Von reitschuster.de
Ist es nur fehlender Instinkt? Oder Zynismus? Oder schlicht Realitätsferne? Während deutschen Urlaubern die Vorfreude auf die schönste Zeit des Jahres schon beim stundenlangen Warten auf dem Flughafen vergeht, vergnügt sich eine Delegation des Tourismus-Ausschusses des Deutschen Bundestages auf einem mehrtägigen Trip durch Italien. Auch wenn bei der Städtereise nach Mailand und Venedig laut offizieller Darstellung die „Informationsgewinnung und der Austausch zu aktuellen tourismuspolitischen Themen“ im Vordergrund stehen soll, vermitteln die von den Abgeordneten fleißig geposteten Selfies ein ganz anderes Bild. So freut sich etwa Lena Werner (SPD) auf Instagram darüber, dass sie ihre Kollegin Karoline Otte (Grüne) „schon mal gefunden“ hat und postet zur Feier des Tages ein Foto, das die beiden vor dem Mailänder Dom zeigt. Sogar Mike Moncsek (AfD) durfte ausnahmsweise mit auf das gemeinsame Gruppenfoto der acht „Polit-Touris“ aus Berlin.
Die erste Information gewann Jana Schimke (CDU) freilich schon am Flughafen in Berlin. Im Flugzeug sitzend und auf den Abflug in Richtung Süden wartend klagte die Delegationsleiterin über Twitter: „Wenn du glaubst, es geschafft zu haben, die Sicherheitskontrollen am Flughafen durchlaufen hast und angeschnallt im Flieger sitzt, sagt der Pilot, dass der Abflug sich durch den Mangel an Fluglotsen um 1:20 h verzögert.“ Warum glaubt Frau Schimke eigentlich, dass es ihr besser ergehen sollte als Millionen von Touristen, die in den vergangenen Tagen auf den deutschen Flughäfen gestrandet sind? Ganz nebenbei wäre das ein „tourismuspolitisches Thema“, dem sie sich schon längst hätte annehmen können. Da die CDU-Politikerin aber weiß, dass man im Leben Prioritäten setzen muss, ging es erstmal zum Städtetrip nach Italien und „in der kommenden Sitzungswoche befasst sich der Ausschuss mit der Situation an deutschen Flughäfen“, wie Schimke gegenüber Bild sagte. Erst das Vergnügen, dann die Arbeit!
Sightseeing in Mailand und Gondelfahrt durch Venedig
Spätestens mit der Landung in Mailand dürfte der Ärger über die Verspätung aber verraucht gewesen sein. Schließlich warteten zwei der schönsten Städte Italiens darauf, von den Mitgliedern des Tourismus-Ausschusses besichtigt zu werden. Und wenn es um die Bedeutung dieser Reise für die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien geht, darf man auch nicht zu tief ansetzen. „Wir brauchen einander, in allen politischen Belangen. Insofern repräsentiert unsere Delegation die Interessen Deutschlands in der Welt“, glaubt Schimke. Was ihre daheimgebliebenen Wähler in Deutschland JETZT bräuchten – und nicht erst in den nächsten Wochen – wären Volksvertreter, die sich um die ganz akuten Probleme kümmern.
Können sich überbezahlte und offensichtlich in ihrer eigenen Parallelwelt lebende Politiker überhaupt noch vorstellen, welche Wirkung es auf den gemeinen Normalbürger hat, wenn die Mitglieder des Tourismus-Ausschusses ausgerechnet in diesen Tagen zu einer Städtereise nach Italien aufbrechen? Als wäre das nicht schon taktlos genug, müssen auch noch fröhliche Selfies ins Netz gestellt werden, die die Politiker bei ihrer schweißtreibenden „Arbeit“ zeigen – Gondelfahrten durch die Kanäle Venedigs sowie Bilder mit dem Mailänder Dom oder einer Bronzestatue als schmückendem Hintergrund.
„Beschäftigte und Fluggäste werden regelrecht in Geiselhaft genommen“
Deutliche Worte in Richtung der illustren Reisegruppe, der Politiker aus allen im Bundestag vertretenen Fraktionen angehörten, fand Özay Tarim. Der Verdi-Sekretär bezeichnete die Zustände auf den deutschen Flughäfen als „inakzeptabel“ und sagte: „Hier werden Beschäftigte und Fluggäste regelrecht in Geiselhaft genommen.“ Die Situation sei vorhersehbar gewesen, da im vergangenen Sommer nach der langen Corona-Pause ein ähnlicher Effekt zu beobachten gewesen sei, kritisierte der Gewerkschafter. Im Zusammenhang mit der hektischen Suche nach kurzfristigen Lösungen für die Engpässe beim Sicherheits- und Bodenpersonal sprach Tarim von „Flickschusterei“. Er sehe aktuell nur Schadensbegrenzung, ein Konzept oder einen Plan könne er derzeit aber nicht erkennen.
Und auch aus der Politik gab es Kritik am Verhalten der Bundestagsabgeordneten. Klaus Brähmig (CDU) war von 2009 bis 2015 Vorsitzender des Tourismus-Ausschusses und hat für die Städtereise nach Italien wenig Verständnis: „Man muss in der Politik die Prioritäten richtig setzen. In Deutschland bricht aktuell die Infrastruktur auf Bahnhöfen und Flughäfen zusammen, und die Tourismusexperten des Bundestags fahren nach Mailand und Venedig. In diesen Zeiten hätten die touristischen Probleme in der Heimat für mich absolute Priorität.“ Sachsen-Anhalts Tourismusminister Sven Schulze hätte sich anstatt der Bilder vom Mailänder Dom eher über ein Foto gefreut, das die Mitglieder des Tourismus-Ausschusses bei einer Sondersitzung in Berlin zeigt, wie der CDU-Politiker erklärte.
Bild: ShutterstockText: reitschuster.de
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