Es waren bleibende Erinnerungen, sie sind bis heute lebendig: Bei einem Jugendaustausch mit der Sowjetunion kamen die neuen Freunde aus dem Osten 1988 nach Deutschland. Was sie da sahen, verschlug ihnen die Sprache. Die vollen Supermärkte, das pralle Leben. Zuerst wollten sie es nicht glauben: Dann sah man ihnen an, dass sie niedergeschlagen waren. Und für uns war es schwer zu verstehen, wenn sie erzählten, was ihnen zu Hause alles fehlt. Manche gaben offen zu, dass sie neidisch waren, fast allen war es anzumerken. Je näher der Tag ihrer Rückreise kam, umso schwermütiger wurden manche. Jahre später sagte mir einer ganz offen: „Wir haben erst in Deutschland gemerkt, wie dreckig es uns zu Hause geht.“ Einer der Betreuer von damals, ein Lehrer, brachte sich später um: Er ließ in seiner Garage den Wagen laufen.
An all das musste ich denken, als ich heute in Moskau zum ersten Mal nach fast sieben Monaten wieder in einem Schwimmbad war. Schwimmen gehört für mich zum Leben, ich schwimme normalerweise täglich, es ist Meditation, Sport und Ideenfabrik in einem. Ich genoss jede Minute. Erst hier im Wasser spürte ich so richtig, wie mein Rücken eingerostet ist in den letzten Monaten. Jeder Armzug hatte etwas Kostbares, während es für die Russen Alltag ist. Zumindest fühlte sich das für mich so an. Sie kamen nur mal kurz rein zum Plätschern: Was für ein verschwenderischer Umgang mit solch einem Luxus wie einem Schwimmbad.
Danach spürte ich meinen Körper wieder ganz anders. So, wie ich ihn früher gespürt – und es vergessen habe. Dann die Sauna. Zum ersten Mal seit sieben Monaten. Erst drinnen spürte ich, wie sehr sie mir gefehlt hatte. Wie gut sie mir tut. Ein Russe war die ganze Zeit im Schwitzraum mit dem Smartphone zu Gange. „Wie kann man mit so kostbarer Zeit so verschwenderisch umgehen“, dachte ich mir. Ich spürte, dass mein Bauch zu rund geworden ist. Ich hätte es nicht so weit kommen lassen und die Notbremse gezogen, wenn vorher nicht der Bezug zum eigenen Körper durch fehlende Sport- und Sauna-Pausen eingeschränkt gewesen wäre. Und die Pfunde sind ja auch eine Folge des kalten Sportentzugs.
Ich hatte es ganz vergessen, dieses Gefühl nach dem Sport und der Sauna. Diese Endorphine. Diese wohlige, entspannte Müdigkeit im ganzen Körper. Und ich habe mich ertappt, wie ich die Russen im Schwimmbad und in der Sauna ein wenig so betrachtete, wie wohl die sowjetischen Austausch-Jugendlichen damals uns. Ich dachte mir: Die ahnen gar nicht, wie gut es ihnen geht. Die können sich gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn einem das alles fehlt.
Dabei ist mir völlig bewusst: Worüber ich klage, das sind Kinkerlitzchen im Vergleich mit dem, wie andere Menschen die Situation trifft. Die um ihre Existenz kämpfen, die täglich stundenlang FFP2-Masken tragen müssen, in der Schule und auf der Arbeit, die auf Operationen warten müssen oder in den jahrelang vernachlässigten Intensivstationen im Dauerstress sind. Ich will deshalb nicht klagen, sondern nur meine Gefühle und mein Erleben schildern.
Am erschreckendsten ist für mich, wie viele Menschen in Deutschland alles so hinnehmen, als sei es gottgegeben. Und sogar Zweifel und kritische Nachfragen für Ketzerei halten. In Medienartikeln fällt sogar schon mal das Wort „Volksfeinde“ für diejenigen, die nicht stramm auf Corona-Linie sind.
Diesmal habe ich ein mulmiges Gefühl im Bauch vor der Rückreise – nach Deutschland. Nicht nur, weil ich bei der Ausreise aufgehalten wurde von der Grenzpolizei, aber dazu später mehr. Auch, weil ich hier in Moskau, im normalen Leben, verstanden habe: Ich will nicht so leben, wie ich in Deutschland im Moment leben muss. Ich habe mich viel zu sehr an die Unfreiheit gewöhnt. Ich will nicht, dass die Minister, Abgeordneten und Beamten für mich entscheiden, wie ich lebe. Ob ich einkaufen gehen kann und zum Friseur, ob ich Sport machen kann, ob ich nachts auf die Straße darf.
Damals sagte die sowjetische Propaganda den Untertanen, die ganzen Entsagungen seien nötig für ein hehres Ziel. Im Westen führe die Freiheit zu Exzessen, zu massiver, elender Armut, und davor schütze der Sozialismus. Verzicht des Einzelnen, damit es auch den Schwachen gut gehe. Heute erfolgt die Beschneidung der Freiheiten vor allem mit dem Argument, die Risikogruppen müssten geschützt werden. Obwohl die doch inzwischen eigentlich schon geimpft sind.
Nein, das ist keine Gleichsetzung (in Deutschland werden ja Vergleiche und Gleichsetzungen ständig verwechselt). Und es geht hier nicht um Russland mit all seinen Problemen und Defiziten. Auch in der Corona-Politik wird hier vieles falsch gemacht, vieles ließe sich verbessern. Zum Thema politische Freiheiten mehr unten im „PS“.
Aber hier geht es darum, wie leichtfertig, ja ohne es sonderlich zu bemerken, wir unsere Freiheit herschenken. Wie wir von freien Bürgern faktisch zu Untertanen wurden, deren intimste Lebensbereiche jetzt von der Politik bestimmt werden. In der es eine Klassengesellschaft gibt – Geimpfte, Genesene und Ungeimpfte (wir berichteten). Mit Ein-Tages-Tickets in die „Kaste“ der Geimpften – für menschliche Freuden wie den Friseur- oder Schwimmbadbesuch. Vollkasko statt Leben.
Jeder kann für sich entscheiden, wie er damit umgeht.
Für mich ist klar. Ich will so nicht leben.
Früher hatte ich oft ein flaues Gefühl im Bauch, wenn ich aus Deutschland nach Russland flog.
Dieses Mal ist es umgekehrt.
PS: Auf dem Beitragsbild sehen Sie den Kreml, aus dem Taxi fotografiert, kurz nach 3 Uhr nachts auf dem Rückweg von der Polizeiwache ins Hotel.
PS: Schon meine Reportage über das Nachtleben erhielt böse Kommentare. Hier werden sie noch böser ausfallen. Das ist eine psychologisch sehr verständliche Reaktion: Wenn man Menschen, die ihre Freiheit abgeben, berichtet, dass anderswo andere diese Freiheiten nicht abgeben, ist das psychologisch sehr schwer zu ertragen und Aggression gegen den Überbringer der Nachricht ist eine logische Reaktion.
PS: So viel sich am russischen Modell kritisieren lässt – ich berichte über das, was ich sehe und fühle. Und mir persönlich ist sicher das schwedische Modell am nächsten, wo Freiheit mit viel mehr Vorsicht kombiniert wird. Aber ich bin nun mal aktuell nicht in Schweden, sondern in Russland.
PS: Aus gegebenem Anlass noch ein Nachwort:
Nein, das ist keine Reklame für das System Putin. Von meiner Kritik an ihm rücke ich keinen Deut ab. Es sind die Menschen in Russland, die einen anderen Weg gewählt haben. Mit der russischen Mentalität lässt sich ein strikter Lockdown im Jahr 2021 nicht durchziehen. Das weiß auch Putin. Nach 70 Jahren Totalitarismus haben die Menschen eine Abneigung gegen die Einmischung des Staates in ihren persönlichen Lebensbereich. Weit verbreiteter politischer Apathie steht eine tiefe individuelle Abneigung gegen alles entgegen, was vom Staat und von oben kommt.
In einem Kommentar auf Facebook schrieb mir nach der Nacht-Reportage jemand: „Merkt eigentlich keiner, was dieser Journalist mit seinen Beiträgen vorhat? Destabilisieren und Feuer legen. Es gibt Menschen (Journalisten), die behaupten die Demokratie zu verteidigen und beabsichtigen genau das Gegenteil. Ja ja, genau. In Russland ist ja alles so toll. Bleiben Sie am besten gleich drüben.“
Ich halte eine solche Reaktion für einen Schmerzensschrei. Offenbar ist es schwer zu ertragen, dass in Russland aktuell der Alltag der Menschen sehr viel freier ist als in Deutschland. Zu dem Thema schrieb eine Gastautorin hier kürzlich einen exzellenten Beitrag: „Deutschland und Russland – totalitäre Demokratie und freiheitliche Autokratie“. Bei so viel Differenzierung zwischen Politik und Alltag gehen leider heute schon viele nicht mehr mit. Aber die Welt ist nun mal kein Kindergeburtstag und manches ist widersprüchlich. In Russland kann man ins Gefängnis oder ums Leben kommen, wenn man Putin und seinem System gefährlich wird; wer sich dagegen politisch zurückhält oder – auch scharfe – Kritik an Putin im Privaten äußert, hat wenig zu fürchten und im Alltag große Freiheit – solange er nicht anderweitig in die Mühlen des Systems gerät. Dass so viele in Deutschland Putins Russland für eine Fortsetzung der Sowjetunion halten, ist absurd. Aber das hier auszuführen würde den Rahmen sprengen. Wer sich dafür interessiert, dem empfehle ich mein Buch „Putins Demokratur“.
Bild: Boris Reitschuster
Text: br
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