Ein Gastbeitrag von Matthias Heitmann
An diesem Mittwoch, dem 27. Januar 2021, plant die schwarz-gelbe Landesregierung Nordrhein-Westfalens, den Entwurf für ein neues Versammlungsgesetz in den Landtag einzubringen. Sollte das Gesetz unverändert beschlossen werden, dürfte das Demonstrieren künftig schwieriger werden – eine Entwicklung, die zum politischen Trend der Cancel Culture passt.
Mit dem neuen NRW-Versammlungsgesetz sollen einige Veränderungen durchgesetzt werden, die, wie es im von Herbert Reul (CDU) geführten Innenministerium heißt, Regeln auf Versammlungen und Demonstrationen klarer benennen und so mehr Rechtssicherheit schaffen sollen. Versammlungsleiter und Polizei sollen dabei enger zusammenarbeiten. Zudem sollen die Befugnisse der Polizei ausgeweitet werden: Rund um Versammlungen soll sie Kontrollstellen einrichten können, in denen sie die Identität von Versammlungsteilnehmern feststellen und sie auch durchsuchen können soll. Auch das polizeiliche Filmen von Demonstrationen soll vereinfacht werden.
Interessant ist zudem die inhaltliche Einflussnahme auf Versammlungen und Demonstrationen. Im Entwurf ist vom „Militanzverbot“ die Rede. Gemeint ist damit, dass Versammlungen keine Gewaltbereitschaft vermitteln oder einschüchternd wirken sollen. Seit 15 Jahren bereits gilt auf Demonstrationen das „Uniformierungsverbot“; nun soll dieses Verbot auch auf „paramilitärisches Auftreten“ ausgeweitet werden, womit Reul wohl explizit sowohl auf den linken „Schwarzen Block“ und auf das Anti-Atom- und Anti-Kohle-Bündnis „Ende Gelände“, das in weißen Maleranzügen zu demonstrieren pflegt, als auch auf im Gleichschritt marschierende Neonazis abzielt. Bemerkenswert ist auch das Verbot der Störung von Versammlungen, mit dem die Möglichkeiten von Gegendemonstrationen strenger geregelt werden. Demzufolge soll bereits die Androhung, eine genehmigte Versammlung oder Demonstration behindern zu wollen, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren belegt werden können. Auch das Verbot von Demonstrationen an symbolträchtigen Tagen und Orten soll erleichtert werden.
Betrachtet man den Geist dieses neuen Versammlungsrechts, so wird deutlich, dass es hier weniger um eine gestärkte „Rechtssicherheit“ für demonstrierende Bürger geht, sondern eher um weitgehende Rechtssicherheit für staatliche Einmischung. Dies wird zum einen an den weit gefassten polizeilichen Kontrollmöglichkeiten deutlich. Gleichzeitig versucht man aber auch, das Erscheinen derjenigen Teilnehmer, gegen die am ehesten polizeilich vorgegangen wird, bereits im Vorfeld dadurch zu unterbinden, dass man die inhaltlichen Rahmensetzungen der Veranstaltung zunehmend enger fasst.
Anders formuliert: Entgegen der Rhetorik vom Schutz unbescholtener Bürger vor Randalierern steht wohl eher das Aushöhlen des Demonstrationsrechts im Zentrum. Denn was sonst soll eine Demonstration erreichen, wenn nicht das öffentliche Demonstrieren von Macht und Entschlossenheit zwecks Beeinflussung von Politik und öffentlicher Meinung? Eine Demonstration, die niemanden einschüchtert, ist keine. Und ja, man kann erhobene Demonstranten-Fäuste selbstverständlich immer und überall als Ausdruck von Gewaltbereitschaft interpretieren, wie übrigens auch das gemeinsame Nebeneinanderherlaufen und das laute Skandieren von im Imperativ gehaltenen Slogans. Wird es künftig zur Demonstrationsauflage, die Faust in der Tasche zu lassen und Ausrufezeichen auf Plakaten durch Fragezeichen zu ersetzen?
Wer das Versammlungsrecht in dieser Art und Weise ad absurdum führt, der braucht sich nicht zu wundern, wenn Demonstrationen nicht mehr als solche angemeldet werden, sondern entweder als informelle Spaziergänge oder eben gänzlich unangemeldet stattfinden. Mit dem demokratischen Demonstrationsrecht und der Meinungsfreiheit hat dieses entkernte Versammlungsrecht kaum noch etwas gemein. Es erinnert eher an ein Recht auf Spazierengehen – wobei wir in Corona-Zeiten auch dieses Recht zu schätzen gelernt haben.
Wie kann es kommen, dass solche offensichtlich freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unkommentiert bleiben? Der Verweis darauf, dass heutzutage kaum noch Menschen demonstrieren gehen und daher im Alltag nicht betroffen seien, hilft nicht weiter. Denn tatsächlich ist er falsch: Großdemonstrationen sind in Deutschland keineswegs Relikte längst vergangener Zeiten. Allein seit dem Jahr 2000 gab es hierzulande mehr als zehn Demonstrationen mit mehr als 100.000 Teilnehmern zu unterschiedlichsten Themen – da sind die vielen kleineren und dezentralen Aktionen von „Black Lives Matter“, „Fridays for Future“, „Pegida“ & Co. und der „Querdenker“ noch gar nicht eingerechnet. Von einer generellen und zunehmenden Demonstrationsmüdigkeit kann also nicht gesprochen werden.
Das Problem ist eher, dass die Debatte um das Demonstrationsrecht zumeist im traditionellen Blame-Game unserer politischen Kultur des Links und Rechts versandet. Diese Kultur ist lagerübergreifend von der Annahme geprägt, dass Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht zwar für die eigene Sache unbedingt verteidigungswürdig ist, aber nicht oder nur unter Auflagen für die Gegenseite. Seit Jahrzehnten mobilisiert die antifaschistische Linke zumeist mit Forderungen nach dem Verbot von rechten und rechtsradikalen Organisationen, Veranstaltungen und Symbolen – und das nicht nur in Deutschland, sondern international. Im selben Maße sind Verbotsforderungen auch auf der Gegenseite ein beliebtes Mittel der Mobilisierung. „Antifa verbieten“ ist nicht erst seit Donald Trump in aller Munde, der Hinweis auf Linksextremisten ist auch in der Begründung staatlicher Verbotspolitik ein gewichtiges Argument.
In dieser polarisierten Situation gelingt es dem Staat, die Beschränkung der Meinungsfreiheit für alle als Ausdruck der politischen Neutralität und der Verantwortung für die Demokratie zu legitimieren. Gelingen kann dies nur, weil sowohl rechts als auch links kaum jemand willens und/oder in der Lage ist, aus dem Schützengraben herauszutreten und für Freiheit im Sinne der Aufklärung einzutreten. Im Gegenteil: Auf die Ankündigung des neuen NRW-Versammlungsgesetzes reagierte beispielsweise die „Antifaschistische Linke Münster“ empört, da man nun nicht mehr dazu aufrufen dürfe, Nazi-Aufmärsche zu verhindern. Dass NRW sich die linke Verbotsforderung kurzerhand zu eigen machte, um sie gegen all jene anzuwenden, die sie als „extremistisch“ einstuft, hat man dort immer noch nicht richtig verstanden. Lediglich etwas nachdenklich wird konstatiert, man könne sich im Kampf für die eigenen Ziele wohl nicht „auf den Staat“ verlassen. Echt jetzt? Man könnte schmunzeln ob so viel Naivität, wenn sie nicht so gefährlich für unserer aller Freiheit wäre.
Denn genau diese seit Jahrzehnten von links gepredigte Staatshörigkeit hat den Boden dafür bereitet, dass liberale und staatskritische Ideen heute sehr oft pauschal als „rechts“ verunglimpft werden. Forderungen nach Verboten, Kontrollen, Quoten, Schutzmaßnahmen und Grenzwerten prägen weitgehend heutige linke Politik. Gemeinsam mit der politischen Korrektheit, die das Verbotsdenken bis in die deutsche Grammatik hineintreibt, mit dem durch rechtlich sanktionierte Quotierungen durchgesetzten Staatsfeminismus und mit der immer stärker werdenden Verbotsunkultur in Bezug auf Wissenschaft, Literatur, Musik, Theater und Kabarett entsteht so ein Gesellschaftsklima, in dem unregulierte Freiheit als Gefahr für Zivilisation und Zivilität – und nun auch: für die Gesundheit – gilt. An Universitäten gehört es inzwischen zur moralischen Pflicht selbsternannter „Aktivisten“, Veranstaltungen mit vermeintlich kontroversen Teilnehmern zu boykottieren, zu verhindern oder aber so überzeugende Drohkulissen aufzubauen, die die Veranstalter dazu bewegen, sich selbst zu zensieren.
In der virtuellen Welt greift das Zensieren und Verbieten mittlerweile ebenso ungehemmt um sich. Auch hier sind es bezeichnenderweise „links“ anmutende Forderungen, die zunächst den Einstieg in das „Zensur-Outsourcing“ an Twitter, Facebook & Co. ebneten. Der Jubel über das Löschen der Trump-Accounts und einiger Alt-Right-Größen auf diversen Social-Media-Plattformen war noch nicht verhallt, da wurde letzte Woche bekannt, dass Facebook die Accounts einer der größten linken Organisationen Großbritanniens, der „Socialist Workers Party“ (SWP) gelöscht hatte. Auch wenn mittlerweile die meisten Accounts wieder online sind, so offenbaren Schritte wie dieser – noch dazu gegen eine so langweilige wie irrelevante Partei –, wie ungeniert Silicon-Valley-affine Eliten versuchen, ihre Macht im Schatten der Cancel Culture auszuweiten – entweder, wie in diesem Falle, „aus Versehen“, oder aber mit dem Verweis darauf, die Demokratie zu schützen.
Beim Thema Zensur kommen auf absonderliche Weise Links und Rechts auf einen gemeinsamen Nenner. Sie mögen zwar darüber streiten, was zu zensieren ist. Gemein ist ihnen aber die Ablehnung des Pöbels: Sie stimmen darin überein, dass normale Menschen mit Freiheit nicht umgehen können und daher der Orientierung und Anleitung von oben bedürfen, um nicht abzudriften. Ob diese Erziehungsfunktion mittels klassischer Verbotspolitik oder über den pseudo-progressiven Nudging-Ansatz erfolgt, macht da kaum einen Unterschied. Wir alle bedürfen angeblich des Schutzes, da wir andere Meinungen nicht aushalten, verletzt in Identitätskrisen stürzen oder uns ohne Widerstand indoktrinieren, radikalisieren und brainwashen lassen.
Auf diesem antiaufklärerischen Menschenbild beruht die westliche Cancel Culture. Dieses zu überwinden bedeutet, das veraltete Links-Rechts-Denken zu überwinden und die Freiheit insgesamt zu verteidigen. In der Praxis heißt das: die Meinungsfreiheit derer verteidigen, die man argumentativ bekämpft. Meinungsfreiheit praktiziert man dann, wenn man sie mit der Gegenseite teilt. Dafür lohnt es sich, laut zu demonstrieren und die Feinde der Freiheit auf allen Seiten mächtig einzuschüchtern.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Matthias Heitmann (Jahrgang 1971) ist freier Journalist, Buchautor und Kabarettist. Von ihm sind u.a. erschienen: „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ (2015), „Zeitgeisterjagd spezial: Essays gegen enges Denken“ (2017) und „Schöne Aussichten. Die Welt anders sehen“ (2019). Zudem geistert er als „Zeitgeisterjäger FreiHeitmann“ mit eigenen Soloprogrammen über Kleinkunst- und Kabarettbühnen. Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de. Sein Podcast „FreiHeitmanns Befreiungsschlag“ erscheint regelmäßig auf www.reitschuster.de.
Bild: Boris Reitschuster
Text: Gast
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