Großer Zapfenstreich für Angela Merkel Ein Farbfilm wird die Bilanz nicht retten

Von Vera Lengsfeld

Heute, am 2. Dezember 2021 ist es endlich so weit: Mit dem Großen Zapfenstreich wird das Ende der Ära Merkel mit militärischem Zeremoniell begangen, selbst wenn die formale Amtsübergabe erst nächste Woche erfolgt. Ich möchte hier ein paar Worte über die Musikauswahl der Kanzlerin verlieren, die wie viele der symbolischen Handlungen Merkels durchaus beachtlich ist (und meist missverstanden wird). Ich konzentriere mich dabei auf die wichtigste Entscheidung und lasse Hildegard Knefs „Für Dich soll es rote Rosen regnen“ und das traditionelle Kirchenlied beiseite: Als Leitmotiv für Ihren Abschied wählt Merkel Nina Hagens 1974er Osthit „Du hast den Farbfilm vergessen“.

Das ist natürlich ein cooler, schmissiger Song, den die damals 19-jährige Nina Hagen umwerfend darbietet – überzeugen Sie sich selbst: Der Auftritt im „Kessel Buntes“ lässt an Glamour und Weltläufigkeit wenig offen. Merkel und Nina Hagen sind fast der gleiche Jahrgang: Ich bin mir sicher, dass Angela Merkel auch besondere persönliche Erinnerungen mit dem Lied verbindet: Dass dies in der DDR natürlich einen Pferdefuß haben musste, ist klar (und damit meine ich nicht die dunklen Seiten des Erfolgstexters Kurt Demmler ) – schon zwei Jahre später verlässt Nina Hagen im Zuge der Biermann-Affäre die DDR. Sie folgt ihrer Mutter Eva-Maria Hagen, die ehemalige, viel besungene Geliebte von Biermann, und macht im Westen Karriere außerhalb des süßlichen Schlagerbetriebs. Mit ihrem Weggang wurde der Hit in der DDR nicht mehr viel gespielt und erlebte seine Renaissance erst mit dem Mauerfall – dort aber mit Schmackes. Es war und ist einer der ganz großen Hits der diversen Ostalgie- und Erinnerungswellen.

Politisch ist damit die Wahl Merkels nicht zu beanstanden – sie erinnert sich an die Studentenjahre in der DDR und unterstützt eine Künstlerin, deren Wirken und Hit keine unnötige Nähe zum SED-Regime hat, obwohl oder gerade weil er unpolitisch ist. Aber obwohl das Lied unpolitisch ist (den angeblichen Hinweis auf die DDR-Mangelwirtschaft halte ich für konstruiert) hat das Lied doch eine starke Botschaft, die man sich bei der scheidenden „Leader of the Free World“ doch mal zu Gemüte führen sollte.

Das Lied der leicht selbstverliebten Nina handelt von einem ziemlichen Versager, Michael, der der großartigen Nina die Show stiehlt, denn „er hat den Farbfilm vergessen“.

Und dies macht Nina schon im Traumurlaub auf Hiddensee richtig wütend „und alles tat so weh, dass die Kaninchen scheu schauten aus dem Bau, so laut entlud sich mein Leid ins Himmelblau, so böse stapfte mein nackter Fuss im Sand, und schlug ich von meiner Schulter Deine Hand“.

Was ist Michas Vergehen? Die Anklage ist deutlich und persönlich:

Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael
Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön’s hier war haha, haha
Du hast den Farbfilm vergessen bei meiner Seel’
Alles blau und weiß und grün und später nicht mehr wahr

Nina ist so wütend, dass das Theater sogar nach dem Urlaub Zuhause weitergeht:

Nun sitz ich wieder bei dir und mir zu Haus
Und such die Fotos für’s Fotoalbum aus
Ich im Bikini, ich am FKK,
ich frech im Mini, Landschaft ist auch da, ja

Aber, wie schrecklich, die Tränen kullern heiß
Landschaft und Nina und alles nur schwarzweiß

Dann werden die Vorwürfe noch ein paar Mal wiederholt.

Ich finde die Symbolbedeutung auffällig:

Die scheidende Kanzlerin/Nina deutet auf Michael und klagt an, „nun glaubt uns kein Mensch, wie schön es war“, denn „alles nur schwarzweiß“.

Man braucht kein Prophet zu sein, um zu wissen, dass die Bilanz der Kanzlerschaft von Angela Merkel mehr als durchwachsen ausfallen wird.

Aber liegt dies wirklich daran, dass die Geschichte und die Bilder nicht ordentlich im Fotoalbum der Geschichte aussehen? (Die Ära Merkel ist ja geprägt von dem Gedanken „die Bilder müssen stimmen“, „solche Bilder können wir nicht aushalten“ oder auch „solche Bilder wollen wir nicht mehr sehen“.)

Ich denke nicht. Es sind nicht schlechte Bilder, sondern schlechte, teilweise katastrophale Entscheidungen, die die Ära Merkel prägen. Und für die ist Merkel/Nina und nicht etwa Michael verantwortlich.

Lassen Sie mich den Gedanken weiterspinnen: Wenn diese Resonanz unbewusst eine Rolle gespielt hat, wen klagt die Kanzlerin denn an, ihre Geschichte und Bilanz nicht farbenfroh und schön zu erzählen? Die Medien eher nicht, die linke, grüne Öffentlichkeit auch nicht – nein, ich denke, Merkel zielt auf ihre Partei, auf ihre Landsleute im Osten und auch auf sehr viele konservative Stammwähler – die „haben den Farbfilm vergessen“ und nun „glaubt uns kein Mensch, wie schön es war“.

Dabei ist die Realität natürlich eine andere: In zwei großen Feldern, Energie und Asyl, schrammte die Kanzlerschaft Merkel nah an der Totalkatastrophe lang. Und nicht, weil jemand die Schönfärberei nicht gut genug gemacht hat, sondern weil Merkel und Deutschland schlichtweg nicht die Nerven hatten, die jeweiligen akuten Probleme konsequent zu durchdenken.

Der kollektive mentale deutsche Blackout nach dem Tsunami in Japan, bei dem es über 15.000 Tote gab und auch ein AKW havarierte, führte erst zu einem kollektiven Rausch („Deutschland muss ein bisschen verrückt sein, wir machen uns auf den Weg“, RWE-Werbung aus dieser Zeit) und dann zu einem Großsieg der Union unter Führung der Kanzlerin bei der Wahl 2013, da insbesondere die FDP für diese und andere Kopflosigkeiten an der Seite von Merkel büßen musste und die AfD noch nicht stark genug war für den Einzug in den Bundestag. Dieser Wahlsieg war Merkels Mauerfall und Einheit-Husarenstück, zumindest für ihre schon damals ziemlich gebeutelte Partei.

Doch statt mit der Stärke endlich für Deutschland Gutes zu tun, immerhin ist Merkel 2005 ja als Reformerin gestartet, verliert ihre Mannschaft zum zweiten Mal die Nerven. Als die Grenze eine Woche nach der Öffnung der von deutschen NGOs vom Budapester Hauptbahnhof auf die Autobahnen Richtung Österreich geführten Flüchtlinge (damals waren es ja wirklich Syrer) geschlossen werden musste, kam es zum Schwur (Robin Alexander hat diese Tage ja minutiös analysiert): Wer übernimmt die Verantwortung für die schlechten Bilder und Berichte? Micha, also hier Thomas de M., oder Horst S. jedenfalls nicht: Ergebnis: „Alles tut so weh“ und das schon seit Jahren.

Merkel führte auf zwei Feldern vor, wie man Politik nicht machen kann: CO2-Reduktion ohne Atom, bei gleichzeitigem Erhalt von Wohlstand und Arbeitsplätzen und Transformation zu einer riesigen Stromwirtschaft (Digitalisierung, eMobility)? Nur mit Wind, Solar und Biomasse als einzig regierungsseitig akzeptierte Energieform? Ein Ding der Unmöglichkeit. Eigentlich nur zu toppen durch den Anspruch eines halbwegs wohlhabenden 80 Millionenvolks, ein offener Migrations-Asyl-Fluchtort in einer globalen Welt mit über 7 Milliarden Menschen zu sein. Alles schlichtweg undenkbar.

Egal welche schönen Bilder irgendwer produziert – darin sind wir ja immerhin noch Weltmeister. Es geht halt nicht.

„Alles tut so weh“ – das könnte das Leitmotiv der Bilanz der Merkel-Ära der Jahre seit 2011 sein. Nur, dass Micha und seinen vergessenen Farbfilm keine Schuld trifft, so sehr die Kanzlerin auch wütet: Sie und ihre Minister und die von ihr geschickt und konsequent getriebene Kanzlerpartei, allen voran natürlich die Funktionäre, die Medien und der politische Gegner auf der linken Seite, der zwar zunächst nicht an die Posten kam, aber dafür sein inhaltliches Glück immer weniger fassen konnte – dies sind die Verantwortlichen.

Aber an erster Stelle natürlich Angela Merkel selbst.

Und die Kanzlerin musste in beiden Themen schon den Offenbarungseid leisten: mit Nordstream 2 und dem Flüchtlingsdeal mit der Türkei. Wer im eigenen Land so wenig auf die Reihe kriegt, da „die Bilder stimmen müssen“ oder „wir diese Bilder nicht aushalten“, kann am Ende froh sein, dass ein Putin und ein Erdogan diese Deals nicht noch viel brutaler ausnutzen, als sie es eh schon tun.

Was bleibt als letzter Gedanke?:

Im Lied droht ja Nina „Tu das noch einmal, Micha, und ich geh“ – hier bin ich ein wenig ratlos – jetzt geht diese Drohung ja komplett ins Leere: Aber konsequent zu Ende gedacht, gibt es auch hier eine schöne Erklärung: Es wäre 2016 der richtige Weg gewesen (und vielleicht sendet ja Merkel diese letzte unbewusste Botschaft). Hätte die Union spätestens Anfang 2016 die Grenzen geschlossen, hätte Merkel gesichtswahrend abtreten können. Die Union, die FDP und alle Kräfte im Land, die nicht den Verstand komplett verloren haben oder Deutschland bewusst in eine Wohlstands- und Freiheitskrise treiben wollen, hätten Zeit gehabt, einen halbwegs belastbaren Plan für die nähere Zukunft zu schmieden. Um das Land aus der selbstgewählten Sackgasse zu führen.

Aber dazu hatten die Michaels in der Union nicht den Mumm: So ging das Elend („und alles tut so weh“) noch fast 6 Jahre weiter.

Und es bleibt am Ende nur „alles schwarz und weiß und später nicht mehr wahr“.

Ein bitteres, längst überfälliges Ende einer verkorksten Kanzlerschaft.

Merchandising

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Dieser Artikel ist zuerst auf Vera Lengsfelds Blog erschienen.

Vera Lengsfeld, geboren 1952 in Thüringen, ist eine Politikerin und Publizistin. Sie war Bürgerrechtlerin und Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Von 1990 bis 2005 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages, zunächst bis 1996 für Bündnis 90/Die Grünen, ab 1996 für die CDU. Seitdem betätigt sie sich als freischaffende Autorin. 2008 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Sie betreibt einen Blog, den ich sehr empfehle. Sie finden ihn hier.

Bild:
Text: Gast

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