Als Journalist mit viel Herzblut ist man nie gegen seine Emotionen und Impulsivität gefeit. Und so freute ich mich riesig, als mir heute ein Leser einen Hinweis auf einen neuen Telegram-Kanal mit dem Namen „Julian Reichelt official“ schickte. Zumal mir der Inhalt sehr zusagte – und ich darin Reichelt, den ich auch persönlich kenne, wiederzuerkennen glaubte. Kaum war der Beitrag ein paar Minuten online, kamen die ersten Nachfragen: „Ist der Account auch wirklich echt?“ Weil ich das nicht verifizieren kann, und weil einen Emotionen manchmal leichtgläubig machen gegenüber dem, was man sich wünscht, stelle ich sofort diese Vorbemerkung vor meinen Beitrag (ich werde mir auch durch böse Menschen ein gewisses Grundvertrauen in andere Menschen nicht rauben lassen). Ganz nüchtern betrachtet und mit Abstand muss ich sagen: Es spricht sehr viel mehr dafür, dass der Kanal eine Fälschung ist, als dass er authentisch ist. Andererseits: Für Reichelt, den ich auch angeschrieben habe, wäre es ein leichtes, den Kanal zu entlarven. Auch indirekt, wenn er aus verständlichen Gründen aktuell selbst nichts sagen möchte. Sei’s drum: Die Leser, die diesen Beitrag in den ersten Minuten ohne diese Vorbemerkung gelesen habe, bitte ich für den leider sehr wahrscheinlichen Fall, dass es ein Fake ist, ausdrücklich um Entschuldigung, dass ich hier zu gutgläubig war. Ändern werde ich den Beitrag nicht – denn auch als Fälschung wäre der Kanal ein Dokument der Zeitgeschichte. Es zeigt, was möglich wäre, wenn sich kritische Journalisten zusammentäten. Und mit dieser Vorbemerkung ist der Text auch ohne Änderungen, im Original-Zustand, richtig eingeordnet. Ich warte dennoch weiterhin gespannt auf eine Reaktion von Reichelt und werde diese umgehend ergänzen. Sollte der Kanal ein Fake sein – vielleicht lässt er sich davon und von der Reaktion hier ja zu einer ähnlichen, authentischen Reaktion anstiften?
### AKTUALISIERUNG UM 19.49 Uhr ###
Meine Mitarbeiter haben festgestellt, dass eine um 18.36 Uhr auf dem Kanal hochgeladene vermeintliche „Sprachnachricht“ ein Ausschnitt aus einem alten Interview von Reichelt ist. Damit kann man es als nahezu erwiesen ansehen, dass es sich bei dem Kanal um ein Fake handelt.
### AKTUALISIERUNG UM 22.11 Uhr ###
Inzwischen hat sich „Anonymus“ dazu bekannt, den Fake-Account erstellt zu haben und macht sich nun lustig über alle, die ihn zumindest kurz für ernst hielten. Eine „Böhmermannisierung“ des politischen Raums – die mich fatal an das erinnert, was ich in Russland erlebt habe. Alexander Wallasch kommentierte das auf Twitter wie folgt: „Kinderkarneval a la Dofffböhmann… gähn.“
Meine Replik:
„Das sehe ich optimistischer. Die Fake-Aktion war ein Eigentor. Fast 50.000 Abonnenten für den vermeintlichen #Reichelt-Account zeigen, wie groß die Sehnsucht nach kritischem Journalismus ist. Und wie mit Mut und Einigkeit schnell etwas zu erreichen und bewirken wäre.“
Weiter schrieb Wallasch, leider nicht grundlos:
„Noch peinlicher übrigens, dass @jreichelt das Ding einfach laufen ließ und lieber seine Wunden leckte – ist der eigentlich eierlos?“
Nach seiner Entlassung gestern durch den Medienkonzern Axel Springer hat »BILD«-Chefredakteur Julian Reichelt erst einmal geschwiegen – was gut nachvollziehbar ist. Während sich andere in solchen Situationen länger wegducken, geht der 41-Jährige nun aber schon am nächsten Tag, ja genauer gesagt kurz nach Mitternacht, an die Öffentlichkeit. Er eröffnete einen Kanal auf dem Messenger-Dienst „Telegram“ – was in den rotgrünlila-Zeitgeist-Kreisen in Politik und Medien heute schon per se einen Generalverdacht auslöst – fast so wie einst ein Bekenntnis zum West-Fernsehen in der DDR. Telegram ist zensurfrei, anders als etwa Twitter, Youtube und Facebook. Ebenso symbolisch und aussagekräftig, dass Reichelt auf Twitter, wo er 96.000 „Follower“ hat, bis jetzt schweigt – die Plattform zensiert konservative Stimmen. Aber nicht nur der Umstand, wo Reichelt jetzt schreibt, ist eine Kampfansage. Noch viel mehr, was er schreibt. Seinen ersten Post von heute Nacht um 0.30 Uhr auf Telegram kann man nur als eine Art Kriegserklärung an den polit-medialen Komplex der Hauptstadt auffassen:
Hab es mir zwar selbst anders vorgestellt, aber dann rollen wir den Laden jetzt halt von hinten auf. Wer meint, ich würde mein Maul halten, so wie alle anderen, der hat sich stark geirrt.
Diese Aussage hat es in sich! Vor allem in der heutigen Zeit! Meine eigene Seite zeigt, dass Journalisten, die gegen den Strom schwimmen, heute anders als vor dem Internet-Zeitalter ein riesiges Publikum finden können. Und in der Lage sind, selbst die Regierung und das Kanzleramt auf Trab zu halten. Von den anderen Medien ganz zu schweigen. Insofern ist die Drohung von Reichelt – Gott sei Dank – mehr als ernst zu nehmen. Das könnte spannend werden! Und ich hoffe sehr darauf!
Sodann reagierte Reichelt um 10.55 Uhr auf seinem Kanal auf mein Video zu seiner Entlassung, in dem ich ihm auch einen Job bei mir angeboten habe:
Danke Boris. Das Stellenangebot werde ich erstmal nicht annehmen können. Vielleicht sollten wir uns demnächst nach der langen Zeit aber mal wieder auf einen Kaffee treffen.
Das ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens die Einschränkung durch das „erstmal“ bei dem Hinweis, er könne das Job-Angebot nicht annehmen. Noch bemerkenswerter: Reichelt ist ein Medien-Profi. Er weiß, welchen Shitstorm und wie viele Angriffe der Schauspieler Til Schweiger über sich ergehen lassen musste, nur weil er ein Selfie mit mir und zwei lobende Worten in dem sozialen Netzwerk postete. Selbst in der ARD wurde er daraufhin im Abendprogramm als „Arschloch“ beschimpft. Umso mutiger ist die Reaktion von Reichelt. Ich kann nur sagen: Hut ab!
Um 11.08 Uhr postete Reichelt:
Um es einmalig klarzustellen:
Ich distanziere mich ausdrücklich von Personen wie Attila Hildmann und Organisationen wie Querdenken 711. Warum ich mich von Attila Hildmann distanziere, sollte jedem Demokraten klar sein. Menschen wie Ballweg geht es leider nur ums Geld, anstatt die wirklichen Missstände in unserer Gesellschaft zu kritisieren. Leider zu Lasten vieler Menschen, die Hoffnung in diese Organisation gesteckt haben. Diesen Menschen und der Bewegung, die entstanden ist, muss endlich Gehör geschenkt werden. Und das unabhängig von jeglichen Spendensummen, denn Wahrheit sollte niemals etwas kosten und niemand sollte sich an der Wahrheit persönlich bereichern dürfen.
Und 11.51 Uhr kam dann folgender Post auf dem neuen Kanal von Reichelt:
Auch wenn hier nun einige die Bild jetzt kritisch sehen (oder auch schon immer kritisch gesehen haben), werde ich dieses Medium nicht boykottieren. Schon lange vor meiner Zeit als Chefredakteur habe ich dort unter den Kollegen viele echte Freunde gewonnen. Freunde die dort auch weiterhin einen super Job machen werden und sich von nichts und niemanden etwas einreden lassen. Ich hege also keinen Groll gegen die Bild. Vom Axel Springer Verlag, der sich nicht zum ersten Mal von äußeren Faktoren beeinflussen lassen hat, kann ich selbiges leider nicht behaupten.
Um 12.08 Uhr schrieb Reichelt:
Seit gestern bekomme ich unzählige Interviewanfragen. Viele von den Medien die meinen Rauswurf über Jahre provoziert und aktiv erzwungen haben. Die Schamlosigkeit und Dreistigkeit die mir vorgeworfen wird, leben diese Redaktionen wohl doch selbst aus.
Springer begründet das Ende der Zusammenarbeit mit Reichelt an der Spitze von Deutschlands größter Boulevardzeitung so: „Als Folge von Presserecherchen hatte das Unternehmen in den letzten Tagen neue Erkenntnisse über das aktuelle Verhalten von Julian Reichelt gewonnen. Diesen Informationen ist das Unternehmen nachgegangen. Dabei hat der Vorstand erfahren, dass Julian Reichelt auch nach Abschluss des Compliance-Verfahrens im Frühjahr 2021 Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt hat.“
Mit Reichelt ist in meinen Augen der einzige Chefredakteur eines großen deutschen Mediums, das konsequent kritisch gegenüber der Regierung und über deren Corona-Maßnahmen berichtete, entlassen worden. Mit Methoden, die ich für überaus zweifelhaft halte. Die Vorwürfe sind im Detail unbekannt – und doch gibt es eine massive Vorverurteilung.
Na da werden heute aber Sektkorken im Kanzleramt und in den Zentralen von SPD und Grünen knallen. Weil ich die Details der Vorwürfe nicht kenne maße ich mir kein Urteil an. Mein erster Gedanke war aber: wieder eine Zersetzungsaktion gegen Regierungskritiker erfolgreich.#Reichelt pic.twitter.com/76TcYsnoDd
— Boris Reitschuster (@reitschuster) October 18, 2021
Es gibt viele Chefredakteure von großen Medien in Deutschland.
Es gibt nur einen, der durchgängig und konsequent Merkel und die Corona-Politik kritisiert. #Reichelt.
Ausgerechnet der wurde gefeuert.
Wegen Vorwürfen, die im Details niemand kennt. https://t.co/pB1VapB9pA— Boris Reitschuster (@reitschuster) October 18, 2021
Lesen Sie hier meinen Text zu der Entlassung mit dem Hinweis auf das Video, auf das Reichelt reagiert, und lesen Sie hier einen Beitrag von Sönke Paulsen mit einem anderen Erklärungsversuch (schließlich bin ich ein Verfechter von Pluralität):
Text: br