Von Daniel Weinmann
Die Inzidenz schnellt rasant nach oben, doch Spanien bleibt locker. Bei knapp 3000 Corona-Fällen pro 100.000 Einwohner lag zuletzt der 14-Tages-Inzidenzwert. Rein rechnerisch haben sich demnach seit Jahresbeginn fast drei Prozent der Iberer infiziert. Die Dunkelziffer dürfte noch weit darüber liegen.
Derweil sagte Ministerpräsident Pedro Sánchez in einem Radiointerview bei „Cadena Ser“, was hierzulande undenkbar erscheint. „Zu Beginn der ersten Welle hatten wir eine Sterblichkeitsrate von 13 Prozent, heute liegt die Sterblichkeitsrate im Durchschnitt bei etwa 1 Prozent“, so der spanische Regierungschef. „Daher glaube ich, dass wir die Voraussetzungen haben, um vorsichtig und schrittweise damit zu beginnen, diese Debatte auf fachlicher Ebene, auf der Ebene der Angehörigen der Gesundheitsberufe, aber auch auf europäischer Ebene zu eröffnen, um die Entwicklung dieser Krankheit mit anderen Parametern zu bewerten, als wir es bisher getan haben.“
Sánchez erwägt, Corona wie eine Grippe zu behandeln. „Wir müssen damit zu leben lernen, wie wir es mit vielen anderen Viren auch tun“, fordert der Sozialist. Statt jeden einzelnen Fall zu erfassen und nachzuverfolgen, sollen Daten aus ausgewählten Krankenhäusern den Gesundheitszentren einen ausreichenden Überblick ermöglichen. Für Patienten ohne schwere Symptome würde COVID-19 damit letztlich zu einer beliebigen Krankheit ohne Tests, Meldepflichten, Quarantänen oder Kontaktsperren.
„El País“ hatte zuvor detailliert über Sánchez‘ Pläne berichtet. Demnach bereitet die Regierung einen entscheidenden Strategiewechsel vor. In neun Regionen werde das System bereits in Pilotprogrammen an Krankenhäusern erprobt.
In den Krankenhäusern bleibt es vergleichsweise ruhig
Man müsse das System „der sich verändernden Krankheit anpassen, um nicht den Rest zum Einsturz zu bringen“, unterstreicht auch der Sprecher der spanischen Gesellschaft für öffentliche Gesundheit, Ildefonso Hernández.
Ist Sanchéz damit zum Corona-Leugner mutiert? Wohl eher stehen pragmatische Erwägungen im Vordergrund. Bliebe man bei der bisherigen Vorgehensweise, käme das Gesundheitssystem schnell an seine Grenzen. Allein in Katalonien mit rund 7,5 Millionen Einwohnern meldeten sich am Montag rund 100.000 Menschen in den Erstaufnahmezentren. Dies bindet enorme Ressourcen, medizinisches Personal warnt vor einem Kollaps. Schon jetzt musste zusätzliches Personal aus dem Ruhestand rekrutiert werden, effektive Kontaktrückverfolgung bei Positivfällen wurde bereits für unmöglich erklärt.
Was Sanchéz in die Karten spielt: Zwar explodieren die Zahlen, doch in den Krankenhäusern bleibt es vergleichsweise ruhig. Die Belegung der Intensivstationen liegt deutlich unter den Werten früherer Wellen.
Dem Bericht von „El País“ zufolge ist allerdings noch unklar, wann das neue System eingeführt werden soll. Dem Vernehmen nach soll es Unterdessen bestätigte Sánchez, die „Debatte“ über den Paradigmenwechsel auch auf europäischer Ebene eröffnen zu wollen. Ob dies genügt, Deutschland von seinem Kurs immer neuer Verbote und der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht abzubringen?
Lauterbach: Verzicht auf strenge Maßnahmen ist unethisch
Genau letztere könnte vor dem Hintergrund der deutlich gesunkenen Hospitalisierungsraten und der milderen Verläufe aus der Politik-Agenda gestrichen werden.
Die bundesweite 7-Tage-Inzidenz kletterte zwar an diesem Donnerstag bundesweit auf 427,7 – gegenüber 285,9 vor einer Woche. Auf den Intensivstationen spiegelt sich die Omikron-Welle bislang aber nicht wider: Die Zahl der Corona-Patienten ging dort seit Mitte Dezember von rund 4900 kontinuierlich zurück, am Mittwoch waren es 3050. Zum Höhepunkt der zweiten Welle waren mehr als 5700 Intensivbetten belegt.
Für die Politik und die meinungsbildenden Medien könnte Omikron vor diesem Hintergrund einen eleganten Ausweg aus den selbst gestellten Fallen weisen. Doch Berlin ergeht sich stattdessen weiter in immer neue Horrorspekulationen. Gesundheitsminister Lauterbach tut das, was er am liebsten tut – und warnt vor „naivem Glauben, Omikron sei Ende der Pandemie“. In der TV-Politshow »Hart aber Fair« legte der medial omnipräsente SPD-Politiker nach: Ein Verzicht auf strenge Maßnahmen wie in England sei „eine unethische Wette“.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Daniel Weinmann arbeitete viele Jahre als Redakteur bei einem der bekanntesten deutschen Medien. Er schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: kovop58/ShutterstockText: dw