Gestern „Hetzjagden“, heute „Reichstags-Sturm“ Mobilisierung mit Mythen

Bisher habe ich mich immer hartnäckig gegen den Begriff Lügenpresse gewehrt. Lückenpresse? Ja. Lügenpresse? Nein. Auch wenn das Wort nicht aus der Nazi-Zeit stammt, wie so oft behauptet wird, sondern bereits 1835 verwendet und von den Nazis dann aufgegriffen wurde. Mir war es zu hart.

Ich will den Begriff auch weiter nicht verwenden. Doch es fällt mir immer schwerer, diese Ablehnung zu begründen. Insbesondere nach diesem Wochenende. Ich wurde Zeuge einer friedlichen Demonstration, bei der in marginalem Umfang auch Extremisten mit dabei waren. Wie das bei großen Demonstrationen kaum zu vermeiden ist und auch bei den Anti-Rassismus-Demos der Fall war, ohne dass sich Medien und Politik darüber echauffiert hatten. Dabei soll man hier wie da auch über diesen Aspekt berichten, und zwar kritisch. Aber es ist grob irreführend, wenn man die Berichterstattung über eine solche Veranstaltung genau darauf reduziert. Oder sogar die Verhältnisse ins Gegenteil verkehrt. Und genau das ist am Wochenende in den meisten Medien geschehen. Zumindest wurde so „geframed“, dass bei einer Mehrzahl der Zuschauer und Leser dieser Eindruck hängen blieb.

Es war eine dumme Aktion von ein paar hundert Randalierern, die Reichstagsstufen hinauf zu gehen; die meisten von ihnen machten dort Selfie-Fotos mit dem Rücken zum Gebäude. Einige versuchten, in das Gebäude zu gelangen. Erstaunlicherweise waren nur wenige Polizisten anwesend. Die standen mutig und vorbildlich ihren Mann und konnten den Versuch stoppen. Gewalt war dabei nicht sichtbar.

Diese Ereignisse wurden zum „Sturm auf den Reichstag“ aufgeblasen. Bei vielen Menschen wurde der Eindruck erweckt, es habe ein halber Putschversuch stattgefunden. Das erinnert unvermittelt an die angeblichen „Hetzjagden“ in Chemnitz, die es laut Landesregierung, Verfassungsschutz und Regionalzeitung gar nicht gab. Das Video vom angeblichen „Reichstags-Sturm durch Reichsbürger“ wurde vom gleichen linksextremen Twitter-Account veröffentlicht wie damals das Chemnitz-Video: Antifa Zeckenbiss. Ich rate sehr dazu, es anzusehen und sich selbst ein Bild zu machen, inwieweit der Begriff „Sturm“ des Reichstags zutreffend ist oder übertrieben und inwieweit es sich nur um „Reichsbürger“ handelt.

Ebenso wie bei den „Hetzjagden“ wird auch beim „Reichstags-Sturm“ die mangelnde Faktenbasis der Behauptung durch eine sofortige Verketzerung derjenigen kompensiert, die sie auch nur hinterfragen oder gar anzweifeln. Eine korrekte Berichterstattung hätte etwa folgenden Tenor haben können: „Chaoten stürmen Reichstags-Treppen, einige versuchen, ins Gebäude einzudringen, mutige Polizisten verhindern das.“ Dies wäre schlimm genug. Doch es wäre korrekt, statt zu übertreiben, und klänge völlig anders als ein „Sturm“. Auch in Chemnitz wäre wohl „aggressive Stimmung gegenüber Ausländern“ (sofern sie nachweisbar war) korrekt gewesen statt nicht belegbarer „Hetzjagden“.

Dass nun ein FPD-Politiker sofort forderte, die Beamten mit dem Bundesverdienstkreuz auszuzeichnen, und die „Bild“ sie als „Helden-Polizisten“ tituliert, wirkt – bei allem Respekt vor den Polizisten und ihrem beherzten Einsatz – wie ein Stück aus dem Tollhaus. Oder aus der sozialistischen Propaganda-Welt. Interessant auch der Kontrast der Medien-Darstellung der Ereignisse am Reichstag zum Umgang mit den Randalen etwa in Stuttgart oder Frankfurt, wo man verharmlosend von „Partyszenen“ sprach.

Die Szene am Reichstag wurde in den Medien so dargestellt, als habe es sich bei der Menge um Teilnehmer der Anti-Corona-Demo gehandelt. Bild schreibt dazu in der Überschrift: „Verstörende Szenen bei Corona-Demo“. Das ist grob irreführend. Dem Anschein nach waren es offenbar weniger Teilnehmer der Demo von „Querdenken 711“, die im Alltagsgebrauch als „Corona-Demo“ bezeichnet wird, sondern einer anderen Versammlung, offenbar aus dem so genannten Reichsbürgermilieu, direkt vor dem Parlament, und möglicherweise zum Teil Touristen, laut Video jedenfalls ein bunt zusammengewürfelter Haufen.

In Zeiten, in denen noch nicht alles mit Smartphone gefilmt wurde, wäre diese Szene an einem ereignisreichen Tag wie diesem Samstag möglicherweise nur eine Randnotiz in einem Polizeibericht gewesen, wenn überhaupt. Der Tagesspiegel schreibt: „Drei Polizisten verhindern Sturm in den Reichstag – Politik reagiert bestürzt.“ Bemerken die Kollegen gar nicht, wie absurd ihre Zeilen sind? Hätte es sich um einen „Sturm“ gehandelt, hätten ihn drei Polizisten nicht stoppen können, schon gar nicht ohne Verwendung ihrer Dienstwaffe.

Warum die Versammlung, von der die Aktion ausging, trotz Bannmeile in unmittelbarer Nähe des Bundestags stattfinden durfte, ist mir ein Rätsel. Auf der Website des Innenministeriums heißt es eindeutig: „Das Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes (BefBezG) grenzt jeweils für den Deutschen Bundestag, den Bundesrat und das Bundesverfassungsgericht einen ,Befriedeten Bezirk´ ab, in dem Versammlungen unter freiem Himmel grundsätzlich verboten sind.“ Die Bannmeile hat ihre guten Gründe: genau solche Szenen zu verhindern. Und warum wurde sie von den Behörden ignoriert? Und warum findet man diese Frage kaum in den Medien?

Stattdessen wird mit der Geschichte vom „Reichtagssturm“ der friedliche Protest von unzähligen Menschen, die mit der Corona-Politik nicht einverstanden sind, diskreditiert und von deren Anliegen und einer sachlichen Diskussion darüber abgelenkt.

Der Höhepunkt des Lügens war für mich ein Bericht in der Bild (und sehr ähnlich in anderen Medien). Ich habe in der Nacht auf Sonntag erlebt, wie mit rabiater Polizeigewalt in meinen Augen eine friedliche Spontan-Demo von Menschen an der Siegessäule aufgelöst wurde, nachdem diese sich weigerten, den Platz zu verlassen. Dabei wurde auch ich als Pressevertreter von der Polizei attackiert und am Arbeiten gehindert. Dabei ist die Berliner Polizei bekannt dafür, bei Linksextremen, kriminellen Clans, Drogendealern und radikalen Antisemiten mit Migrationshintergrund bis zur Selbstverleugnung zu deeskalieren. (Sie können meine leider sehr lange Live-Übertragung von dem Geschehen hier ansehen. Wenn sie sich einen schnellen Überblick verschaffen wollen, hier mein Bericht, von dem aus sie die wichtigsten Stellen im Video aufrufen können).

Umso erstaunter war ich, als ich nun die Schlagzeile der „Bild“-Zeitung dazu sah – von der ich ebenso wenig einen Vertreter vor Ort sah, wie von irgendeinem der anderen großen Medien: „SITZBLOCKADE VON RADIKALEN NACH CORONA-DEMO IN BERLIN. Pöbel-Attacken gegen Polizisten“ Und weiter: „++Proteste gingen bis in die Nacht hinein ++ 38 000 Teilnehmer, 300 Verletzte ++ Krawalle vor russischer Botschaft ++ Steinwürfe, „Gefangenenbefreiungen“ ++“

Im Text heißt es: „Einige Radikale harrten bis in die Nacht aus!“ Aber wer ist radikal? Ich war da, kann aber nicht in die Köpfe von Menschen sehen. Die „Bild“ kann das offenbar, auch ohne da zu sein. Weiter schreibt das Blatt: „Gegen Mitternacht veranstalteten etwa 200 Chaoten eine Sitzblockade an der Berliner Siegessäule Richtung Hofjägerallee.“ Auch „Chaoten“ sind mir nicht aufgefallen. Vielleicht sah die „Bild“ aus der Ferne mehr.

Weiter heißt es: „Sie hakten einander unter, bepöbelten die Polizisten, wetterten gegen den Staat und die Corona-Maßnahmen.“ Als ich dort ankam und bevor die nach Ansicht der Veranstalter „grob rechtswidrige“ Auflösung durchgesetzt wurde, war nach meinen Beobachtungen alles friedlich. Auch auf dem Video ist das zu sehen.

Mit dem Begriff „Wettern gegen den Staat“ entlarvt sich die „Bild“. Wer Kritik an der Regierung so verächtlich macht, offenbart damit, dass er die Grundprinzipen von Demokratie nicht begriffen hat oder sie nicht erst nimmt.

Die Berichte der Medien über dieses Wochenende in Berlin lassen mich ratlos zurück. Die Radikalisierung, von der so viel gesprochen wird, hat auch die Redaktionen erfasst, und zwar massiv: Sie haben sich radikal von der Realität entfernt und scheinen sich ihre eigene zusammen zu basteln. Frei nach dem Motto von Hegel: Wenn die Tatsachen nicht mit der Ideologie übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen.

+++ Da ich aufgrund des Dauereinsatzes am Wochenende in Berlin diesen Artikel erst nach halb 5 Uhr morgens fertig schrieb, bitte ich Sie, großzügig über die Tippfehler hinwegzusehen: In meinen augenblicklichen übermüdeten Zustand würde ich sie auch bei einem weiteren, vierten Durchsehen wohl nicht mehr finden. Vielen Dank (vor allem auch für Korrekturhinweise) und auf ein Wiedersehen hier auf der Seite in ausgeschlafenerem Zustand! +++


Mein aktuelles Wochenbriefing:

Liebe Leserinnen und Leser,

es war ein aufwühlendes Demonstrations-Wochenende in Berlin. Mit vielen bewegenden, positiven Momenten. Und auch mit schrecklichen. Mit sehr vielen Gesprächen, die sehr wertvoll waren. Wie schon bei den Corona-Protesten am 1. August waren es auch diesmal ganz überwiegend Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die sich zum Demonstrieren trafen. Und an den drei Tagen wurde die gesamte Zerrissenheit unserer Gesellschaft deutlich, die tiefe Spaltung, die unser Land wie einen Graben durchzieht. Ebenso offensichtlich wurde das extreme Abrücken von einem Großteil unserer Medien vom journalistischen Ethos.

Für mich einer der schlimmsten Momente war die Auflösung einer Spontan-Versammlung an der Siegessäule in der Nacht auf Sonntag. Die Berliner Polizei ging mit unnötiger Härte und Gewalt gegen völlig friedliche Demonstranten vor, weil sie den Platz nicht verließen. Die anwesenden Polizisten aus Niedersachsen und Bayern griffen zwar ruppig und hart durch. Aber, so weit ich sah, nie brutal. Ganz anders die Beamten aus Berlin und Brandenburg. Die drückten schon mal einem Mann das Knie auf den Kopf, der auf dem Asphalt lag. Die Niedersächsischen Beamten schüttelten den Kopf über ihre Berliner Kollegen, die von einem Ex-SED-Mann geführt werden: Innensenator Geisel (SPD).

Am nächsten Tag las ich in der Bild einen Bericht, der genau das Gegenteil darstellte von dem, was ich in der Nacht mit eigenen Augen gesehen hatte. Da war von Radikalen und Chaoten die Rede, die eine Sitzblockade verkündet hätten. Dabei war gar niemand von der „Bild“ da. Es waren gar keine Journalisten von großen Medien vor Ort. Ein Kollege vom MDR machte sich dafür über meinen Livestream lustig. Verrückte Welt.
Zum Bericht in der Bild
Ich war müde und erschöpft, als ich in der gleichen Nacht fast heulen musste: Weit nach Mitternacht, als ein Großteil der Demo aufgelöst war, nahmen die Berliner Polizisten plötzlich ihre Helme ab, viele fingen an zu lächeln, einer verteilte Wasser an die Demonstranten. Die applaudierten den Beamten. Es waren bewegende Momente. Die leider nicht von Dauer waren. Am nächsten Tag wurden wieder Demonstranten sehr brutal behandelt, eine am Boden liegende Frau geschlagen.

Am Sonntag Abend rief mich mein Bekannter, Russlands früherer Vize-Regierungschef Alfred Koch an und fragte, ob es stimme, was ihm Freunde erzählten: In Berlin sei eine Erstürmung des Reichstags durch Nazis in letzter Sekunde verhindert worden. Genau so stellten das nicht nur viele deutsche Medien dar, sondern auch ausländische. Ich recherchierte und kam der Sache auf die Spur: Sie war eine Posse. Ohne dass ich den Tumult vor dem Reichstag verharmlosen will (im Gegenteil, ich verurteile ihn). Aber diese Randale zu einem „Sturm“ aufzublasen, ist einfach eine Manipulation. (Lesen Sie hier, wie es wirklich war).

Ich hatte am Samstag und Sonntag viele bewegende Treffen mit Lesern meiner Seite aus der ganzen Republik. Tollen Menschen, die mich beeindruckten. Viele von ihnen haben Angst, dass jemand erfährt, dass sie auf der Demo waren. Sie fürchten Anfeindungen bis hin zum Job-Verlust. Das ist eine Schande für die Demokratie.

Ein Leser sagte mir, er habe sich selbst überzeugt, dass es wirklich die bürgerliche Mitte war auf der Demonstration. Mit dem Verstand begreife er das. Aber dennoch habe er ein mulmiges Gefühl: Weil es emotional sehr stark wirke auf ihn, was die Medien ständig wiederholen: Da seien Rechtsextreme: Und  wer mitlaufe, mache sich mit denen gemein. Man spürte förmlich, wie es den Mann zerreißt. Wie viele von uns. Genau diese Spaltung wird betrieben, zur Sicherung der Macht – ohne Rücksicht auf die schlimmen Folgen für unsere Gesellschaft, für den oder die Einzelne.

Ich selbst kann Menschen, die Corona sehr fürchten, genauso verstehen wie diejenigen, die erhebliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit der strengen Maßnahmen haben. Doch ich finde: Beide müssen einander akzeptieren, einen Modus Vivendi aushandeln. Auch wenn ich das Corona-Virus für gefährlich halte, habe ich enorme Zweifel am Sinn vieler Maßnahmen. Aber ich würde mich hüten, Menschen verächtlich zu machen, die keine solchen Zweifel haben. Aber genau ein solches Verhalten, ein solches Spalten provoziert unsere Politik.

Ich selbst wurde von Antifa-Leuten, die mich erkannten, lautstark als „Putinist“ und „Holocaust-Leugner“ diffamiert. Das ist so absurd, dass ich darüber gar kein Wort verlieren will. Aber es zeigt, wie stark der Hass ist, der gesät wird. Er wird nicht nur von einer Seite angefächtert. Aber gerade in solchen Zeiten bräuchten wir Politiker, die versöhnen. Stattdessen haben wir Großmeister der Spaltung in Kanzleramt und Präsidialamt.

Wie es weitergeht? Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich kann nur versprechen, dass ich alles weiter beobachten und kritisch hinterfragen werde. Und dass ich auch mich selbst immer wieder ermahnen werde, mich nicht hinreißen zu lassen, selbst zu spalten. Denn die Eskalations-Spirale kann jeden erfassen. Jeder ist gefragt, da nicht mit zu machen. Auszusteigen aus dieser Spirale, so gut er es kann.

Zum Schluss zum Erfreulichen: In den nächsten Tagen wird meine Seite endgültig umziehen. Mit etwas Glück schon morgen oder übermorgen. Es war ein zähes Ringen mit meinem Web-Designer. Es war sehr, sehr viel Arbeit. Es kostete viel Kraft. Er wollte viel Neuerung, ich wollte Kontinuität. Ich hoffe, wir haben einen Kompromiss gefunden, der beides beinhaltet und mit dem wir alle zufrieden sind. Sie werden die Seite wieder erkennten, aber sie wird besser, schöner, übersichtlicher und schneller. Sie bekommt endlich eine Suchfunktion und eine bessere Vernetzung mit den sozialen Netwerken. Auch ein Teilen per Mail und Wharsapp wird endlich per Knopfdruck möglich sein. Die Seite wird sich auch noch weiter entwickeln, der Feinschliff wird auch im laufenden Betrieb weiter erfolgen.

Hier schon einmal eine Vorschau:

Auf die anvisierte Umbenennung in reitschuster.info habe ich auf Anraten der Fachleute verzichtet, vor allem wegen google und den Algorithmen. Aber künftig werden auch die Adressen „reitschuster.info“ und „reitschuster.live“ auf meine Seite führen. Sollte Sie in Deutschland also einmal gesperrt werden wie gerade meine Youtube-Seite, wissen Sie, wo Sie mich finden können!

Auf dass es nicht so weit kommt!

Ich freue mich auf viele Treffen auf der neuen Seite.
Herzlich
Ihr

Boris Reitschuster


Bild: ScreenshotText: br

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