Mein Neujahrs-(Kultur)Schock: Silvester-Chaos in Berlin Ihnen allen ein besseres 2023!

Selten habe ich ein schöneres Neujahrsfest erlebt als dieses Mal. Tagsüber sommerliche Temperaturen in Montenegro (wie heuer in Deutschland auch), Menschen, die noch im Meer schwimmen, und dann ein Fest ohne Ende: Vor den historischen Stadtmauern in Budva mit seiner bezaubernden Altstadt aus venezianischen Zeiten (in der einst „Pippi Langstrumpf“ gedreht wurde) eine riesige Tribüne, Musik-Stars aus dem ganzen Balkan, kaum Polizei, kaum Sicherheitskräfte, Feierstimmung pur, gute Laune, Ausgelassenheit. Kinder überall, eine Stimmung, die man schwer in Worte fassen kann, so schön. Zehntausende kommen zum Jahreswechsel aus dem ganzen früheren Jugoslawien, vor allem aber aus Serbien, in das „Saint Tropez“ des Balkans. Der sonst im Winter verschlafene Badeort verwandelt sich in eine überfüllte Metropole.  Bis in den frühen Morgen wird gefeiert – wobei vor und nach Mitternacht auffällig wenig geballert wird. Ich habe nicht nur meinen musikalischen Horizont wesentlich erweitert (hier zwei kurze Videos vom Neujahrskonzert und vom Feuerwerk, und zwei Band-Kostenproben – Kiril Dzajkovski und Dubioza kolektiv).

Obwohl ich nicht nahe am Wasser gebaut bin, muss ich ehrlich gestehen: Mir kamen bei dem Konzert Tränen. Tränen der Freude und der Rührung. Dass ich so ein wunderbares Neujahr-Fest in so wunderbarer Atmosphäre mit so wunderbaren Menschen erleben durfte. Was für ein Kontrast zu Berlin: Dort traut man sich, zumindest mit den Kindern, schon ab dem späten Nachmittag kaum noch auf die Straße – nach einschlägigen Erfahrungen, dass Böller auf einen geworfen wurden. Und selbst mit Ohrenstöpseln und geschlossenen Fenstern ist das Einschlafen dort bis in den frühen Morgen eine Herausforderung. Während in Budva trotz aller Feiern entspannte Nachtruhe angesagt ist.

Klassik am 1. Januar

Heute Morgen dann der nächste Kulturschock: Selbst auf den russischsprachigen Seiten, die ich jeden Tag besuche, wurde vom Silversterchaos in Berlin berichtet. Das Berliner Boulevard-Blatt „B.Z.“ macht auf mit der Schlagzeile: „Barrikaden + Einsatzkräfte attackiert: Silvester-Chaos in Berlin“. Dann liest man mit stockendem Atem weiter: „Zahlreiche Brände. Böllerwürfe auf Balkone und Passanten. Schreckschusswaffen. Brennende Barrikaden auf Straßen. Und Angriffe auf Polizisten und Rettungskräfte. In Berlin wurde der Jahreswechsel zum Silvester-Chaos.“

https://twitter.com/mz_storymakers/status/1609619441112711171

„Die Feuerwehr hat zum Jahreswechsel mehr als 1700 Einsätze gefahren, fast 700 mehr als vor einem Jahr während der Corona-Beschränkungen. Das geht aus einer vorläufigen Bilanz vom Neujahrsmorgen hervor“, schreibt die „B.Z.“: „Von Knallern und Raketen wurden demnach 22 Menschen verletzt. In 38 Fällen seien Einsatzkräfte angegriffen und 15 von ihnen verletzt worden. Einer der verletzten Retter musste sogar ins Krankenhaus. Nach ersten Angaben vom Morgen wurden insgesamt vier Fahrzeuge der Feuerwehr so stark beschädigt, dass sie nicht mehr im Einsatz sein können. ‘Dieses Verhalten ist durch nichts zu rechtfertigen und ich kann es nur auf das Schärfste verurteilen‘, sagte Landesbranddirektor Karsten Homrighausen.“

Die Feuerwehr selbst zog dem Bericht zufolge das Fazit, man sei zwar auf die Neujahrsnacht gut vorbereitet gewesen, aber dann doch überrascht „von der Masse und der Intensität der Angriffe auf unsere Einsatzkräfte“. So seien unter anderem Bierkisten und Feuerlöscher auf Fahrzeuge geworfen worden, Retter seien beim Löschen mit Pyrotechnik beschossen oder Einsatzfahrzeuge geplündert worden, so die „B.Z.“. Der Branddirektor kündigte demnach an, alle Fälle anzuzeigen.

Ich komme mir offen gestanden vor wie im falschen Film. Der Balkan, traditionell als Spannungsgebiet bekannt und noch vor kaum drei Jahrzehnten von einem blutigen Bürgerkrieg erschüttert, wirkt heute im Alltagsleben, abseits der Politik und der Zündeleien im Kosovo, in weiten Teile geradezu als Oase von Frieden und Entspanntheit. Und in Berlin Szenen, die fast schon etwas Bürgerkriegsähnliches haben. Und dabei war die Silvesternacht kein Ausreißer. Wenn ich von Berlin nach Montenegro reise, habe ich nach der Ankunft den Eindruck, in Europa angekommen zu sein. In dem alten Europa, das ich aus meiner Kindheit und Jugend kenne und liebe. In dem früher sozialistischen Land angekommen habe ich den Eindruck, dem Sozialismus – in Berlin – entkommen zu sein: Der Service ist überaus freundlich und zuvorkommend in Montenegro, die Menschen freundlich und aufgeschlossen, Kinder können sorglos alleine durch die Stadt flanieren und Frauen ebenfalls – rund um die Uhr. Manche schließen nicht einmal die Wohnungstür ab.

Freunde schenken – und meine Seite unterstützen

Auch nach Silvester gleichen die Straßen nicht einer großen Müllhalde wie in Berlin. Und nicht nur zum Jahreswechsel: In den historischen Altstädten an der Adria hat man oft den Eindruck, man könne vom Boden essen (außerhalb von diesen Anziehungspunkten ist die Müll-Disziplin dagegen – diplomatisch ausgedrückt – eher durchwachsen). Erzählt man den Einheimischen von den Zuständen in Deutschland, können sie einem kaum glauben. Für viele ist die Bundesrepublik immer noch ein Sehnsuchtsort, an den viele vor den wirtschaftlichen Problemen und der Armut fliehen möchten. Nur wer mit Freunden und Verwandten aus dem früheren Jugoslawien, die in Deutschland leben, in engem Austausch steht, weiß von den Zuständen in „Njemačka“ und wundert sich.

Denjenigen in Deutschland, die wenig im Ausland sind oder nur zu kurzen Besuchsreisen, geht es wie den Fröschen, die es nicht merken, wenn sie abgekocht werden, weil das Wasser sehr langsam erhitzt wird: Der rasante Abstieg unseres Landes ist erst dann in seiner vollen Dramatik zu bemerken, wenn man den Kontrast sieht. Die Auswüchse erlebt zwar fast jeder – aber die Versuchung, sich eine rosa Brille aufzusetzen und zu verdrängen, ist gewaltig. Die Zustände in Deutschland sind inzwischen für viele zu schmerzhaft, um sie sich offen einzugestehen. Vor allem für Politiker und Journalisten. Damit beginnt ein Teufelskreislauf: Misstände, die man vertuscht und sich schön denkt, kann man nicht beheben!

Der Osten als neuer Westen

Besonders groß ist der Kontrast in Mittelosteuropa – vom Baltikum, Polen und Tschechien über Ungarn und den ganzen Balkan bis nach Bulgarien und Rumänien. Für mich wird der alte „Osten“ bzw. große Teile davon immer mehr zu dem, was früher der „Westen“ war. Trotz aller Probleme, die es dort gibt. Doch die Tendenz ist eindeutig: Es geht bergauf, während es bei uns bergab geht. Und vieles von dem alten Europa, was bei uns verloren ging, ist hier erhalten geblieben. Toleranz ist hier tendenziell noch echte Toleranz, statt maskierte rotgrün-woke Spießigkeit: Leben und Leben lassen ist angesagt. Man zieht es vor, Privates als Privatsache zu behandeln. Es gibt nur zwei Geschlechter, Gendern ist unvorstellbar, dafür wird viel geflirtet. Männer sind gerne Kavaliere, machen Frauen Komplimente und die freuen sich darüber. Man glaubt nicht an den (Klima-) Weltuntergang und hat nach vielen Jahrzehnten „Kommunismus“ eine Art ideologische „Impfung“ gegen alles, was sozialistisch daherkommt – auch im grünen (Tarn-)Gewand. Die Skepsis gegenüber dem Staat ist enorm, Denunziantentum auch deshalb verpönt – ebenso wie der Gedanke, Mitmenschen wegen einer Maske zu belehren.

Mir wünsche ich zu Neujahr, dass mehr Menschen in Deutschland die Augen öffnen und endlich Realitätssinn einzieht in Politik und Medien. Auch dann wird es noch ein steiniger Weg – aber es bestünde dann wenigstens Hoffnung. Insofern wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, dass 2023 ein besseres Jahr wird als 2022. Der Ehrlichkeit halber muss ich hinzufügen, dass ich den gleichen Wunsch auch an Neujahr 2022 und 2021 hatte – und dann bitter enttäuscht wurde. Vielleicht wird es ja dieses Mal wahr? Das Herz sagt: Ja. Der Verstand: Nein. Ein guter Freund, dem ich heute Nacht ein besseres Jahr wünschte, antwortete mir: „Ich glaube das leider nicht. Ich glaube, dass 2023 und 2024 die aufregendsten Jahre unseres Lebens werden. Wir werden sehr bewusst viel Neues, Ungewohntes erleben. Aber das bedeutet nicht, dass wir unglücklicher sind. Nur die Werte werden verschoben. Aber ich freue mich sehr, dass wir das zusammen erleben.“

Eine traurige Prognose. Aber eine Einstellung, die dennoch etwas Hoffnung und Mut macht. Genau die richtige, finde ich. Ich werde mich anstrengen, sie mir zu eigen zu machen. Und wünsche das auch Ihnen!

In diesem Sinne – nochmals ein gutes neues Jahr!

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Bild: Boris Reitschuster

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