Von Daniel Weinmann
Gazprom dreht Deutschland den Gashahn zu, durch Nordstream 1 fließt kein Gas mehr. Die Pipeline lieferte vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine rund ein Drittel des von Russland nach Europa exportierten Gases. Während die Bundesrepublik bald auf die Solidarität seiner Nachbarstaaten angewiesen sein könnte, wie die „Welt“ berichtet, fließt seit Mittwoch wieder Erdgas von Deutschland nach Polen. Daten des Pipelinebetreibers Gascade zufolge lagen die Gasflüsse an der Erdgasverdichterstation Mallnow an der polnischen Grenze bei 4.599.525 Kilowattstunden pro Stunde, nachdem sie zuvor auf Null gesunken waren.
Es ist ein unwürdiges Schmierentheater: Seit Anfang September waren die Gasflüsse in Richtung Osten mehrmals unterbrochen und wieder aufgenommen worden. In umgekehrter Richtung wird aktuell gar kein Gas importiert. Immerhin ist das für Oktober gesetzte Ziel, die Gasspeicher in Deutschland zu mindestens 85 Prozent zu füllen, bereits am vergangenen Freitag erreicht worden.
Dennoch sieht sich die Bundesnetzagentur bemüßigt, auf ihrer Website auf das Pipeline-Paradoxon einzugehen. Sie bestätigt, was nicht nur für sogenannte Verschwörungstheoretiker ein handfester Skandal ist: „Seit Jahresanfang verläuft der Gasfluss in Mallnow überwiegend von Deutschland nach Polen. Das Gas wird also exportiert. Die importierte Menge Gas ist dann Null.“
Geht es nach dem Bundesverband für Energie- und Wasserwirtschaft, gibt es gute Gründe, warum trotz der sich zuspitzenden Energiekrise Gas aus Deutschland nach Polen fließt. Das Gasnetz habe viel mit dem Stromnetz gemeinsam, schreibt das BDEW, „was beim Stromnetz die Hochspannungsleitungen sind, entspricht beim Gasnetz den großen Pipelines mit einem Durchmesser von bis zu 1,30 Metern. Sie erstrecken sich von den Weiten Russlands bis nach Portugal und von Lappland bis Sizilien: ein Röhrenlabyrinth mit einer Gesamtlänge von mehr als 225.000 Kilometern.“ Gleichsam ein Labyrinth aus kommunizierenden Röhren, die von vielen Ländern genutzt werden.
»Die globalen Märkte laufen meist anonym ab«
„Über deutsches Territorium werden erhebliche Gasmengen in andere EU-Staaten transportiert“, präzisiert das Bundeswirtschaftsministerium. Mallnow ist vor diesem Hintergrund daher nur ein Umschlagplatz innerhalb des europäischen Gasnetzes. Nach dieser Lesart fließt genau jenes Gas durch das Röhrenlabyrinth, das polnische Händler nach dem russischen Lieferstopp von anderen Händlern in Westeuropa gekauft haben.
Es muss sich demnach nicht zwangsläufig um deutsches Gas handeln, das die polnischen Speicher füllt. „Das Gas kann von polnischen Firmen, oder italienischen oder Firmen eines anderen Landes genutzt werden, wird aber über die Leitung transportiert“, so eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums gegenüber „ZDFheute“.
Wer genau welche Gasmengen wo kaufe und an wen liefere, könne man von außen kaum nachvollziehen, sagte Tobias Federico, Geschäftsführer der Beratungsagentur Energy Brainpool, dem öffentlich-rechtlichen Sender. „Die globalen Märkte laufen meist anonym ab. Es ist weder rechtlich noch praktisch machbar, deutschen Unternehmen ein Weiterverkaufsverbot etwa an Polen aufzuerlegen. Das sind privatwirtschaftliche Firmen.“ Wohl dem, der angesichts dieser Gemengelage den Überblick behält.
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Daniel Weinmann arbeitete viele Jahre als Redakteur bei einem der bekanntesten deutschen Medien. Er schreibt hier unter Pseudonym.
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