hatte der Senat auf Anfrage 31 Tote nach Impfungen angegeben. Nach Reitschusters Rechnung stellt Berlin aber »weniger als fünf Prozent der Bundesbevölkerung«. Woher also die »Diskrepanz« zu den bundesweiten Zahlen (68 bzw. 69)? – Der Journalist hatte den Dosenöffner also völlig korrekt angesetzt. Und wäre bei einer wahrheitsgemäßen Antwort auf seine Frage bei 113 Toten bundesweit bis zum 31. Januar 2021 gelandet oder bei einer wahrheitsgemäßen Nachreichung durch das BMG bei 223 Todesfällen bis zum 12. Februar. Die Berliner 31 durch 223 bundesweiten hätte zwar immer noch überproportional viele Todesfälle in Berlin bedeutet (rund 14 Prozent aller Fälle), die von Reitschuster richtig diagnostizierte »Diskrepanz« in den Zahlen hätte sich allerdings erklärt und damit aufgelöst. Und eben so etwas – also wahrheitsgemäß antworten, auf- und erklären – ist eben auch die Aufgabe eines Pressesprechers des Bundesgesundheitsministeriums.
Die am 10. Februar zumindest laut PEI offiziell gültige Zahl von »113« auf die Frage des Journalisten hin nicht zu nennen, sondern sich mit der angeblich kausalen Bedeutung der Präposition »nach« zu beschäftigen, um (Antwort-)Zeit zu schinden, ist weder geschickt noch elegant. Es ist arrogant. Kaltschnäuzig der Presse gegenüber und eine bewusste Irreführung der Öffentlichkeit, der Hanno Kautz so mindestens 45 Todesfälle (113 minus 68) unterschlagen hatte. Rein rechnerisch umfasste seine Unterschlagung am 10. Februar noch deutlich mehr, nämlich 136,6 Todesfälle.
Liar. Liar, pants on fire
Nach den Maßstäben des in den USA recht beliebten und bei den deutschen Qualitätsmedien geschätzten Faktencheck-Portals Politifact.com standen damit die Hosen von Hanno Kautz in Flammen, denn dort bekommt eine derart haarsträubende Falschaussage die Wertung »pants on fire / Hosen in Flammen«. Frei nach dem Kinderreim »Liar. Liar, pants on fire / Lügner, Lügner, Hosen in Flammen«.
Lesen Sie im 2. Teil mehr über die nächste Hose. Sie ging am 7. Juni in Flammen auf.
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Da es sich hier um einen Bericht über die Bundespressekonferenz handelt, deren Mitglied ich bin, möchte ich explizit betonen, dass ich mir die Inhalte nicht zu eigen mache. Ich will und kann meinen Autoren aber auch nicht verwehren, ihre eigene Meinung zu diesem Thema kund zu tun.
Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Boris Reitschuster / Screenshot/Youtube/Phoenix
Text: Gast
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