Im Stadtteil „Kombinat“ riecht es nach verwesten Leichen, die noch unter den Trümmern liegen, weil keine Bergungstrupps anrücken können
Ich würde Putin hassen, werfen mir Kritiker vor, die bis heute große Stücke auf den Kreml-Chef halten. Hass ist aber nicht meine Sache. Ich liebe Russland und die Menschen dort. In 16 Jahren Moskau habe ich allerdings das System Putin in- und auswendig kennengelernt. Selbst Putins aktueller Sprecher ist ein Duzfreund von mir aus besseren Zeiten. In den 22 Jahren, die ich mich mit Putin befasse, wurde mir immer mehr klar, was für eine Gefahr von ihm ausgeht. Auch deshalb, weil er, wie er selbst zugibt, als KGB-Mann ein Meister im Täuschen und Anwerben von Menschen ist. Wer kein Russisch kann und seine Herrschaftsmethoden nicht selbst erlebt hat, läuft Gefahr, ihm auf den Leim zu gehen. Ich veröffentliche deshalb jetzt regelmäßig ältere Texte von mir – als Hilfe, Putin zu verstehen. Leider bewahrheiten sich meine Warnungen, die lange kaum jemand ernst nehmen wollte, auch in Politik und Medien.
Hier mein Bericht aus der besetzten georgischen Stadt Gori von 2008:
Greise in Kinderbetten, Raketen im Schuppen und Soldaten bei der Selbstbedienung: In der besetzten georgischen Stadt Gori spielen sich schreckliche Szenen ab. Flüchtlinge berichten von ethnischen Säuberungen.
„Ich habe für Russland gegen Hitler gekämpft, und jetzt hat mich Russland obdachlos gemacht“, klagt Konstantin Chercheuladse mit stockender Stimme. „Ich habe nur noch die Kleider, die ich trage. Mit meinen 83 Jahren muss ich jetzt in einem Kinderbett schlafen, das mir viel zu klein ist, muss mich krümmen die ganze Nacht“, klagt der pensionierte Lehrer und verliert seinen Kampf gegen die Tränen. „Jetzt werde ich wohl wieder hungern müssen, wie damals, im Krieg. Wozu noch leben? Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr.“
In einen Kindergarten haben sie ihn gebracht, als Flüchtling, hier in Gori, Stalins Geburtsstadt in Zentralgeorgien. In ein winziges Kinderbett haben sie ihn verfrachtet, inmitten von Kinderkleidung und Spielzeug. „Russische Soldaten kamen in unser Dorf, nach Kurta, bei Zchinwali, und in ihrem Schlepptau kamen Plünderer, sie haben alles mitgenommen, was sich aus den Häusern tragen ließ, meinen Fernseher, Kühlschrank, alles“, sagt Chercheuladse und sucht mit seiner zitternden Hand Halt an der Kante des Kinderbettes: „Dann kamen Männer in Uniform und sagten, alle, die Georgier sind, müssen wegfahren, sonst würden sie erschossen.“ Sie setzten Chercheuladse in einen Bus und fuhren ihn weg von Zuhause, weg von seinem alten Leben. Ihn und alle im Dorf, die Georgier sind.
Greise aus der Heimat gejagt
Jetzt sitzen sie hier, der gebrechliche alte Lehrer, mit einem ganzen Straßenzug früherer Dorfnachbarn. In einem schwülen Schlafsaal im Kindergarten Nummer zwei in Gori, das immer noch von russischen Truppen besetzt ist. Alles sind sie Greise, zittrig und gebrechlich die meisten. Wer jünger war, kräftiger, mehr Geld hatte, ist längst auf eigene Faust geflohen, bei Verwandten untergekommen. Die Alten sitzen auf viel zu kleinen Kindergarten-Stühlchen, und sie weinen. Nur einmal haben sie sich gefreut: Als Helfer Wasser und ein paar Laib Brot brachten, sogar etwas Käse. „Ich habe meinen Mann verloren, ich weiß nicht, ob er noch lebt“, sagt Chercheuladses Schwester, die auf einem winzigen Kinderstühlchen mehr kniet als sitzt: „Können Sie mir nicht helfen, ihn zu finden? Er ist doch mein Mann!“
Mit abwesenden Blicken starren die meisten vor sich hin. Immer wieder durchschneidet ein Schluchzen die Stille. Wenigstens zieht es ein bisschen durch die zerbrochenen Fenster. Immer wieder fallen sich Frauen in die Arme, weinen gemeinsam.
Vom Hubschrauber aus beschossen
Im Nachbarsaal sitzt Manana Galegaschwili, eine Lehrerin aus dem Nachbardorf Aschaweti. „Russische Katastrophenschützer haben alle Georgier aus unserem Dorf rausgebracht“, sagt sie. Die Frau neben ihr erzählt, wie ein Hubschrauber auf sie geschossen hat und sie kaum davonkam. Zwei andere Frauen hätten die Kugeln tödlich getroffen, sagt sie. „Die Russen zwangen mich, ihnen ein Fernsehinterview zu geben. Die Antworten, die ich geben sollte, hatten sie auf einen Zettel geschrieben. Ich musste das dann vor laufender Kamera sagen, für den russischen Sender NTV, die standen mit Kalaschnikows hinter der Kamera“, erzählt Galegaschwili. „Sie hätten mich erschossen, wenn ich ihre Lügen nicht gesagt hätte, dass ich selbst nach Südossetien gebracht worden sei von den Georgiern.“
Die Propaganda sei schuld am Krieg, glaubt die Lehrerin: „Wir haben immer friedlich zusammengelebt, das Fernsehen hat die Menschen aufgehetzt.“ Einmal zieht sie die Augenbrauen zusammen und blickt grimmig: „Sagen Sie ihren Politikern in Deutschland, dass sie schuld sind. Sie haben den Nato-Beitritt Georgiens verhindert, sie haben uns zum Abschuss durch die Russen freigegeben.“
Vize-Gouverneur Tschotschischwili vor einem Haus, in das eine Rakete einschlug
Etwas weiter steht Schuschina Mirabischwili vor dem Haus, in dem einst ihre Wohnung war. „Ich telefonierte gerade, da machte es auf einmal bums“, sagt sie und wiederholt das „Bums“ immer wieder und immer lauter, als wolle sie sich den Schreck aus dem Hals schreien. Die 70-Jährige ist ganz in Schwarz gekleidet und hält sich ein Taschentuch unter die Augen. „Eine Rakete hat uns getroffen, alles ging ganz schnell, meine ganze Wohnung brannte aus.“ Sie zeigt nach oben, auf den Teil des Wohnblocks, von dem nur noch schwarze Mauern und angesengte Fensteröffnungen übrig sind. Alles, was sie besaß, ist verbrannt.
„Warum? Was habe ich angestellt?“, sagt sie immer wieder und streckt die Hände zum Himmel. „Wer hilft mir jetzt? Wie soll ich leben?“ Dann geht sie zu einem Schuppen nebenan und schließt das Vorhängeschloss auf. Drinnen liegen Reste von dem Geschoss, das ihr Haus traf. Auf Anweisung des Geheimdienstes haben die Hausbewohner es in dem Schuppen verschlossen, als würde ein Beweisstück helfen. Fast einen Meter Durchmesser haben die Überreste, ein rundes Rohr liegt da, daneben ein Drahtgestell, und verschiedene Metallteile.
1.200 Verwundete an einem Tag
Fünf Autominuten durch die menschenleeren Straßen weiter zählt Chefarzt Nukri Dchochadse im Militärkrankenhaus die Verluste. 1200 Verwundete hat er all die Tage verarztet. 18 Menschen sind gestorben in der Stadt. Einer war Arzt bei Dchochadse: „Nachts um zwei stand er da“, sagt der schmächtige Mann mit dem schütteren Haar und zeigt auf einen kleinen Platz mit Bänken und Bäumen vor dem Krankenhaus. „Dann kam ein Flieger, feuerte eine Bombe, die schlug auf dem Asphalt auf, mähte diesen Baum hier nieder und riss meinem Kollegen buchstäblich den oberen Teil des Schädels ab. Und das, obwohl wir ein großes rotes Kreuz auf dem Dach haben. Unser Notarzt, der neben ihm stand, war machtlos, er konnte nur den sofortigen Tod diagnostizieren.“ Der tote Arzt hinterlässt eine Frau und drei Kinder.
„Es ging aufwärts bei uns, mit kleinen Schritten, doch jeden Tag haben wir ein Stück gebaut“, sagt Ramas Tschotschischwili, ein großer Mann mit dichten Bartstoppeln. Er ist Vize-Gouverneur, vielleicht muss man sagen, er „war“ es. So genau weiß das keiner im Moment, wo die Russen die Stadt kontrollieren. Auf den Straßen sind die Soldaten, die von der anderen Seite des Kaukasus-Kammes ins Land kamen, kaum zu sehen. Sie bewachen nur die strategisch wichtigen Punkte. Und wenn Vize-Gouverneur Tschotschischwili jetzt über die Mtkvari-Brücke von einem Teil Goris in den anderen will, muss er dazu russische Soldaten um Erlaubnis bitten: Auf beiden Seiten sind die Auffahrten auf die Brücke von russischen Panzern abgeriegelt.
Tschotschischwili fährt in den Stadtteil „Kombinat“. „Halten Sie etwas bereit für die Nase, ein Tuch, es riecht dort unerträglich“, warnt er und spricht plötzlich nur stockend weiter: „Dort liegen Leichen unter den Trümmern. Wir können sie nicht bergen, weil die Russen das Bergungsgerät nicht durchlassen.“ Die Annäherung an das zerbombte zweistöckige Haus fällt schwer. Auch der starke Wind kann den süßlichen Geruch der Leichen, die unter den Trümmern verwesen, nicht vertreiben. Hausrat liegt über die Straße verstreut, einen alten Sessel hat die Druckwelle offenbar mitten auf den Asphalt hinauskatapultiert.
Ein paar Straßen weiter kommt es an zwei Bussen des türkischen Roten Halbmonds zu einem Handgemenge. Helfer verteilen Kartons mit Lebensmitteln an die Menschen. Dutzende Hände recken sich nach oben, Richtung Tür. Eine alte Frau stolpert, andere fallen auf sie, weitere versuchen, ihr den Karton mit Reis und Mehl abzunehmen. Sie versucht, ihn festzuhalten, klammert sich an ihn, schreit aus letzter Kraft.
Stadt fast ausgestorben
Fast alle Geschäfte in Gori sind geschlossen. Nur noch 7.000 bis 10.000 Menschen sind in der Stadt geblieben, die sonst knapp 50.000 Einwohner zählt. „Die Versorgungslage ist so katastrophal, weil die russischen Streitkräfte selbst nicht patrouillieren, aber auch unsere Polizei nicht in die Stadt lassen. Wir sind jetzt ein rechtsfreier Raum, deshalb machen die Geschäfte aus Angst vor Plünderungen nicht auf“, klagt Vize-Gouverneur Tschotschischwili. Die Russen haben eine Ausgangssperre verhängt: Wer zwischen 22 Uhr abends und 6 Uhr morgens auf die Straße geht, werde sofort erschossen – so erzählen es zumindest die Anwohner, und überprüfen lassen sich solche Nachrichten schlecht in diesen Tagen.
Bislang gab es in Gori im Gegensatz zu den umliegenden Dörfern kaum Plünderungen. Auch sind fast alle Häuser intakt, von Einschusslöchern und kaputten Scheiben abgesehen. „Die Soldaten verhalten sich korrekt, das muss man der Wahrheit halber sagen“, berichtet ein alter Mann.
Versorgung aus Armeebeständen
In der Suchischwili-Straße im Stadtteil Werchbebi haben Moskaus Truppen die örtliche Kaserne besetzt. Vor den Augen einer Schützenpanzer-Besatzung räumen die Anwohner die Armeebestände aus den Lagern aus. „Wir haben das erlaubt, weil die Menschen ja sonst nichts zu essen haben“, sagt ein russischer Leutnant, Kommandant des Panzers. „Wir sind hier nur auf der Durchreise.“ Seine Soldaten tragen Wassermelonen in den Panzer und binden eine Matratze auf ihm fest. Beutegut. Etwas weiter hinten packen russische Soldaten eine ganze Ladung von neuen Matratzen auf einen ihrer Militärlaster.
Moskau behauptet, die Truppen würden jetzt abgezogen, berichten um diese Zeit die Nachrichtenagenturen. Die Bilder vor Ort sprechen eine andere Sprache. Vor der Kaserne in der Suchischwili-Straße ist auf einmal Lärm zu hören. Klirren von Ketten. Eine gewaltige Kolonne von Panzern und Mannschaftswagen ist vorgefahren. „Wir kommen aus Zchinwali“, sagt einer der Soldaten – also aus dem Norden. Die umgekehrte Richtung wäre für einen Abzug logisch. Auf die Frage nach ihren weiteren Plänen haben die jungen Soldaten nur eine Antwort: „Fragen Sie Medwedew!“
Lesen Sie mehr in meinem Buch „Putins Demokratur – Was sie für den Westen so gefährlich macht.“ Aktualisierte Auflage 2018 (Erstauflage 2006).
Bild: Mehdi Bolourian/Shutterstock
Text: br