Hommage an den Zeitgeist? „König Lear“ wird zur Frau Shakespeare-Klassiker dem Altar der Wokeness geopfert

Von Kai Rebmann

Um wohl kaum eine Monarchie ranken sich so viele Mythen und Legenden wie um das britische Königshaus. Das Leben und Sterben seiner berühmtesten Herrscher lieferte den Stoff für einige der erfolgreichsten Werke der Theater- und Literaturgeschichte. Zu den herausragenden Regenten Britanniens gehört dabei mit Sicherheit der sagenumwobene König Lear, der im 8. Jahrhundert vor Christus mehr als 60 Jahre lang über die Insel geherrscht haben soll. William Shakespeare hat sich der Legende auf dem Höhepunkt seines Schaffens angenommen und sie um 1606 in einer Tragödie verewigt.

Nicht ausgeschlossen, dass auch die Lebensgeschichte der unlängst verstorbenen Queen Elisabeth II. eher früher als später auf den Theaterbühnen dieser Welt zu sehen sein wird. Weniger gut vorstellbar ist allerdings, dass die Hauptrolle dann von einem Mann gespielt wird. Doch genau das ist jetzt – unter umgekehrten Vorzeichen – König Lear widerfahren. Bei den Bad Hersfelder Festspielen Ende Juni schlüpft eine Frau in die Rolle des greisen Herrschers, genauer gesagt die Schweizer Schauspielerin Charlotte Schwab.

Was nicht passt, wird passend gemacht

Bis auf das Alter haben die 70-jährige Darstellerin und der von ihr verkörperte Protagonist freilich wenig gemeinsam. König Lear wurde von seinem geistigen Vater als grausamer Regent mit patriarchalem Charakter geschaffen. Nun ist es ja nicht so, dass nicht auch Frauen mit eiserner Hand herrschen und regieren könnten, die Geschichtsbücher sind voll von entsprechenden Beispielen, dennoch erscheint die Besetzung ausgerechnet dieses Charakters mit einer Frau reichlich unpassend. Und das nicht nur, weil König Lear eben ein Mann ist.

William Shakespeare konnte natürlich noch nicht ahnen, in welche zeitgenössischen Mühlen sein Werk etwas mehr als 400 Jahre nach seiner Uraufführung einmal geraten würde. Im Kern handelt die Tragödie davon, dass König Lear – im Spätherbst seines Wirkens angekommen – das Reich dritteln und unter seinen drei Töchtern nebst deren Gatten aufteilen möchte. Im Gegenzug fordert der Regent von diesen ein Bekenntnis zur unbedingten Vaterliebe.

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Die beiden älteren Töchter beteuern, dass in ihren Herzen einzig und allein Platz für ihren Vater sei. Cordelia, die jüngste Tochter von König Lear und dessen erklärter Liebling, ist eine solche Heuchelei fremd, weshalb sie entgegnet, dass auch sie ihren Vater liebe, in ihrem Herzen außerdem aber noch Platz für einen noch zu findenden Mann sei. Daraufhin wird Cordelia verstoßen und das Reich nur unter den beiden verbliebenen Töchtern aufgeteilt.

Die Verbannung des ‚alten, weißen Mannes‘

Dieser einführende Handlungsstrang ist wichtig, um zu verstehen, weshalb König Lear nach menschlichem – und eben auch künstlerischem – Ermessen gerade nicht von einer Frau gespielt werden kann. Oder, besser gesagt, weshalb sich Regisseurin Tina Lanik dennoch dafür entschieden hat. König Lear, so wie er von Shakespeare charakterisiert wurde, wirkt geradezu wie ein Abziehbild des stereotypen „alten, weißen Mannes“, der in den letzten Jahren zu so etwas wie dem erklärten Endgegner aller Woken geworden ist. Jede passende, oder wie in diesem Fall auch unpassende, Gelegenheit soll offenbar genutzt werden, um dieses Bild aus den Köpfen der Menschen zu verbannen.

Lanik rechtfertigt die weibliche Besetzung der männlichen Hauptfigur damit, dass diese einen „neuen, komplexen Blick auf die Figur und das Stück“ eröffne. Auch Joern Hinkel, Intendant der Bad Hersfelder Festspiele, gibt zumindest nach außen hin den Eindruck des gespannten Erwartens. Er rechne mit einer „außergewöhnlichen Inszenierung“ und finde es interessant, „einen der großen Charaktere der Weltliteratur von einer Frau dargestellt zu sehen“, so Hinkel.

Dabei hätte man König Lear auch einfach König Lear – und vor allem ein Mann – bleiben lassen können. Nur wenige Monate nach dieser Tragödie brachte Shakespeare das Drama um „Antonius und Cleopatra“ auf die Bühne. Kann oder will man sich vorstellen, dass die Rolle der ägyptischen Königin in diesem Stück dereinst von einem Mann gespielt werden könnte? Lieber nicht!

Mein aktuelles Video:

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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.

Bild: Rose Makin/Shutterstock

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