Von Christian Euler
Während die Schweiz zunehmend aus dem langen Corona-Schlaf erwacht, liegen die Prioritäten hierzulande auf den Verschärfungen der Maßnahmen – obwohl die Infektionskurven beider Länder fast parallel verlaufen und sich die Situation in der Eidgenossenschaft in den vergangenen Wochen sogar leicht verschlechtert hat.
Seit heute dürfen die Schweizer wieder ins Kino, in Fitnessstudios und auf die Terrassen von Restaurants und Bars. Geschäfte, Hotels, Museen und Zoos sind ohnehin geöffnet. Auch der Präsenzunterricht an Hochschulen ist mit bis zu 50 Studierenden möglich. Berlin hingegen hält gebetsmühlenartig an seinem Mantra der „sehr, sehr ernsten Lage“ (O-Ton Merkel) fest. SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach rechnet mit 10.000 Toten bis Ende Mai, während Gesundheitsminister Spahn nicht müde wird, vor der Überlastung des Gesundheitssystems zu warnen.
Sein Schweizer Gegenpart Alain Berset hingegen schätzt das Risiko der Lockerungen als „vertretbar für unsere Gesellschaft“ ein. Wichtiger sei die Dynamik. Zwar will er die Abkehr vom Lockdown nicht als Signal verstanden wissen nachzulassen. Doch die Öffnungsschritte könnten funktionieren, wenn man vorsichtig sei. Auch, weil draußen das Ansteckungsrisiko deutlich geringer sei und große Teile der am meisten gefährdeten Personen nun durch eine Impfung geschützt seien.
Im krassen Gegensatz zur Regierung Merkel erkennt Berset auch die dramatische Lage in der Bevölkerung. Die Situation dauere nun seit über einem Jahr an und viele Menschen könnten schlichtweg nicht mehr, so der Politiker. Gerade für die Jugendlichen seien die Schritte zurück zur Normalität wichtig.
Blaupause für die Bundesregierung?
Es mutet wie ein Experiment an: Ein Land öffnet vorsichtig, das andere forciert den harten Lockdown. Dabei unterscheiden sich die Infektionszahlen in der Schweiz kaum von jenen in der Bundesrepublik. Der wichtigste Unterschied liegt zweifellos in der Bewertung der epidemiologischen Lage: Berlin kapriziert sich ausschließlich auf die leicht durch die Anzahl der Tests beeinflussbare Inzidenz. Bern hingegen hat fünf Kriterien festgelegt:
- Zunächst die Reproduktionszahl, die anzeigt, wie sich das Virus verbreitet.
- Die 14-Tage-Inzidenz. Sie spiegelt wider, wie viele Personen pro 100.000 Einwohner sich in den letzten zwei Wochen mit dem Virus angesteckt haben. Gemäß den Kriterien des Schweizer Bundesamts für Gesundheit (BAG) sollte sie nicht höher liegen als am 22. März, dem Tag des letzten Öffnungsschrittes, als die 14-Tage-Inzidenz bei 220,9 lag.
- Weiter zieht das BAG den Schnitt der Hospitalisierungen in den vergangenen sieben Tagen heran, der nicht höher als 45 liegen sollte.
- Die Belegung der Intensivbetten durch Covid-19-Patienten. Hier liegt der Richtwert bei unter 250 Betten.
- Und schließlich spielt die Zahl der Todesfälle für die Entscheidungen des Bundesrats eine Rolle. Pro Tag sollen im Schnitt nicht mehr Menschen mit oder an Covid-19 versterben als in der Vorwoche des 22. März, mithin weniger als 6,3.
Kaum glaublich und hierzulande unvorstellbar: Als die Öffnungsschritte in der vergangenen Woche verkündet wurden, waren vier dieser fünf Richtwerte nicht erfüllt. Bern will nun abwarten, wie sich die Infektionslage im Zuge der teilweisen Öffnung entwickelt und weitere Schritte davon abhängig machen. Welches Land sich für die bessere Strategie entschieden hat, wird sich spätestens in ein paar Wochen zeigen. Bestätigt sich der Kurs der Schweiz, täte die Bundesregierung gut daran, sich an unserem südlichen Nachbarn zu orientieren. Indes ist zu vermuten, dass auch dies nicht genügen würde, Merkel & Co. von ihrem festgefahrenen Lockdown-Kurs abzubringen.
Dipl.-Volkswirt Christian Euler widmet sich seit 1998 intensiv dem Finanz- und Wirtschaftsjournalismus. Nach Stationen bei Börse Online in München und als Korrespondent beim „Focus“ in Frankfurt schreibt er seit 2006 als Investment Writer und freier Autor u.a. für die „Welt“-Gruppe, Cash und den Wiener Börsen-Kurier.
Bild: Keitma/Shutterstock
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