Polen und Ungarn verteidigen Demokratie und Freiheit Der EU-Streit aus anderer Perspektive

Heute vor einem Jahr startete mit dem Beitrag „Die Große Koalition beschädigt die Demokratie“ von meinem Freund Jerzy Maćków, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Regensburg, meine Seite in ihrer neuen Form. Zum Jahrestag hat er einen neuen Artikel geschrieben (und natürlich auch das Jahr über einige). 

Ein Gastbeitrag von Jerzy Maćków

Am Donnerstag, dem 26. November, nahm das Europäische Parlament einen Beschluss an, in dem es sich gegen das „De-facto-Verbot des Rechts auf Abtreibung in Polen“ aussprach. Politisch ist es nicht so wichtig, dass diese Behauptung falsch ist und die Tatsache verschleiert, dass in Polen vor allem Kinder mit Down-Syndrom geschützt werden sollen. Politisch brisant ist der Umstand, dass das EU-Parlament die Unverfrorenheit besaß, derart auf ein Urteil des polnischen Verfassungsgerichts zu reagieren.

Der Beschluss wurde von fünf Parlamentsfraktionen unterstützt, darunter jener der Europäischen Volkspartei, die – erinnern wir uns daran – einst christlich-demokratisch gesonnen war. Vorangetrieben wurde er u.a. von der CDU, die nicht nur in Deutschland, sondern auch im EU-Parlament zusammen mit Sozialisten und Grünen zum Befürworter der „Abtreibung auf Wunsch“ längst mutiert ist. Daran ist der qualitative Wandel zu erkennen, den die Partei Konrad Adenauers in den letzten zwei Jahrzehnten vollbracht hat, um sich trotz der Vergreisung und konstant zurückgehenden Unterstützung aus der Bevölkerung krampfhaft an der Macht halten zu können.

Ideenlosigkeit und Opportunismus verwundern im heutigen Europa weniger als die Tatsache, dass das EU-Parlament, das – wie die gesamte Union – für „Einheit in Vielfalt“ stehen soll, sich nun für die Einheit im Namen der einzig richtigen Weltanschauung ausspricht. Vor dem Hintergrund der europäischen Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Kommunismus muss diese Tatsache erschrecken. Die meisten Parteien im EU-Parlament, die aus der eigenen Geschichte offenbar nichts gelernt haben, versuchen nun, allen Europäern den ideologischen Gleichschritt zu verpassen. Das war übrigens seit der Französischen Revolution eine totalitäre Tradition jener europäischen „Fortschrittler“, die durch Zwang, Uniformismus und Verkündung der einzig wahren Lehre die Gesellschaft ganz umgestalten wollten, um sie in eine strahlende Zukunft zu führen.

Unpräzise definierte Rechtsstaatlichkeit

Gleiches geschieht augenblicklich beim Streit um den Haushalt und den Corona-Fond der EU. Obwohl die EU-Verträge die Bestrafung der Mitgliedsstaaten ausschließlich wegen rechtswidriger Verwendung von EU-Subventionen erlauben (das war bereits etwa im Falle Bulgariens geschehen), wird nun versucht, es aufgrund der angeblich verletzten, bewusst unpräzise definierten „Rechtsstaatlichkeit“ schlechthin zu tun. Über deren Verletzung sollen nicht mehr nationale Gerichte und der Europäische Gerichtshof, sondern Politiker in der EU entscheiden, die mit der Vollmacht ausgestattet werden sollen, den vermeintlichen Rechtsbrechern Mittel aus den EU-Fonds zu streichen.

In ihrer grenzenlosen Verantwortungslosigkeit vergisst die heutige Mehrheit des EU-Parlaments, dass in einer anderen politischen Konstellation unter dem Vorwand der angeblich verletzten Rechtsstaatlichkeit gegen sie vorgegangen werden kann: gegen die „Ehe für alle“, gegen die Abtreibung auf Wunsch, gegen die Verbote und Regelungen der political correctness, gegen die Öffnung der Grenzen für Millionen Menschen, die nach besserem Leben suchen. Das wäre vielleicht nicht so schlimm, mag jemand sagen. Es ist aber schlimm, weil es – wie heute in die umgekehrte Richtung – an den Verträgen über die Europäische Union vorbei geschehen würde.

Dabei ist die EU ohnehin nicht demokratisch. Seit Jahrzehnten schreiben Politologen über ihre beträchtlichen „Demokratiedefizite“: entmachtetes Parlament, kaum demokratische Legitimation von zentralen Institutionen, Intransparenz politischer Entscheidungen, informelle Dominanz von Deutschland und Frankreich u.Ä. Wenn in der EU zusätzlich noch Verträge missachtet werden sollen, wird ihre Zukunft alles andere als strahlend aussehen.

Es ist aber noch nicht entschieden, dass die Strukturen der EU vom vertragskonformen in den vertragsverletzenden Autoritarismus überführt sein werden. Sicher scheint bloß, dass in diesem Fall Polen die EU verlassen wird, weil nicht davon auszugehen ist, dass sich die Mehrheit seiner Bürger in absehbarer Zeit weltanschaulich dem Mainstream des EU-Parlaments anpassen wird.

Nicht auf Mainstream-Kurs

Die polnische Regierung erwartet, dass sich die Starken der EU selbst zähmen sollen. Das ist naiv, weil aus der Geschichte die Beispiele der sich selbst beschränkenden Mächtigen kaum bekannt sind, jedenfalls nicht aus Deutschland. Die nicht gerade gescheite und nicht gerade demokratisch gesonnene polnische Opposition hetzt wiederum die Deutschen und die EU dazu auf, die Regierung ihres Landes zu bekämpfen. Dass dabei die EU-Verträge gebrochen und die demokratisch nicht legitimierte Macht der Starken in der EU erweitert wird, interessiert sie nicht.

Die Zukunft der EU kann aber doch noch eine optimistische Wende nehmen, wenn der heutige Streit um den Haushalt unter Einhaltung der Verträge beendet wird. Die Mitgliedsstaaten könnten dann eines Tages die Union zum souveränen Körper erheben, indem sie ihre Kompetenzen unmissverständlich definieren und ihre Regierung – sie mag weiterhin „Kommission“ oder „Rat“ heißen, aber es muss endlich klar sein, welche von beiden tatsächlich regiert – auf demokratischem Wege bestellen lassen.

Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Den Blog von Jerzy Maćków, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Regensburg, finden Sie hier.

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Bild: Alexandros Michailidis/Shutterstock
Text: gast

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