„Infizierte nicht ausgrenzen“

Es klingt wie eine Nachricht aus einer anderen Welt. Aus einer anderen Epoche.

„Coronavirus – Bundesregierung warnt vor Ausgrenzung von Infizierten und Kontaktpersonen“, titelte der SPIEGEL noch Anfang Februar, und weiter hieß es im Vorspann des Beitrags: „Alles sei gut vorbereitet für die 120 deutschen Rückkehrer aus Chinas Coronavirus-Zentrum. Die größte Sorge von Gesundheitsminister Jens Spahn: Verschwörungstheorien.“ Noch Ende Februar, also vor rund drei Wochen, sagte der gelernte Bankkaufmann in den ARD-Tagesthemen: „Wichtig ist, dass wir das alle für uns einordnen, an Grippe sterben in Deutschland bis zu 20.000 Patienten im Jahr. Ich will jetzt darauf hinweisen, dass auch das ein Risiko ist, das wir jeden Tag haben. Der Verlauf hier ist sogar deutlich milder als wir das bei der Grippe sehen.“ In diesem Duktus hatte sich der Minister zuvor immer wieder geäußert – fast gebetsmühlenhaft gab er Entwarnung.

Spahns wichtigster Fachmann, der Direktor des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, bezeichnenderweise ein Fach-Tierarzt, musste jetzt auf einer seiner regelmäßigen Krisen-Pressekonferenzen eingestehen, dass er sich das Ausmaß der Katastrophe nicht habe vorstellen können. Eine Aussage, die erschüttert: Hat man im Institut die unfassbaren, dramatischen Bilder aus China nicht gesehen, und die Statistiken? Wie ganze Straßenzüge desinfiziert wurden, wie hastig riesige Krankenhäuser gebaut bzw. aufgerüstet wurden, wie Helfer nur in schwerster Schutzkleidung unterwegs waren, wie die Leichensäcke abtransportiert wurden? Hat Wieler das Krisenszenario des Bundestags von 2012 nicht gelesen, indem für eine fast identische Epidemie umfangreiche Vorbereitungsmaßnahmen gefordert, aber ganz offensichtlich nicht umgesetzt wurden?

Es wäre zum lachen, wenn es nicht zum heulen wäre, dass nun genau diese Verantwortlichen, wie Spahn, der vor Ausgrenzung warnte und verharmloste, beklagen, dass so viele Menschen Corona nicht ernst nehmen – nachdem sie ihnen wochenlang genau das gepredigt hatten – es nicht ernst zu nehmen. Und es ist zum weinen, dass vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender dieses Versagen der Verantwortlichen vergessen zu haben scheinen – und sie in Dauerschleife loben (und dafür ständig die Versäumnisse in anderen Ländern laut beklagen – ganz offenbar um abzulenken von denen im eigenem Land).

Das Wegsehen der öffentlich-rechtlichen Medien hat einen guten Grund. Sie selbst haben massiv und unverantwortlich Beschwichtigung betrieben. Menschen, die auf die Gefahren frühzeitig hinwiesen, wurden verächtlich gemacht und in die rechte Ecke gestellt wie etwa beim Bayerischen Rundfunk: Corona hochansteckend und gefährlich? Das sei Verschwörungstheorie und Panikmache, das Virus sei weniger ansteckend als Grippe und Masern, hieß es da noch in den letzten Januartagen – als habe es die Bilder aus China nie gegeben. Das „Aufklärungsvideo“ ist jetzt nicht mehr abrufbar auf den Seiten des Senders (aber hier).

Unter dem Titel „Lasst Euch nicht von der Corona-Panik anstecken“ machte sich die heute-Show im ZDF noch am 3.2. über die Warner lustig (anzusehen hier). Ins gleiche Horn stieß auch Monitor in der ARD: „Ist diese Dauererregung wirklich angemessen?“ so die Frage in dem Beitrag vom 31. Januar. Die Antwort des ARD-Journals: Eher nicht, Gefährlichkeit geringer als angenommen. Tenor: Es sei eher Panikmache, dem bösen Kapital gehe es nur um Geldmache (anzusehen hier).

Am 27. Januar meldete „ZDF heute„: „Der Präsident des Robert Koch-Instituts bezeichnet die Gefahr für die deutsche Bevölkerung als ,sehr gering´: ,Deutschland ist absolut gut vorbereitet. Wir haben ein hervorragendes Gesundheitssystem, so Prof. Lothar Wieler.“

Beim heute-Journal im ZDF hieß es am 30. Januar: „Was passiert, wenn ein Virus auf eine „Erregungs- und Angstgesellschaft“ trifft? Das beobachten Forscher gerade, auch bei uns: Panikmache im Netz, Fakenews von Populisten. Das Virus geht viral – schneller als Fakten folgen können. Warum ist das so? #coronavirus #FakeNews.“

Noch am 11. März, als in Italien schon das Ausmaß der Katastrophe klar war, brachte „Frontal 21“ im ZDF einen Beitrag, der in der Auswahl der Experten sehr tendenziös war. Tenor: Alles maßlos übertrieben und in Wirklichkeit halb so schlimm (anzusehen hier). Ausführlich zu Wort kam dort Wolfgang Wodarg, ein Lungenarzt und ehemaliger Bundestagsabgeordneter der SPD. Wodarg behauptet, die Pandemie sei Panikmache, und wenn man nicht gezielt auf das Virus testen würde, würden die Erkrankungs- und Todesfälle in den Grippestatistiken gar nicht weiter auffallen. Dass unterschiedliche und auch kritische Stimmen in einem Beitrag zu Wort kommen, ist nicht nur gut, sondern nötig. In diesem konkreten Beitrag war aber die beschwichtigende Meinung klar die massiv vorherrschende, und sie wurde auch nicht kritisch befragt.

Jakob Augstein, Millionenerbe und SPIEGEL-Miteigentümer, schrieb noch Ende Februar auf twitter: „Ist angesichts einer Sterblichkeit von z.Zt. vielleicht 4%, die Panik in Sachen #Corona gerechtfertigt? Das ist weniger als bei echter Grippe.“

Ebenso unglaublich die Einschätzung von Richard David Precht, dem im öffentlich-rechtlichen Fernsehen allgegenwärtigen Welterklärer: „Ich finde das sehr spannend, wir brauchen im Zuge der ökologischen Umwandlung unserer Wirtschaft, unserem fundamentalen Paradigmenwechsel hin zur Nachhaltigkeit einen Staat, der verbietet, der einschreitet, der klare Grenzen setzt, der kontingentiert, und die Leute sind, das sagen jedenfalls die Liberalen und viele anderen auch, nicht bereit dazu. Jetzt kommt etwas vergleichsweise Harmloses, etwas was so gefährlich ist wie die Grippe, mit einer Mortalitätsrate von 0,3 Prozent der Betroffenen, und auf einmal ist alles anders, der Staat greift ein, setzt unter Quarantäne, Verordnungen gibt es, Veranstaltungen werden abgesagt, die Leute fliegen weniger, plötzlich ist alles möglich, obwohl es sich um eine sehr kleine Bedrohung handelt, aber angesichts der ganz großen Menschheits-Bedrohung scheint das alles nicht möglich zu sein.“

Precht sieht sogar so etwas wie eine „Sehnsucht nach einem Ausnahmezustand“: „Ich glaube, dass in einer Gesellschaft, die seit sehr sehr langer Zeit keinen Krieg mehr erlebt hat, keine echten Seuchen und keine echten Epidemien, keine Massaker und keine Bürgerkriege, es einen gewissen Spaß und Grusel an solchen Ausnahmezuständen gibt, und dass man das Gefühl hat, es passiert etwas besonderes, das hat man sonst nur bei Fußballweltmeisterschaften im eigenen Land. Jetzt hat man auch das Gefühl, oh, es ist alles anders.

Ganz am Anfang habe auch ich mich von der Beschwichtigung anstecken lassen – offenbar war das Restvertrauen in unsere Behörden, die damals massiv beschwichtigten, noch zu groß. Am 22.1. habe ich auf facebook und twitter über eine Schlagzeile „Ein Virus erschreckt die Welt“ geschrieben: „Unsere tägliche Katastrophe gib uns heute – Ebola, Schweinepest, Hühnergrippe, BSE und Co. – fast täglich grüßt der Weltuntergang. Ohne den müsste man sich ja auch mit den Problemen beschäftigen, die nahe liegen.“ Der ständige Alarmismus bei uns hat auch bei mir zu einer Abstumpfung geführt. Meine naive Einschätzung – hastig hingeschrieben in einem tweet – habe ich aber endgültig revidiert, nachdem ich wenige Tage darauf in Moskau war – und schon am Flughafen alle Beamten Mundschutzmasken trugen. Seitdem habe ich versucht, zu warnen so gut es geht – als hierzulande noch fast alle im Beschwichtigungs-Modus waren.Die Krise ist nicht nur eine existentielle Gefahr für sehr viele Menschen – für ihre Gesundheit, für ihr Leben, für ihren Lebensunterhalt. Sie ist auch eine Art „Idiotentest“ für Politiker, Beamte, Journalisten und Prominente. Bei dem viele von ihnen krachend durchgefallen sind. Umso heuchlerischer ist es jetzt, wenn sie sich über das dumme Volk beklagen, dass ihre Warnungen nicht ernst nimmt. Viele von denen, die heute so töricht und unverantwortlich handeln, tun dies eben auch aufgrund der viel zu langen Beschwichtigung.

Das Grundproblem liegt tiefer: „Keine Ausgrenzung von Corona-Infizierten“ – kaum eine Aussage bringt die Wirklichkeitsferne unseres linksgrünen, quasiamtlichen Zeitgeists besser zum Vorschein. Große Teile der Elite haben sich entkoppelt von der Realität und es sich gemütlich in einer Pipi-Langstrumpf-Welt eingerichtet. Motto: „Ich mach mir die Welt, widiwidiwidi wie sie mir gefällt“. Bei eher abstrakten Problemen wie der Klimaerwärmung ging das gut, bei der Flüchtlingskrise ließen sich die Folgen im Elfenbeinturm ausblenden – jetzt dagegen erfolgt der Totalcrash der linksgrünen, weltfremden Ideologie der Umgestaltung der Gesellschaft am Reissbrett. Und eben wegen der so langen Realitätsflucht sind wir so schlecht vorbereitet.


Bild: Pixabay

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