Grüne wollen ihren OB Boris Palmer aus dem Amt vertreiben Das Ende der Meinungsvielfalt: Grünes Großreinemachen

Von Alexander Wallasch

Kurios ist noch der falsche Ausdruck: Vollkommen bizarr erscheinen die Methoden, welche die Grünen jetzt anzuwenden bereit sind, ihren seit 2007 in Tübingen so erfolgreichen grünen Oberbürgermeister Boris Palmer aus dem Amt zu drängen.

Die Diffamierung unbequemer Meinungen ist ein gesellschaftliches Phänomen, das längst auch die Parteien selbst erreicht hat. Das Großreinemachen beginnt im Inneren: Für die übergeordnete gemeinsame Sache sollen alle Mahner und Andersdenkenden entfernt und durch Getreue ersetzt werden. Der Widerspruch als Antreiber für ein gesellschaftliches Fortkommen hat ausgedient – kein Wunder, dass das System Merkel jetzt auch die Grünen erreicht hat.

Die innerparteilichen Übergriffe gegen Boris Palmer sind symptomatisch für unsere Zeit. Man kann nur spekulieren, inwieweit Vertreter der Bundespartei selbst in Tübingen interveniert haben, jedenfalls hat der Stadtvorstand der Grünen in Tübingen in der vergangenen Woche verkündet, dass man über den nächsten grünen Oberbürgermeister-Kandidaten für Tübingen durch eine Urwahl entscheiden will. Viele mögen sich hier an das vor Jahrzehnten schon abgeschaffte Rotationsverfahren der Grünen erinnern, als Abgeordnete unabhängig vom Erfolg regelmäßig Nachrückern Platz machen mussten.

Die 450 Mitglieder der Tübinger Grünen sollen jetzt in einer Urwahl einen Kandidaten wählen. Die Deutsche Presse-Agentur fragte bei Palmer nach, der bat sich eine Denkpause aus, er wolle erst einmal die Entscheidung der Mitgliederversammlung abwarten, die dritte Amtszeit würde im Herbst 2022 beginnen.

Auch mindestens kurios bleibt dabei, dass die Tübinger Grünen – bevor sie ihren erfolgreichen Oberbürgermeister darum bitten, wieder zu kandidieren – sich lieber damit beschäftigen, wie sie Palmer loswerden können. Die endgültige Entscheidung ist allerdings noch etliche Monate hin, erst im April 2022 soll darüber abgestimmt werden, wer kandidieren soll.

Ist das der umgedrehte Söder? Der nämlich wurde als – Umfragen zufolge – potenziell deutlich erfolgreicherer Kanzlerkandidat der Union von der Partei nicht aufgestellt, stattdessen machte es der wenig vielversprechende Laschet.

Und jetzt soll also der im Amt des Oberbürgermeisters so Erfolgreiche von einem No-Name als Kandidat abgelöst werden?

Warum diese seltsame Kehre? Liegt es am beantragten Parteiausschlussverfahren? Der öffentlich-rechtliche SWR schreibt dazu:

„Der Stadtverband betont, dass das laufende Parteiausschlussverfahren gegen Boris Palmer das Nominierungsverfahren nicht beeinflusse. Im Mai hatten die Grünen in Baden-Württemberg das Verfahren gegen Palmer eingeleitet.“

Palmer selbst übrigens will Grüner bleiben, er ist Parteimitglied seit 1996, die Werte der Partei sind auch die seinen, betont er. Der Oberbürgermeister wünscht eine Versöhnung mit den Parteikollegen. Maßgeblich für sein grünes Beharren seien weiterhin an erster Stelle der Klima- und Umweltschutz.

Selbstredend hat auch die innerparteiliche Zuspitzung um Boris Palmer eine Vorgeschichte: Der Stadtverband hatte schon vor Monaten verkündet, man wolle Palmer 2022 nicht mehr für eine dritte Amtszeit unterstützen. Der damalige grüne Fraktionschef Christoph Joachim sieht das mittlerweile allerdings anders, betrachtet Palmer als „geläutert“.

„Geläutert“? Mit was für moralinsauren Begrifflichkeiten wird da eigentlich im Zentrum Baden-Württembergs hantiert?

Als die Debatte hochkochte, schaltete sich der grüne Landesvater selbst ein und sekundierte Boris Palmer beim Wunsch, sich mit seiner Partei auszusöhnen. Er selbst, Winfried Kretschmann, betonte, er sei „noch nie unversöhnt“ gewesen mit dem Tübinger OB. Allerdings hätte es öfter ärgerliche Debatten mit ihm gegeben, so der Ministerpräsident.

Was da klingt wie interne Parteipolitik aus der Bonner Republik, scheint auch eine baden-württembergische Besonderheit zu sein: Palmer mag über die Grenzen der Grünen hinaus beliebt sein, durch seine Bodenständigkeit und den bisweilen rebellenhaften Gestus. Aber mit seiner provinziellen Grundbeschaffenheit hat er dabei nie hinter dem Berg gehalten: Angenehm, wenn er diese vermittelnd nutzt. Bisweilen unangenehm, wo er abgrenzen will und dieser spezielle Tübinger Gartenzaun dann immer höher wächst.

Wenn das nun kein über die Bundesebene inszenierter Sockelsturz Palmers ist, dann kann man den Tübinger Grünen immerhin attestieren, dass es dort wohl noch weitere Charaktere des gleichen Kalibers wie Palmer gibt:

Marc Mausch vom Stadtverband jedenfalls betonte schon im Dezember 2020, wer in der Sache das letzte Wort hätte, nämlich die grünen Stadtverbandsmitglieder. Und nur die würden entscheiden, wer für die Oberbürgermeisterwahl 2022 nominiert werden soll.

So kurios wie eine Provinzposse, so bizarr wie selbstzerstörerisch. Und so schade, denn auch hier könnte ein wichtiges Stück Demokratie verloren gehen: Boris Palmer widerspricht nämlich nicht nur gern intern, er ist ein wichtiges lagerübergreifendes Bindeglied. Er ermöglicht die wichtigen großen Debatten.

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Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine.

Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger und betreibt den Blog alexander-wallasch.de. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann), schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“ Seit August ist Wallasch Mitglied im „Team Reitschuster“.

Bild: Markus Wissmann/Shutterstock
Text: wal

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