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Nirgends steht in einer Verfassung geschrieben, dass in einer Koalition die Partei mit den meisten Stimmen auch den Regierungschef stellen muss. In Deutschland gilt dieses Prinzip jedoch als heilig. Warum auch immer. Besonders brisant wird das, wenn in einem Bundesland wie Berlin der Unterschied zwischen den beiden „Spitzenreitern“ in einer möglichen Koalition – wenn man bei Wahlverlierern überhaupt von Spitzenreitern sprechen darf – bei sage und schreibe nur 105 Stimmen liegt.
Als ich am Wahlabend das „Kopf-an-Kopf-Rennen“ zwischen SPD und Grünen um den möglicherweise zweiten Platz verfolgte, argwöhnte ich bereits, dass die Briefwahl bzw. deren Auszählungen am späten Abend Überraschungen bringen würde. Tatsächlich stellte sie die Hochrechnungen auf den Kopf – bei denen lagen den ganzen Abend noch entweder die Grünen vorne oder sie waren gleichauf. Die Briefwahl drehte es für die SPD.
Und jetzt das: Auch bei der Wahlwiederholung, die wegen der Pannen bei der Wahl im September 2021 notwendig geworden war, kam es wieder zu Pannen. Und das Wahlergebnis könnte sich noch einmal ändern. Selbst die Positionen von Grünen und SPD könnten sich noch tauschen. Mit einer dann ganz anderen politischen Konstellation für eine neue rot-rot-grüne Koalition. Wie der „Spiegel“ aus Berliner Verwaltungskreisen erfahren hat, wurden in Folge eines „internen Fehlers“ Briefwahlstimmen nicht gezählt, obwohl sie fristgemäß vor der Wahl eingesendet wurden. Das Thema sei sensibel, hieß es am Dienstag dem Bericht zufolge.
Landeswahlleiter Stephan Bröchler sagte, der Vorgang werde „intern geklärt“. Die Stimmen sollen nun nachträglich „ausgezählt und im endgültigen Wahlergebnis berücksichtigt“ werden: Offenbar sind die Geisterstimmen aus dem Bezirk Lichtenberg. Es soll sich um 450 Stimmzettel handeln, die „durch ein Logistikproblem“ liegen geblieben seien. Die Post habe sie den Behörden nicht rechtzeitig zugestellt.
Die Zukunft der Stadt liegt jetzt in der Hand von 450 „Geisterstimmen“. Sollte die SPD den zweiten Platz an die Grünen verlieren, hätte Bettina Jarasch von den Grünen, die ich noch aus gemeinsamen Augsburger Schulzeiten kenne, gute Chancen, Regierungschefin zu werden. Umgekehrt wären aber auch die Chancen größer, dass die SPD in eine Koalition mit der CDU geht – denn Juniorpartner unter den Grünen wäre für die Sozialdemokraten eine dicke Kröte zum Schlucken.
Die Realität holt die Satire ein. Als junger Journalist schrieb ich nach der Abwahl eines ungeliebten Bürgermeisters 1996 in der Augsburger Allgemeinen für eine Faschingsausgabe einen Satire-Beitrag, dass der Ortsvorsteher nach der Wahlniederlage noch im Rathauskeller ein paar hundert Stimmzettel gefunden habe und jetzt wieder alles offen sei.
Berlin hat meinen Faschingsscherz von damals eingeholt.
Die große Frage: Sind die heutigen „Geisterstimmen“ wirklich die letzten?
Ob diese Frage Satire ist oder nicht, weiß ich selbst nicht.
Leser Hans Kabath schrieb folgenden Kommentar: „Ich habe jahrelang in einem Berliner Bezirkswahlamt gearbeitet. Diese sind in den Bezirken für die Durchführung der Wahlen zuständig. Achtung! Jetzt: Angeblich wurden gerade von der Post rund 450 Briefwahlumschläge nachträglich an die zuständigen Bezirkswahlämter zur Auszählung geschickt. Das ist aber nicht zulässig! Alle Briefwahlunterlagen müssen an dem jeweiligen Wahlsonntag bis 18.00 Uhr eingetroffen sein. Spätere Posteingänge wie Tage nach der Wahl dürfen nicht mehr berücksichtigt werden! Derartige spätere Posteingänge, die bei jeder Wahl vorkommen, werden ohne geöffnet zu werden vernichtet. Es wird auch keine Statistik über die Anzahl geführt! Denn eine verspätete Beförderung ist, gesetzlich geregelt, das Risiko nur des Wählers!
Es ist schon unheimlich was in diesem Land passiert.“
Offenbar lag das Problem aber nicht bei der Post – sondern die Briefwahlunterlagen wurden amtsintern „verschlampt“.
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