Ein Gastbeitrag von Gregor Amelung
Hätte es die Flutkatastrophe an Ahr und Erft in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 nicht gegeben, Armin Laschet säße heute wohl im Kanzleramt. Nicht mit einer komfortablen Mehrheit an Sitzen im Bundestag ausgestattet, wahrscheinlich hätte es am 26. September 2021 nicht mal für einen ganzen Prozentpunkt vor der SPD gereicht.
So aber lautete das Endergebnis: CDU/CSU 24,1 Prozent, SPD 25,7 Prozent. Danach titelte die Hamburger Morgenpost: „Schlumpf ist Trumpf“.
„Vollkommen daneben“
Dass nicht Laschet, sondern Scholz Trumpf war, lag auch am „Rumalbern“ des Spitzenkandidaten der Union zwei Tage nach der Flutkatastrophe. Die Bilder von Laschets „Rumfeixen“ gingen durch alle Medien. Laschet „benimmt sich vollkommen daneben“, meinte die Bildzeitung. „Laschet in Erftstadt – Kichern in der Katastrophe“, urteilte der Nachrichtensender NTV. „Viele sind empört [und] machen ihrem Ärger bei Twitter Luft“, so die Aktuelle Stunde des WDR in Laschets Heimatland NRW.
Dieselbe Presse, die nach dem „Rumalbern“ so lange in die Waden des Übeltäters gebissen hatte, bis auch der letzte zukünftige Wähler die Fotos des „feixenden“ Laschets kannte, wedelte in Bezug auf die sonstige Aufarbeitung der Flutnacht friedlich mit dem Schwanz. Etwa als die rheinland-pfälzische Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne) im SWR-Sommerinterview am 23. Juli 2021 keinerlei Versäumnisse ihres Hauses erkennen konnte. Das Hochwasser habe „alle Dimensionen [gesprengt]. Da hätte uns die beste Hochwasservorsorge nicht helfen können.“
‘Ich bin so gegen 19.30 Uhr weg‘
Zeitgleich hatte sich Spiegels Kabinettskollege, Innenminister Roger Lewentz (SPD), die Absolution für die Katastrophennacht erteilt. Er habe den zuständigen Krisenstab des Landkreises Ahrweiler »gegen 19 Uhr 30« verlassen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Lewentz laut Tagesschau.de (29.7.2021) den Eindruck, dass dort erfahrene Leute waren, die bereits das Hochwasser 2016 gemanagt hatten.
Selbstverständlich hätte man auch evakuieren können, aber das sei nicht seine Entscheidung gewesen, sondern die des Kreises, so der Innenminister. „Nur der Landrat und der zuständige Brand- und Katastrophenschutzinspekteur hätten das aus der Erfahrung von 2016 wissen können.“ Er selbst konnte „diese Lücke nicht füllen“.
„’Ich habe mich dann zurückgezogen, um erreichbar zu bleiben’, erinnert sich der Innenminister […] Denn die Kommunikation im Kreis ist zu diesem Zeitpunkt längst zusammengebrochen. ‚Ich bin so gegen 19.30 Uhr weg’“, erklärte Lewentz weiter gegenüber der Rhein-Zeitung am 23. Juli 2021. Das war angesichts der Verwüstungen an der Ahr schon recht dreist. Trotzdem kam es in der Presse zu keiner Rudelbildung wie bei Laschet. Beißreflexe gegenüber Lewentz blieben aus.
Der Landrat
Nicht so bei dem vom Innenminister ins Rampenlicht gerückten Landrat Dr. Jürgen Pföhler (CDU), der grundsätzlich eine ähnlich undramatische Einschätzung der Lage hatte wie der Innenminister. Und genauso wie Lewentz war auch Pföhler nur kurz im Krisenstab, denn er hatte bereits vor mehreren Jahren die »Einsatzleitung« im Katastrophenfall »an eine andere Person delegiert«.
Die den Vorschriften nach durchaus problematische Abgabe der Einsatzleitung begründete Pföhler damit, dass er als Jurist von Katastrophenschutz keine Ahnung habe. Folgerichtig sieht er auch »keine strafrechtlichen Fehler« bei sich. Trotzdem nahm die Staatsanwaltschaft Mainz Ermittlungen gegen Pföhler auf (6.8.2021); es bestehe ein Anfangsverdacht auf fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen. Pföhler selbst ließ sich krankschreiben. Seine Aufgaben übernahm der CDU-Kreistagsbeigeordnete Horst Gies, dessen Fraktion Pföhler Mitte August de facto das Vertrauen entzog. Daraufhin stellte Pföhler einen Antrag auf Versetzung in den Ruhestand wegen dauerhafter Dienstunfähigkeit.
Drei Wochen später triumphiert Scholz über Laschet. Sechs Wochen später wird Landrat Pföhler (63) in den Ruhestand versetzt. Da ist Armin Laschet schon nicht mehr NRW-Ministerpräsident, sondern nur noch CDU-Vorsitzender auf Abruf. Am 8. Dezember 2021 wird Olaf Scholz dann zum neuen Bundeskanzler gewählt. Mit an seinem Kabinettstisch sitzt auch die frühere rheinland-pfälzische Umweltministerin Anne Spiegel, als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Rückblende
14. Juli 2021. Die kleine rheinland-pfälzische Ortschaft Münsch am Oberlauf der Ahr. Seit dem Mittag steigt hier der Wasserpegel steil an. Kurz nach 16 Uhr reißt die Ahr ihre bisherige Höchstmarke von 2 Meter 73.
15 Uhr 24. Das Landesamt für Umwelt (LfU), das dem Mainzer Ministerium für Umwelt, Energie, Ernährung und Forsten unterstellt ist, gibt für Altenahr am Mittellauf der Ahr eine neue Pegel-Prognose heraus: Bis auf 5 Meter soll das Wasser steigen. Das wäre deutlich mehr als der Pegel des Rekordhochwassers von 2016.
16 Uhr 43. Trotz der beunruhigenden Prognose aus dem eigenen Hause gibt das Mainzer Umweltministerium eine Pressemitteilung heraus. Darin heißt es, es sei „kein Extremhochwasser“ zu erwarten.
Freigegeben hatte die Pressemitteilung die damals zuständige Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne). Weil in dem Text aber auch Ratschläge und Hinweise für Betreiber von Campingplätzen für den Fall gegeben wurden, dass ufernahe Bereiche überspült werden sollten, schrieb Spiegel in ihrer Freigabe-SMS laut der Rhein-Zeitung: „Konnte nur kurz draufschauen.“ Und weiter: „Bitte noch gendern: CampingplatzbetreiberInnen. Ansonsten Freigabe.“ Zu diesem Zeitpunkt, so der Focus am 12. März 2022, drohten im Eifelort Schuld bereits „die ersten Häuser wegzubrechen“.
18 Uhr 9. Spiegels Staatssekretär Dr. Erwin Manz schreibt in einer Handy-Nachricht, dass die bisherige Pressemitteilung überholt sei. „Wir haben ein Extremereignis an der Ahr. Dort [ = nahe Dorsel am Oberlauf der Ahr] wurde ein Campingplatz aus der Luft evakuiert.“
„Müssen wir jetzt was machen?“, fragt die Pressestelle daraufhin zurück.
„Heute nicht“, antwortete Manz um 18 Uhr 53. Bei Fragen zu Pegelständen solle man bitte auf das Landesamtes für Umwelt (LfU) verweisen. – Zu diesem Zeitpunkt ist der Pegel des Ahr-Zuflusses Sahrbach bereits ausgefallen. Seine letzte Meldung hatte er um 18 Uhr 15 an das LfU abgesetzt. Sie lautete: 3 Meter 27. 1 Meter 28 mehr als beim Höchststand 2007.
Mit Manz’ SMS aus der Katastrophennacht konfrontiert, erklärte das rheinlandpfälzische Umweltministerium am 8. März 2022 die Aussage, es sei „nichts zu tun“, habe sich lediglich auf die Frage bezogen, ob eine weitere Pressemeldung sinnvoll sein könnte. „Die Information der Einsatzkräfte vor Ort, die für die Warnung der Bevölkerung zuständig sind, war und ist jederzeit über die Meldekette sichergestellt gewesen.“ Pressemitteilungen seien nicht Teil des Meldeweges.
18 Uhr 20. Der Hauptwetterbericht von SWR-Aktuell sieht lediglich an der Mosel eine Hochwasser-Gefahr und zwar am kommenden Vormittag. Auf die aktuelle Lage bezogen fällt weder der Begriff »Extremwetter« noch das Wort »Unwetter«.
19 Uhr. Der Pegel am Ahr-Oberlauf bei Müsch steigt immer noch. Im Moment hält er stramm auf die 4-Meter-Marke zu. Eigentlich ein alarmierendes Zeichen.
19 Uhr 09. Das LfU korrigiert seine Prognose für den Pegel Altenahr: von 5 Meter hinunter auf nur noch 4 Meter. – Eine Meldung, die einer Entwarnung gleichkommt und weitgehend der Pressemitteilung von 16 Uhr 43 entspricht.
„Bis etwa 19 Uhr“ ist Umweltministerin Spiegel laut der Süddeutschen (21. März 2022) vor Ort im Mainzer Landtag und „dort in Kontakt mit anderen Kabinettsmitgliedern“. Danach verliert sich ihre Fährte und auch die telefonische Erreichbarkeit der Ministerin in der Katastrophennacht steht inzwischen in Frage.
„Gegen 19 Uhr 30“: Innenminister Roger Lewentz (SPD) verlässt den Krisenstab des Landkreises Ahrweiler. Kurz darauf folgt ihm offenbar auch Landrat Jürgen Pföhler.
19 Uhr 36. Das LfU kassiert seine Prognose und nimmt wieder einen Höchststand von 5 Metern in Altenahr an. Eine Prognose, die in Teilen von der Realität erzwungen worden ist, denn der Pegel in Altenahr steigt immer noch steil an. Seine Rekordmarke aus dem Jahre 2016 (3,71 m) hatte er bereits kurz nach 19 Uhr geknackt. Inzwischen hat er die 4-Meter-Marke passiert und hält in steilem Anstieg auf die 5 Meter zu.
20 Uhr 15. Daun, ebenfalls Rheinland-Pfalz. Im Verwaltungssitz des benachbarten Landkreises Vulkaneifel ruft die Landrätin den Katastrophenfall aus. Auch um direkt auf die Bundeswehr zurückgreifen zu können.
20 Uhr 36. Das Mainzer Landesamt für Umwelt (LfU) gibt laut dem Bonner General-Anzeiger eine neue Prognose heraus, deren Kernaussage nun lautet: Eine Flutwelle von 6 Meter 90 Höhe wird Altenahr in der Morgendämmerung erreichen.
Das bedeutet: Alle Ortschaften, die von Altenahr gesehen flussaufwärts liegen – beispielsweise das kleine Schuld – würde die Flutwelle vorher treffen. Und das mitten in der Dunkelheit und damit ohne jede Aussicht auf rasche Rettung aus der Luft oder per Boot.
Da die Nacht an diesem Tag wegen der leichten Bewölkung bereits gegen 22 Uhr eintreten wird, ist dies eigentlich ein letztes, ultimatives Zeichen, den „Alarmknopf“ zur Evakuierung drücken. Aber niemand drückt. Und das, obwohl man bei vorhergesagten 6 Metern 90 alle Erfahrungswerte aus dem Rekordhochwasser von 2016 (3,71 m) vergessen kann. Mit 6 Metern 90 ist man vielmehr in direkter Schlagdistanz zur Flutkatastrophe von 1910, in der insgesamt 53 Menschen ums Leben gekommen sind.
20 Uhr 45. Der Pegel in Altenahr misst 5 Meter 75. Es wird seine letzte Messung sein, danach fällt auch er aus.
22 Uhr 24. Staatssekretär Manz versucht Ministerin Spiegel zu erreichen, um ihr den Ernst der Lage zu schildern, so der Focus am 14. März 2022. Ohne Erfolg. Anschließend legt Manz einem Bericht der Rhein-Zeitung zufolge eine Notiz an: „Versuch Telefonat.“
23 Uhr 15. Auf der Website des Landkreises Ahrweiler wird unter der Überschrift »UPDATE LAGEBERICHT: STARKREGEN UND HOCHWASSER AN DER AHR« mitgeteilt, dass Landrat Pföhler „den Katastrophenfall ausgerufen“ habe.
15. Juli 2021. Auch am Morgen ist es laut Focus-Informationen „zunächst schwer“, Anne Spiegel zu erreichen. Kurz nach 6 Uhr schreibt eine Mitarbeiterin der Pressestelle der Ministerin eine SMS. Die Lage sei „sehr ernst“.
Spiegels Pressesprecher, Dietmar Brück, antwortet darauf in einem großen Verteiler, in dem auch die Ministerin enthalten ist. Brück stellt fest: „Die Starkregen-Katastrophe wird das beherrschende Thema dieser und nächster Woche sein.“ Die „Anteilnahme“, das „macht MP“ Malu Dreyer (SPD). Das grüne Umweltministerium aber solle über die Hochwasserlage und Warnungen informieren. Dafür sollen medienwirksamen Ortstermine her: „Anne bei Reparaturarbeiten, bei Hochwasserschutzprojekten, dort wo neue Gefahren drohen, Besuch mit Journalisten bei Hochwassermeldezentren.“ Politisch müsse man noch wachsam sein, dass der Koalitionspartner SPD nicht mit einem Fünf-Punkte-Plan zum künftigen Umgang mit Stark-Regen-Ereignissen vorpresche. „Da müssen wir dazu“, so Brücks SMS.
„Annes Rolle“, so ihr Pressesprecher weiter, müsse „immer mit einer konkreten Rolle oder Zuständigkeit verbunden sein“. Nach „politischer Instrumentalisierung“ dürfe es nicht „aussehen“. Dem stimmt Spiegel um 8 Uhr 7 zu. Zuvor hatte sie um 8 Uhr noch Folgendes an ihren Pressesprecher geschrieben:
„Lieber Dietmar, […] das Blame-Game könnte sofort losgehen, wir brauchen ein Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben, ich im Kabinett.“ Zudem müsse man herausstreichen, dass „ohne unsere Präventions- und Vorsorgemaßnahmen alles noch viel schlimmer geworden wäre etc.“, so der Focus am 12. März 2022.
Zu den zuvor von ihrem Pressesprecher thematisierten möglichen Manövern des Koalitionspartners SPD schreibt Spiegel noch: „Ich traue es Roger [gemeint ist Innenminister Roger Lewentz] zu, dass er sagt, die Katastrophe hätte verhindert werden können oder wäre nicht so schlimm geworden, wenn wir als Umweltministerium früher gewarnt hätten, und dass es an uns liegt, weil wir die Situation unterschätzt hätten etc.“.
Untersuchungsausschuss, Mainz
Acht Monate später. 11. März 2022. Bundesfamilienministerin Anne Spiegel erscheint vor dem Untersuchungsausschuss zur Ahrtal-Katastrophe. Es ist die „achte öffentliche Sitzung zur Beweisaufnahme“ im Plenarsaal des Mainzer Landtags. Spiegel bestätigt die Echtheit, der zuvor durchgesickerten Nachrichten. Den Vorwurf, dass sie im Verlauf der Katastrophe vor allem auf ihr eigenes Image bedacht gewesen wäre, weist sie zurück. Das sei „absolut falsch“. Die kritisierten SMS vom Morgen des 15. Juli 2021 seien ja lediglich „zwei von Tausenden Nachrichten am Tag danach“ gewesen.
In der veröffentlichten Kommunikationsliste ließen sich allerdings keine „Tausenden“ sondern lediglich „60 Einträge“ finden, so der Focus am 22. März 2022. Die „Nachrichten“ 61 bis 2.001 muss man also wohl auf Spiegels Diensttelefon suchen. Kann man aber nicht, denn die entsprechende Anrufliste fehlt in den Akten, so die Süddeutsche am 21. März 2022. Obwohl die Ministerin verpflichtet gewesen wäre, „die Anrufe zu sichern und dem Ausschuss zur Verfügung zu stellen”, so Dirk Herber, CDU-Obmann im Untersuchungsausschuss.
Nach all dem stellt sich dann schon auch noch die Frage, was pietätloser gewesen ist:
Das „Rumalbern“ von Armin Laschet oder die „Kaltschnäuzigkeit“ einer verantwortlichen Ministerin, die während einer Katastrophe nur ans eigene Image dachte?
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Text: Gast
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