Ein Gastbeitrag von Gunter Weißgerber. Weißgerber war Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90, Mitbegründer der Ost-SPD, Mitglied der freigewählten Volkskammer 1990, Mitglied des Deutschen Bundestages 1990–2009.
Was unterscheidet eine Schlinge am Galgen von einer russischen Pipeline? Am Galgen wird gehangen, am Pipeline-Ende wird kollabiert. So tot am Ende der eine ist, so zusammenstürzen wird der andere. Der bzw. die andere ist in dem Fall die mittels Energie-, Mobilitäts-, Agrar-, Zuwanderungs- und Geschlechterwende in ein grünkaserniertes Kartenhaus verwandelte ehedem funktionierende Bundesrepublik. Die sich an Putins Pipeline und damit an dessen Gashahn schweißte.
Hatten 1989/90 die Ostdeutschen mit dem Beitritt zur Bundesrepublik, zur EWG und zur NATO eine funktionierende Option statt eines desaströsen dritten Weges vor Augen, so gibt es 2022/23 im Falle eines Kollapses des Staates keine hoffnungsvolle Option. Die ganze EU würde in den Sog der abstürzenden „Bundesrepublik“ gerissen, nicht einmal die Visegrád-Staaten würden uns nehmen.
Mir fehlt die Phantasie, den Kollaps auszuschließen. Die Holozän-Skeptiker wollen Deutschland ohne einen Plan B in der Tasche in eine surreale Zukunft transformieren. Koste es, was es wolle, und wenn die gesamte Bundesrepublik in Volksaufstände (Außenministerdarstellerin Annalena Baerbock am 20. Juli 2022) verwickelt würde.
Die Volksaufstände des 20. Jahrhunderts wurden bis auf die Friedliche Revolution 1989/90 immer mit Panzern blutig beendet. 1953 Ostdeutschland, 1956 Ungarn und Polen, 1961 Einmauern der Ostdeutschen, 1968 Beendigung des „Prager Frühlings“, 1981 Kriegsrecht in Polen, 1989 Massaker auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking, 1991 „Blutsonntag“ in Vilnius. Auch der russische Überfall auf die Ukraine seit 2014 ist Teil dieser blutigen Liste. Wie stellt sich Frau Baerbock Volksaufstände und deren Ende in der Bundesrepublik vor? Panzer? Zensur? Neue Stasi? Volle Gefängnisse?
Scheiterte der Ostblock an der systemimmanenten Unmöglichkeit, wirtschaftliche Effizienz und breite Chancen auf Wohlstand in Übereinstimmung zu bringen, so steht die vergrünte Bundesrepublik mit ihrem selbstgewählten Abschied aus Marktwirtschaft, Energieautarkie, funktionierender Landwirtschaft und historisch gewachsener Gesellschaft weltweit einzigartig armselig da. Ob mit tauglichen oder untauglichen Mitteln, weder andere Demokratien noch Diktaturen bauen sich bewusst selbst ab. Das praktizieren nur die deutschen Superdemokraten, die allesamt bei genauem Hinschauen grüne Höschen tragen.
Diese Gesellschaftsarchitekten werden mit ihrem Aufstand gegen die vier Grundrechenarten und gegen die Physik scheitern. Sie werden ihr eigenes Erbrochenes essen müssen. Leider sitzen auch alle anderen, die gewarnt haben und diese Entwicklung nicht wollten, mit am Tisch und müssen mitschlucken.
Die Wut wächst gewaltig, die Macht des Faktischen wird täglich spürbarer. Deutschlands Energienotstand, der komplett „Marke Eigenbau“ ist, wird es erzwingen, die energetischen Verhältnisse bei Strafe des Kollabierens wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Der einzige Weg aus der Energieabhängigkeit von den russischen Röhren heißt für Deutschland „Zurück zur Natur, also hin zur grundlastsichernden eigenen Kohle, zum eigenen Fracking-Gas und zur eigenen Atomenergie“! Sonne und Wind sind zusätzliche Energiequellen, zumal in eher nördlichen Hemisphären. Die Regierungen werden es begreifen oder sie werden gehen müssen. Aufhalten können sie beides nicht mehr.
Viele Menschen in Deutschland hoffen in ihrer Not auf Nord Stream 2, die mit Gas befüllte zweite Röhre. So nachvollziehbar der Wunsch sein mag, seine Erfüllung würde den Aggressor vor Lachen nicht in den Schlaf kommen lassen und klar zur Verstetigung der Energiewende führen, die eine der Hauptursachen für Deutschlands „dumme“ Energiesituation und die extremen Energiepreise ist.
Wer weiterhin auf Nord Stream hofft, statt auf die Beerdigung der Energiewende zu setzen, ist auf dem Holzweg. Energiewende/Energieabhängigkeit und Gasnotstand sind drei Begriffe für eine einzige Sache. Die Energiewende ist insofern sehr speziell nachhaltig: Deutschland kommt nicht mehr auf die Beine.
Deutschland war Lokomotive Europas, jetzt ist es ein Betonklotz an Europas Füßen. Der Verzicht auf die Energiewende würde Deutschland vom Beton an den Füßen befreien und wieder zu einer Lokomotive werden lassen.
Ich mag mir den Kollaps nicht vorstellen, wünsche ihn mir erst recht nicht. Ohne eine gute Auffangposition kann das aber alles nur katastrophal werden. Die Not kehrt nach Deutschland zurück. Dabei ist es so schade. Die Bundesrepublik bis 2015 war zwar nicht das Paradies, aber einem guten Ort sehr nahe.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Gunter Weißgerber war Montagsdemonstrant in Leipzig, Mit-Gründer der Ost-SPD und saß dann 19 Jahre für die SPD als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. 2019 trat er aus der Partei aus. Der gelernte Bergbauingenieur ist heute Publizist und Herausgeber von GlobKult. Im Internet zu finden ist er unter www.weissgerber-freiheit.de.
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