Gerechtigkeit à la Linke: Bußgelder behalten, Ideologie bewahren? Wie die Linke und Thüringens neue Koalition den Begriff von Fairness neu definieren

Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger

Schon immer pflegte man in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED, ein besonders starkes Gerechtigkeitsempfinden. Selbstverständlich war es nur gerecht, dass kein Bürger der DDR sein Land verlassen und betreten konnte, wie es ihm in den Sinn kam, denn das galt ja für alle und eine höhere Gerechtigkeit als die allgemeine Gleichheit ist für Sozialisten nicht vorstellbar – sofern man von den bevorzugten Kadern absieht, denen auch das Reisen möglich war, doch auch das war nur gerecht, denn warum sollte man verdienten Dienern des Sozialismus ihren Lohn vorenthalten? Somit war es auch ein Ausfluss der Gerechtigkeit, uneinsichtige Republikflüchtige zu erschießen, schließlich hatten sie gegen eine durch und durch gerechte Regelung verstoßen. Niemand konnte das sozialistische Streben nach Gerechtigkeit besser zum Ausdruck bringen als der legendäre Erich Mielke, der 1982 meinte: „Das ganze Geschwafel von wegen nicht Hinrichtung und nicht Todesurteil – alles Käse, Genossen.“ Und: „Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil.“

Man sieht es sofort: Sozialistische Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit vom Feinsten und auch nach dem Untergang der DDR seligen Angedenkens lassen sich schöne Beispiele dafür finden. Wer erinnert sich nicht voller Freude an eine Parteikonferenz der Partei „Die Linke“, die sich früher einmal als SED bezeichnet hatte, im Jahre 2020, in deren Verlauf Sätze fielen wie: „Und auch wenn wir das eine Prozent der Reichen erschossen haben, ist es immer noch so, dass wir heizen wollen, wir wollen uns fortbewegen“! Das hätte man noch als verirrte Einzelmeinung abtun können, aber die Antwort des damaligen Parteichefs Riexinger lautete: „Ich wollt‘ noch sagen, wir erschießen sie nicht, wir setzen sie schon für nützliche Arbeit ein.“ Von den Delegierten wurde er für diese Abschwächung einer Hinrichtung zu staatlich verordneter Zwangsarbeit mit Beifall und freundlichem Lachen bedacht. So sieht bei der SED Gerechtigkeit für sogenannte Reiche aus.

Nun hat sich die Partei wieder einmal zur Gerechtigkeit geäußert. Anlass war ein Vorhaben der neuen Koalition in Thüringen, in der sich die unheilvolle Allianz aus CDU, BSW und SPD vereint hat, um das zusammenwachsen zu lassen, was noch nie zusammengehörte. Ziel dieser Koalition ist es, die Übelsten der Üblen, die Teuflischsten der Teufel von den Trögen der Macht fernzuhalten und Mario Voigt – den Kandidaten, den man nie vergessen kann, weil man von Anfang an nicht auf die Idee käme, ihn sich überhaupt zu merken – zum Darsteller der Ministerpräsidentenrolle zu ernennen. Dass dabei auch noch dies und das für das BSW herausspringt, nimmt man in der CDU gerne in Kauf. Und dass man nicht einmal mit diesem Dreierbündnis eine absolute Mehrheit zustande bringt, ist nicht weiter schlimm: Schließlich gibt es ja noch die Linke, also die SED, und die wird schon zur rechten Zeit die nötigen Stimmen zur Verfügung stellen.

Wie man einer dpa-Meldung entnehmen kann, hat die neue Koalition des Grauens vor, „einen Schlussstrich unter noch anhängige Corona-Bußgeldverfahren zu ziehen.“ Im Koalitionsvertrag heißt es: „Noch offene oder noch anhängige Bußgeldverfahren sollen nicht weiterverfolgt beziehungsweise deren Einstellung angeregt werden.“ Auf das Vorhaben an sich werde ich gleich noch zurückkommen, für den Moment darf ich aber einen Blick auf die Reaktion der SED werfen. Ihre allseits bekannte und beliebte Thüringer Vorsitzende Ulrike Grosse-Röthig sagte in aller Deutlichkeit, man werde dieses Vorhaben sicher nicht unterstützen, den – so die dpa – dies sei „im höchsten Maße ungerecht gegenüber allen Menschen, die sich während der Pandemie an die geltenden Schutzmaßnahmen gehalten hätten, um etwa alte und kranke Menschen vor einer Ansteckung zu bewahren.“ Und die große Vorsitzende gab zur Kenntnis: „Das entspricht nicht unserem Verständnis von Gerechtigkeit.“

Ihr Glaube an die Wirksamkeit und Wichtigkeit der angeblichen Schutzmaßnahmen hat schon etwas Rührendes an sich. Die Frage drängt sich auf, wo sie eigentlich die letzten Jahre gewesen ist und warum sie offenbar noch nie etwas über die Schädlichkeit dieser Maßnahmen – von Maskenpflichten über Lockdowns bis hin zu massivem Druck auf Ungeimpfte – erfahren hat. Denn nur mit völliger Unkenntnis kann man diesen Gerechtigkeitsbegriff erklären. In der Zeit der seltsamen PCR-Pandemie hat man die Menschen mit sinnlosen und übergriffigen Maßnahmen gequält, man hat ihnen die Grundrechte genommen, man hat sie eingesperrt und in übler Weise diskriminiert und diffamiert. Ich kann es auch kürzer sagen: Es war eine Zeit massiver Ungerechtigkeit und wer sich gegen diese Ungerechtigkeit zur Wehr setzte, wurde vom Staat verfolgt, unter anderem durch das Ansetzen von Bußgeldverfahren. Nach Ansicht der SED wäre es nun eine schlimme Ungerechtigkeit, noch offene Bußgeldverfahren dem Weg allen Aktenmülls zu überantworten, weil sich andere Leute während dieser Zeit an den staatlich verordneten Irrsinn gehalten haben.

Gehen wir in Gedanken einmal zurück in die Jahre ab 1989. Bis zu diesem Jahr gab es in der DDR viele, sehr viele, die sich brav an die Regeln des sozialistischen Staates gehalten haben, um dem Sozialismus zum Sieg zu verhelfen, oder auch nur, um in Ruhe gelassen zu werden. Und es gab die anderen, die konterrevolutionären Aufwiegler, die man verfolgt und mit Strafverfahren überzogen hat. Sicher gab es nach dem Mauerfall noch immer offene Fälle von staatsfeindlicher Hetze, deren Urheber mancher gerne noch weiter geplagt hätte. Folgt man den Denkwegen der findigen Vorsitzenden, so wäre das auch nur gerecht gewesen, weil sonst die stets willfährigen Sozialisten ungerecht behandelt würden; im Hinblick auf offene Verfahren wegen der längst verflossenen vorgeblichen Schutzmaßnahmen argumentiert sie genauso.

Man kann sich in der Vergangenheit auch noch ein wenig weiter zurückbewegen. Will jemand annehmen, zum Ende des Nazireiches seien alle einschlägigen Verfahren – beispielsweise wegen angeblicher Rassenschande, Wehrkraftzersetzung oder Defätismus – an ihr seliges juristisches Ende gelangt? Ohne Zweifel war noch einiges nicht erledigt. Und natürlich hatte sich die große Mehrheit der Bevölkerung immer an die Nazi-Regeln gehalten, schließlich wollte man den Endsieg nicht gefährden. Wie muss Grosse-Röthig diesen Umstand bewerten? Nach ihrer Denkweise hätte man die alten Verfahren weiterführen müssen, um keine Ungerechtigkeit gegenüber den Immertreuen aufkommen zu lassen, denn alles andere entspräche nicht dem Parteiverständnis von Gerechtigkeit.

So funktioniert sozialistische Gerechtigkeit und so muss sie funktionieren. Systemtreue, Mitläufer, Mittäter werden geschützt und unterstützt, Abweichler, Dissidenten, Kritiker sind zu verfolgen und zu bestrafen. Ob nationale Sozialisten, internationale Sozialisten oder Neo-Sozialisten – die Methoden ändern sich nicht.

Doch die christdemokratisch-wagenknechtisch-sozialdemokratische Gerechtigkeit ist nicht viel besser. Offene Verfahren wollen sie schließen, immerhin. Und was ist mit den abgeschlossenen? Wenn man begonnene Verfahren nicht zu Ende bringen will, sollte man auch zugeben, dass die abgeschlossenen Verfahren nichts weiter als Schikane waren, eingeleitet, um die Kritiker zum Schweigen zu bringen und sie von Protesten abzuhalten. Was läge näher, als die Betroffenen zu entschädigen, sodass wenigstens die materielle Belastung ausgeglichen wird? Aber dafür müsste man ja Geld ausgeben, das sich bereits in der Staatskasse befindet oder vielleicht auch nicht mehr, weil es schon lange für politische Tagträumereien ausgegeben wurde. Anderenorts wurde das gemacht, Slowenien und die Slowakei sind Vorbilder. Doch so etwas mögen deutsche Politiker nicht. Um die Thüringer Parteivorsitzende noch ein letztes Mal näherungsweise zu zitieren: Das entspricht nicht meiner Vorstellung von Gerechtigkeit.

In einem seiner Kriminalromane lässt Rex Stout seinen schwergewichtigen Detektiv Nero Wolfe verkünden, nur wenige seien weise genug, um gerecht zu sein. Das stimmt, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Gerade in der politischen Klasse gilt: Nur wenige sind redlich genug, um gerecht zu sein.

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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

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