Paradigmenwechsel: Herdenimmunität unrealistisch, Corona wird bleiben "Es ist unwahrscheinlich, dass das Virus verschwinden wird"

Ein Gastbeitrag von Gregor Amelung

In den großen deutschen Medien gilt die New York Times seit jeher als anerkanntes Qualitätsmedium. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Zeitung mit dem stolzen Namen ein eher links-liberales Blatt geworden, dessen Ausrichtung man vielleicht mit der des deutschen Spiegels vergleichen kann. So hat die Times nie einen Hehl aus ihrer tiefen Abneigung gegenüber Donald Trump gemacht. Dabei war der 45. US-Präsident den Machern deutlich verhasster als »Birne« seinerzeit dem Spiegel.

Auch in der Corona-Pandemie hat die weltweit gelesene Tageszeitung Flagge gezeigt. Für Lockdowns, Masken und strenge Anti-Corona-Maßnahmen. Gleichzeitig galt ein breitflächiges Impfen als Exit-Strategie. Denn nur so wäre der Status der Herdenimmunität zu erreichen und mit ihr die Rückkehr zur »Normalität«.

»Virus mutiert zu schnell«

Umso überraschender war es, als das meinungsstarke Blatt am 3. Mai dieses Ziel auf einmal kassierte. Und das nicht etwa in einem Artikel, der die von Experten nun festgestellte Nicht-Erreichbarkeit der Herdenimmunität als Vehikel benutzte, um zu mehr Impfbereitschaft aufzurufen. Das war zwar auch Thema, aber keinesfalls Grundtenor des Artikels. Denn die Diagnose, dass die Herdenimmunität nicht erreichbar sei, fußte vor allem auf zwei Erkenntnissen zum Virus selbst.

»Es ist bereits jetzt klar«, so die Times, »dass das Virus zu schnell mutiert, sich neue Varianten zu leicht verbreiten und die Impfungen zu langsam voranschreiten, als dass die Herdenimmunität in absehbarer Zukunft erreicht werden könnte.«

Herdenimmunität als Ziellinie im »Endspiel«

»Zu Beginn der Pandemie, als die Corona-Impfstoffe noch reine Zukunftsmusik waren, stand der Begriff ›Herdenimmunität‹ für das Endspiel. Für den Zeitpunkt, ab dem genügend Amerikaner vor dem Virus geschützt sind, um den Erreger loszuwerden und unser früheres Leben wiederzubekommen.«

Die »Ziellinie« in diesem Szenario war laut New York Times eine »Herdenimmunität von etwa 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung« gewesen, so die meisten Experten inklusive des maßgeblichen Beraters der US-Regierung in Sachen Covid-19: Dr. Anthony Fauci. Dessen öffentliche Wirkmächtigkeit übertragen auf deutsche Verhältnisse gleicht etwa der von Christian Drosten. »Aber«, so die Times weiter, »während der Impfstoffentwicklung und der Virus-Verbreitung im Winter 2020/21 und im Frühjahr 2021 begannen die Schätzungen zur Ziellinie anzusteigen.«

Bei der Chronologie der Schätzungen hält sich der Artikel dann nicht weiter auf, obwohl der Rückblick in gewisser Weise auch ein Ausblick in die Zukunft ist, was Zahlen und ihre Beweglichkeit anbelangt.

Von 60 bis 70 auf 80 bis 90 und weiter...

So lag die «Ziellinie« im ersten Corona-Jahr in den meisten Expertenäußerungen irgendwo zwischen 60 und 70 Prozent. Gegen Ende des Jahres 2020 mehrten sich dann Stimmen, die nicht mehr von 60 bis 70 Prozent, sondern von 80 bis 90 Prozent sprachen. 2021 hieß es dann vereinzelt sogar, »erst ab« 90 Prozent würde der Herdeneffekt eintreten.

Insofern war das, was die New York Times in ihrem Artikel lediglich mit »ansteigen« umschrieben hat, schon eine beträchtliche Veränderung. Zumal man ja hier keinen Tachometer vor Augen hatte, der auch noch 110 km/h oder 120 km/h anzeigen konnte, sondern eine limitierte Prozent-Skala.

Als Grund dafür, dass die »Schätzungen« zur Herdenimmunität so angestiegen waren, gibt die Times an, dass die ersten Berechnungen auf der Ansteckungsrate der »ursprünglichen Virus-Variante« beruht hätten. Inzwischen sei aber auch in den USA die britische Variante B.1.1.7 im Umlauf, die »rund 60 Prozent übertragbarer« sei als der Ursprungstyp.

Zur Analyse käme hier wahrscheinlich noch hinzu, dass die sterile Immunität, die die Vakzine beim Geimpften erzielen – also die Quote der Unterbindung von Infektion und Transmission des Virus auf andere Personen –, wohl nicht bei über 90 Prozent liegt, wie oft verlautbart wird, sondern wohl eher darunter. Das sagt zumindest der Epidemiologe Harvey Risch von der Yale University, den die Times in ihrem Artikel allerdings nicht zitiert.

Risch erkennt speziell in den Zahlen aus Israel, wo fast 60 Prozent der Bevölkerung inzwischen geimpft worden sind, lediglich eine Reduktion der Virus-Übertragbarkeit von 50 bis 60 Prozent bei Geimpften.

»Können Personen, die vollständig geimpft sind, das Virus weiterhin übertragen?«

Die genaue Einschätzung der Quote der sterilen Immunität ist schwierig, denn sie hängt nicht nur von der Infektionswahrscheinlichkeit, sondern auch von der produzierten Viruslast und der Dauer der Produktion ab. Und so verwundert es nicht, dass das deutsche RKI einer präzisen prozentualen Quantifizierung des Effekts bezogen auf die Corona-Impfstoffe aus dem Weg geht. So heißt es auf der Website des Robert-Koch-Instituts unter FAQ / Frequently Asked Questions (Stand 4. Mai 2021) unter »Können Personen, die vollständig geimpft sind, das Virus weiterhin übertragen?«:

»Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person trotz vollständiger Impfung PCR-positiv wird, ist bereits niedrig, aber nicht Null. (…) In welchem Maß die Impfung darüber hinaus die Übertragung des Virus weiter reduziert, kann derzeit nicht genau quantifiziert werden.« Die Viruslast sei »stark reduziert« und die »Virusausscheidung verkürzt«.

Epidemiologe besteht Faktencheck nicht

Das passt selbstverständlich nicht zu den 50 bis 60 Prozent des Yale-Epidemiologen Harvey Risch. Ob sich Risch mit seiner auch politisch brisanten Einschätzung einfach zu früh aus der Deckung gewagt hat oder ob er ganz einfach falsch liegt, ist schwer zu sagen.

Das US-Faktencheck-Portal PolitiFacts ist sich auf jeden Fall sicher und gibt Rischs Aussagen ein »[Liar, liar,] pants on fire«, was soviel bedeutet wie total falsch oder Lügenbold. Dabei haben die Faktenchecker allerdings nur einen Teil seiner Äußerungen unter die Lupe genommen und von anderen Experten bzw. Institutionen bewerten lassen. Eine Methode, die auch in Deutschland oft angewandt wird und die nicht unbedingt dazu taugt, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.

»Es ist unwahrscheinlich, dass das Virus verschwinden wird«

Und es ändert auch nichts an der Tatsache, dass die New York Times das zuvor ausgegebene Ziel der Herdenimmunität in der Realität des Frühjahrs 2021 nun kassiert hat. Auch wenn die Artikelüberschrift selbst noch recht harmlos daherkommt – »Experten glauben inzwischen: Herdenimmunität in USA wahrscheinlich nicht zu erreichen« –, ist der Artikelinhalt selbst eindeutig. So zitiert das Blatt etwa Bary Pradelski, Professor am Nationalen Forschungszentrum im französischen Grenoble: »Eine Ausrottung [des Virus] ist meines Erachtens derzeit unmöglich.«

Ähnlich äußert sich der Evolutionsbiologe Prof. Dr. Rustom Antia von der Emory University in Atlanta: »Es ist unwahrscheinlich, dass das Virus verschwinden wird.«

»Vergessen Sie einfach mal das Wort«

Auch Bidens Top-Berater Anthony Fauci »bestätigt die veränderte Denkweise«, so die New York Times im Versuch, den vollzogenen Paradigmenwechsel beim Impfen semantisch abzufedern. Um die »Leute nicht zu verunsichern«, würde man den Begriff der Herdenimmunität nicht mehr im »klassischen Sinne« verwenden, so Fauci im Stil eines Politikers. »Vergessen Sie einfach mal das Wort für eine Sekunde. Wenn wir genug Menschen impfen, werden die Infektion[szahlen automatisch] sinken.«

Ja, so einfach ist das. Wort mal kurz vergessen und sich auf ein neues Ziel bei der Corona-Bekämpfung eingestellt. Das beschreibt der in der Times ebenfalls zitierte Harvard-Epidemiologe Dr. Marc Lipsitch dann so: »Der Großteil der Sterblichkeit und der Belastung des Gesundheitssystems kommt von Menschen mit Vorerkrankungen, insbesondere von Menschen über 60. Wenn wir die vor schweren Krankheitsverläufen und dem Tod schützen können, haben wir Covid-19 von einem Störfaktor für die Gesamtgesellschaft zu einer regulären Infektionskrankheit gemacht.«

Eine unbequeme Wahrheit für Jens Spahn und Lothar Wieler

Es ist anzunehmen, dass das Ende der Herdenimmunität als großes gemeinsames Ziel eine verdammt »inconvinient truth« (unbequeme Wahrheit) für die deutschen Impfstrategen sein dürfte. Denn anders als in den USA, wo bereits 45,3 Prozent geimpft worden sind, liegt der »Impffortschritt« in Deutschland bei 30,7 Prozent (1. Dosis; 5. Mai 2021). Hinzu kommt, dass das Bundesgesundheitsministerium via Uschi Glas und anderen Prominenten der Bevölkerung versprochen hat, dass sie sich »mit einem kleinen Pieks« ihr »Leben«, also das frühere, normale Leben zurückholen können.

Die Werbespots müsste man ohne Herdenimmunität wahrscheinlich einstampfen. Und ohne das große solidarische Ziel würde es auch schwierig mit den Jüngeren werden, die nahezu nicht von Covid-19 betroffen sind. Mathematik- und Wettaffine unter ihnen könnten auf die dumme Idee kommen, mal auszurechnen, wie denn die Quoten stehen, an der Impfung zu sterben oder am Virus selbst?

Und Studenten der Gesundheitsökonomie könnten sich darüber Gedanken machen, ob sie der Gesamtgesellschaft nicht viel teurer kämen, wenn sie mit einem bedingt zugelassenen Vakzin ins Delirium gespritzt werden? Frauen mit Kinderwunsch könnten googeln, ob denn die Impfstoffe bereits auf ihre Unbedenklichkeit in puncto Fruchtbarkeit getestet worden sind? Und so weiter und so fort.

Anhand dessen kann man wohl getrost davon ausgehen, dass die Katze von »der nicht mehr erreichbaren Herdenimmunität« in Deutschland wohl noch bis Juni oder Juli im Sack bleiben wird. Danach kriecht sie vermutlich eher heimlich, still und leise heraus. Ähnlich wie jetzt im Artikel der New York Times könnte es dann auch bei uns heißen: Die Experten-Meinungen waren ja nur »Schätzungen«, die auf der »ursprünglichen Virus-Variante« beruht haben. Inzwischen hat sich die Lage geändert. Herdenimmunität war gestern. Also: »Vergessen Sie einfach mal das Wort für eine Sekunde« – oder auch für länger.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
 

Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.

Bild: oxinoxi/Shutterstock
Text: Gast

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