Hand aufs Herz: Haben Sie es nicht auch satt, ständig negative Nachrichten zu lesen? Bei denen man denkt, es seien „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“? Was sie aber leider nicht sind – denn es sind reale Neuigkeiten aus Deutschland. Ich möchte Ihnen ein Kontrastprogramm bieten, aus meiner Zeit in Russland. Zum Entspannen und Schmunzeln. Voilà:
Raus oder nicht? Diese Glaubensfrage spaltet die Russen – zumindest in der warmen Jahreszeit. In Moskau verläuft die Konfliktlinie am Autobahnring – der Stadtgrenze. Der Gedanke, an einem Sommerwochenende innerhalb derselben zu bleiben, scheint für eine Mehrheit der Russen so unerträglich wie eine Hochzeit ohne Wodka. 60 Prozent fahren auf die Datscha, haben Umfragen ergeben. Wobei die Meinungsforscher nicht verraten, warum es die anderen vierzig Prozent nicht tun: Weil sie wirklich die Stadtwohnung vorziehen, oder etwa, weil sie von Haus aus auf dem Land wohnen, oder sich keine Datscha leisten können.
Eine Datscha ist kein Aufenthaltsort, sondern ein Lebensstil, sagt die russische Kulturforscherin Olga Wainstein. Wer sich verweigert, muss mit kritischen Fragen rechnen. Viele Liebhaber der Sommerfrische auf dem Land scheinen die Welt in zwei Kategorien zu teilen: „Datschniki“, so das russische Wort für die Datscha-Bewohner, und „Ne-Udatschniki“ – auf deutsch Versager. Datscha-Muffel wie ich widersetzen sich dem bösen Wortspiel mit Spott: „Es macht wenig Sinn, auf der Fahrt, genauer gesagt dem Kriechen von und zur Datscha am Freitag und Sonntag fünf Stunden im Stau zu stehen und Abgase einzuatmen, um dann einen Tag frische Luft zu atmen.
Lange Nächte bei Wein oder Wodka
Doch Anhänger der Datschen-Kultur sind über solchen gotteslästerlichen Hohn erhaben. Und sie haben die Tradition auf ihrer Seite. Schon Anton Tschechow setzte in seinen Werken der Datscha ein Denkmal – auch wenn er schon vor hundert Jahren vor gefährlichen Nebenwirkungen warnte: Für die Festigkeit der Ehebande gebe es keinen gefährlicheren Ort als die Datscha. Tschechow konnte im 19. Jahrhundert nicht ahnen, dass es dereinst in Moskau von Striptease-Clubs und Call-Girl-Saunas derart wimmeln würde, dass die Datscha trotz aller amourösen Versuchungen, die das freie Leben an der frischen Luft mit sich bringt, eher zu den weniger sündenträchtigen Orten gehören würde.
Auch wenn viele Russen die Sommerfrische mit der ersten Liebe und „Küssen im Gebüsch“ verbinden, sind es doch weitaus unverdächtigere Dinge, die den Reiz des kurzfristigen Landlebens ausmachen: Mehr oder weniger fernab von den Städten – die Entfernung der Datscha von der Stadtgrenze kann zwischen einem und 1000 Kilometern liegen – entledigt sich der „Datschler“ auch den Fesseln der urbanen Zivilisation. Dem Dauerlärm der Städte, der Tristesse der Plattenbauten, der Enge in der Metro und auf den Straßen. Datscha – das ist 600 Quadratmeter heile Welt, Freiheit, Individualismus. Datscha, das ist Ausschlafen, Hängematte, Tee auf der Terrasse, endlose Gespräche, Spaziergänge, lange Nächte bei Wein oder Wodka.
„Zu Sowjetzeiten fühlte man sich auf der Datscha frei, weit weg vom Zentrum und vom Staat“, glaubt die Kulturforscherin Olga Wainstein: Regime-Gegner fanden auf der Datscha ihren Fluchtraum, von Lenin bis hin zu Solschenizyn, Dissidenten versteckten aus Angst vor Wohnungsdurchsuchungen ihre kritischen Schriften auf den Landhäusern. Auf die Datscha kam alles, was in der Stadtwohnung keinen Platz mehr hatte – vom alten Gerümpel über Antiquariat bis hin zu alten Traditionen. „Die Datscha wurde zur Bewahrungsstätte für eine alternative Kultur“, glaubt Kulturforscherin Wainstein. Die Datschen sind demokratisch: Von der Nobel-Villa des Oligarchen bis zur winzigen Hütte der Friseurin – jeder kann sich sein Stück von der Sommerfrische abschneiden. Zur Not auch mietweise. Die Datscha hält jeden auf Trab: Den Milliardär, weil er den modischsten Marmor für die Terrasse haben muss, der Nachbarn wegen, die Verkäuferin, weil sie Kartoffeln anbaut, der Sattheit im Winter wegen.
Eingezäunt wie Fort Knox
Anders als im Westen gab es in den Datschen-Siedlungen zumindest früher oft gar keine Zäune, das Eigentums-Gefühl war kaum ausgeprägt, man lief einfach über Nachbars Grundstück zum nächsten See. Inzwischen sind nun zwar manche Luxus-Datschen eingezäunt wie Fort Knox – doch eine andere alte Tradition hält sich hartnäckig: Dass man einfach unangemeldet zum Nachbarn auf eine Tasse Kaffee oder Tee hereinschneit, gerne auch mit Freunden, die der Hausherr gar nicht kennt. Geburtstage und andere Feiertage begehen die Datschler oft gemeinsam – oder ziehen einfach von Haus zu Haus, in einer Art Feier-Odyssee.
So leicht es ist, von einer Datscha auf die nächste zu kommen, so schwer kann es sein, überhaupt Zutritt zur Datschen-Welt zu bekommen. Die Einladung in das Wochenendhaus ist so etwas wie der Ritterschlag: Wem diese Ehre zuteil wird, der gehört quasi fast ein wenig zur Familie. Und wehe, man schlägt diese Einladung aus. So quäle ich mich dann doch hin und wieder durch den Stau hinaus in die unberührte Natur. Und scheitere fast jedes Mal an dem Versuch, durch ungewöhnliche An- und Abfahrszeiten, vorzugsweise mitten in der Nacht oder am frühen Morgen, dem Stau-Wahnsinn zu entgehen. Das Resultat war bisher weniger Zeitersparnis als Schlaf-Rhythmusstörungen. Und Kater. Der Lohn sind Gespräche nach vier, fünf oder mehr Gläsern Wodka, die so in Moskau kaum möglich wären. Wenn einen plötzlich der hochrangige Beamte aus dem Wirtschaftsministerium von der Datscha zwei Häuser weiter in den Arm schließt und von seinem schweren Leben erzählt. Oder wenn der Schwiegersohn der Nachbarin, der als Fahrer arbeitet, fragt, was denn nun wirklich passiert im Kreml – weil er dem Staatsfernsehen kein Wort glaubt.
Nur ein Ausländer wie ich kann noch an Unannehmlichkeiten wie das weiträumig zu umfahrende Plumpsklo, Geschwader von Stechmücken oder den Eimer mit dem kalten Wasser als Ersatz für die Dusche denken, wenn der Hausherr zur Gitarre greift oder in die Banja lädt, die russische Sauna. Hand aufs Herz: Selbst ein hartgesottener Datscha-Muffel droht in solchen Momenten schwach zu werden und vom wahren Glauben abzufallen. Aber wäre das überhaupt ein Frevel? Schließlich haben die Landhäuser ja auch für all jene ihre Vorteile, die die Anreise erst gar nicht auf sich nehmen: Das chronisch überfüllte Moskau wird in den Sommermonaten lichter und lebenswerter, die auf den Staus kürzer (außer den Ausfallstraßen), und in der Metro kann man zuweilen auf einen Sicherheitsabstand zum Stehnachbarn hoffen statt der sonst üblichen Tuchfühlung. Moskau als Sommertagstraum. Sind angesichts solcher rosigen Aussichten nicht auch wir überzeugten Städter im tiefsten unseres Herzens Datschen-Liebhaber?
Nach dem wirklich unangenehmen „Job“ mit dem Lauterbach-Interview bin ich Ihnen für ein Schmerzensgeld besonders dankbar – und verspreche dafür, auch beim nächstem Mal wieder in den sauren Apfel zu beißen und wachsam an dem gefährlichen Minister dran zu bleiben! Aktuell ist (wieder) eine Unterstützung via Kreditkarte, Apple Pay etc. möglich – trotz der Paypal-Sperre: über diesen Link. Alternativ via Banküberweisung, IBAN: DE30 6805 1207 0000 3701 71. Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut.
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