Gefahr durch Salsa Corona-Kontrast-Programm: Alltag in Kuba

Corona kann einen in den Wahnsinn treiben – als Journalist ebenso wie als Leser. Darum möchte ich Ihnen und mir heute ein Kontrastprogramm bieten. Eine Geschichte, die ich 2006 bei einem Kuba-Besuch (aus Moskau) schrieb – lassen Sie sich entführen in eine Corona-freie Welt der heißen Rhythmen (anhören können Sie sich diese hier):  

Dass heiße karibische Klänge nicht ungefährlich sind, wusste ich. Doch ich hatte mir die Gefahr ganz anders vorgestellt. Und wie sollte ich auch ahnen, dass die Folgen weit über weiche Knie hinausgehen – und einem noch nach Wochen den Atem rauben. Dabei hatte alles ganz harmlos und vor allem sehr leise angefangen.
Vielleicht war ich zu schlaftrunken, oder meine Finger waren zu taub nach 10-Stunden Legebatterie-Haltung im Flugzeug: Jedenfalls stellte ich meine Uhr falsch um. Statt die gewonnene Zeit vor dem stürmischen Leben in Havanna sinnvoll in Schlaf zu investieren, schlug ich die Warte-Stunden auf den Überlandbus in Varadero regelrecht tot: Im Internet, das auf Kuba in Zeitlupe arbeitet. Ein Brief ist wohl schneller aufs nächste Postamt gebracht, als vom Hotel-PC als e-Mail abgeschickt (wenn es im Postamt nicht die gleichen Wartezeiten gibt wie im Internet).

Dollar als Argumente

Als ich mich auf den Weg machte zu meinem Diesel-Ungetüm, zeigte die Dame an der Rezeption, bei der man sich weniger fühlte wie ein Kunde mit Bargeld im Hotel denn als Schüler ohne Hausaufgabe an der Tafel, triumphierend auf die Wanduhr: „Sie haben die Zeit falsch umgestellt, Ihr Bus fuhr vor einer Stunde.“ Letzter Hoffnungsschimmer in meiner Verzweiflung waren die Taxifahrer, die vor dem Hotel so taten, als ob sie auf Kunden warteten. Havanna war weit, und der Feierabend nahe, und so bedurfte es einiger Diskussion und Argumente in Form von Dollars, genauer gesagt konvertierbaren Pesos, bis sich die Wagentüre eines gewaltigen Landcruisers für mich öffnete. Ob es mich störe, wenn er das Radio anmacht, fragte mich die etwas Patina-behaftete Version von Freddy Mercury in braveren Zeiten, die sich da ans Lenkrad geklammert hatte. Ganz im Gegenteil, wollte ich nach meinem Kopfnicken noch sagen, doch die Worte wurden schon übertönt durch die ersten Salsa-Rhythmen. Er hat mit Freddy Mercury nicht nur den Schnurrbart und das Hochstrecken der Arme gemein (bei ihm allerdings zur Begrüßung entgegenkommender Taxifahrer): Er hat auch das musikalische Feuer, dachte ich mir, als er die Rhythmen aus dem Radio mitsang und mit pfiff.

Lenkrad als Musikinstrument

Dabei hatte ich wohl nicht bemerkt, dass zu diesem Zeitpunkt schon einem Erdbeben gleich eine musikalische Flutwelle im Anmarsch war: Zuerst schwangen die Beine im Takt mit, dann schaukelte das Gesäß rhythmisch nach rechts und links, vorne und hinten; auch Bauch und Brüste ließen sich eine Taktlänge später von den Klängen übermannen, und ehe ich mich versah, rollte die Welle weiter Richtung Hände: Das Lenkrad war mit einem Mal Musikinstrument. Genauer gesagt -zwei: Rassel (Hand hoch, Hand runter, rechts, links) und Trommel (Fingerschläge in einem Rhythmus, schneller als ich zählen kann.)

Es war mein erster Tag in Kuba, das muss ich zu meiner Entschuldigung vorherschicken. Wenn er nicht zu sehr in Bewegung gewesen wäre, um zu mir herüberzusehen, wäre mein Salsa-King bei meinem Anblick sicher genauso bleich geworden, wie ich es wohl schon war. Ich vergewisserte mich ängstlich, dass mein Gurt sitzt, und blickte besorgt auf die Straße: „Gott bewahre uns oder schicke dem Radio einen Kurzschluss!“ Doch obwohl am Steuerknüppel alles in Bewegung war, hielt dieses Ein-Mann-Tanzorchester auf dem Fahrersitz trotz des Salsa-Feuerwerks hartnäckig und ruhig die Spur. 

Fassungslos und wohl mit offenem Mund bestaunte ich dieses Taktwunder auf Rädern. Irgendwo auf halber Strecke zwischen Varadero und Havanna, zwischen der azurblauen Karibik und den fahlgrünen Hügel des Hinterlandes, kam ich an auf Kuba – und verstand: Erst mit der Musik war dieses ungleiche Gespann aus japanischer Technik und kubanischem Temperament im Gleichklang – und richtig fahrtauglich. Gefahr hätte mir auf dem Beifahrersitz wohl nur ohne Musik gedroht. Als die ersten Plattenbauten in den Fenstern Havanna ankündigten, wippten meine Füße und meine Arme schon mit im Takt.

Panik ohne Musik

Sieben Tage und eine Ewigkeit von Salsas, Rumbas und Tangos später, auf dem Rückweg zum Flughafen, geriet ich fast in Panik, als der Fahrer nicht gleich das Radio anstellte. Zwei Stunden ohne Musik? Er erlöste mich. Zuhause in Moskau spürte ich sofort, dass mir etwas fehlt. Es war wie im Kino bei einem Musikfilm – ohne Ton. Da, endlich, ein Plattenladen, laute Musik, die auf die Straße klang. Doch keiner fing an zu tanzen, alle gingen weiter. Der weiße Schnee auf der Straße holte mich zurück in die eiskalte russische Realität.

In meiner Not flüchtete ich in die Aruba-Bar, 50 Quadratmeter Kuba am Moskauer Taganka-Platz. Dachte ich. Umsonst. Ich kämpfte fast mit den Tränen, als mir die russische Bar-Dame den Cuba Libre brachte, wo ich ihn doch gerade mal vor fünf Minuten bestellt habe. Ich brauchte gar nicht zu nippen – es konnte allenfalls ein fahler Abgeschmack sein, aber kein Longdrink. Denn was sich wirklich hinter diesem Wort verbirgt, habe ich in Havanna erfahren. Im Casa de la Musica. Ein Tempel der Musik mitten im Villenviertel. Oh! Schon wenn ich den Namen schreibe, kommt wieder Bewegung in meinen fast erfrorenen Körper! 

Longdrink mit Choreographie

Dabei hatte ich mich die ersten zehn Minuten noch aufgeregt, als keine Spur von meinem Pina Colada auszumachen war; mürrisch starrte ich zur Bar. Dann entdeckte ich die atemberaubenden Kombinationen, die sich ergeben aus der kubanischen Mode (Miniröcke überall) und dem angeborenen Tanz-Gen (Unfähigkeit, bei Musik ruhig auf seiner Sitzfläche sitzen zu bleiben). Nach zwanzig Minuten schien es mir die natürlichste Sache der Welt, dass der Barmann mehr tanzte als ausschenkte. Die Longdrinks dauerten so lange, weil jeder ein Kunststück der Choreographie war. Die Flaschen Rasseln, die Löffel Schlägel, die Bar eine Blechtrommel. Daneben schwang die Kellnerin ihre Tabletts. Sie tanzten sich immer näher. Dann nahm er sie in ihre Arme. Die Grenzen zwischen ihnen verwischten; wie schwerelos schwebten sie über das Parkett. Da waren nur noch die beiden, die Leidenschaft, und diese Musik. Und ein Wunsch von mir, ein einziger: Dass sie nicht an meinen Longdrink denken und ohne Ende weitertanzen.

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Bild: Shutterstock
Text: br

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