In Moskau steht heute der Oppositionsführer Alexej Nawalny vor Gericht. Dass die Entscheidung die Richter treffen, gilt selbst nach einem Zitat des früheren Präsidenten Dmitrij Medwedew als unwahrscheinlich – der Putin-Vertraute klagte in seiner Amtszeit über Rechts-Nihilismus und darüber, dass die Richter ihre Anweisungen per Telefon von oben bekommen. Der Kreml steht vor einer schweren Entscheidung: Ein Wegsperren Nawalnys würde die Proteste noch anheizen; Milde dagegen könnte als Schwäche des Regimes aufgefasst werden.
Die „Tagespost“ hat mich gebeten, ein kurzes Porträt über Nawalny zu schreiben, den ich auch persönlich kenne. Ich will es Ihnen nicht vorenthalten (auch wenn ich zu dem Thema viel mehr zu schreiben hätte – aber das schaffe ich im Moment einfach zeitlich nicht).
Bisher waren es immer hochrangige Staatsdiener, die Angst haben mussten, wenn Alexej Nawalny mit weit aufgerissenen Augen und gesenkter Stirn vor die Kamera trat und neue Enthüllungen über Korruption präsentierte. Jetzt hat er Neuland betreten: Mit einem Video über einen Protz-Palast am Schwarzen Meer attackierte er erstmals die Nummer eins ganz offen. Wladimir Putin soll das Anwesen gehören, das Versailles bescheiden wirken lässt. Goldene Klobürste, goldener Klopapierhalter, Austernfarm, Wasser-Disko und unterirdische Eishockey-Halle.
Mehr als 100 Millionen Mal wurde das Video allein auf Youtube aufgerufen. Putin höchstselbst fühlte sich genötigt, ein Dementi abzugeben: Der Palast gehöre ihm gar nicht. Nawalny ließ das Video direkt nach seiner Rückkehr nach Moskau veröffentlichen, wo er sofort festgenommen wurde. Er kam zurück aus Berlin, wo ihn deutsche Ärzte nach seiner Vergiftung mit dem Nervengas „Nowitschok“ im August 2020 behandelt hatten. Nawalny sieht hinter dem Anschlag die russischen Geheimdienste und Putin.
Abertausende Russen gingen an den vergangenen beiden Wochenenden auf die Straße, um gegen seine Festnahme zu protestieren. Dem Juristen mit dem durchdringenden Blick ist es wie keinem Politiker gelungen, die Opposition zu einen. Er wurde wiederholt eingesperrt – unter teilweise fadenscheinigen Vorwänden. Die Verfahren gegen ihn wirkten oft wie aus Kafka-Romanen. Im Mai 2017 wurde auf den Vater zweier Kinder ein Anschlag mit einer Farblösung verübt, die mit Chemikalien versetzt war. Die Attacke kostete ihn fast ein Auge. Doch ebenso wenig wie der Giftanschlag schreckte das den Hünen, der mit 1,88 Meter seinen Rivalen Putin um einen halben Kopf überragt.
Nawalny hat ein Gespür für Stimmungen. Dass die Kremlpartei „Einiges Russland“ im Volksmund den Beinamen „Partei der Diebe und Gauner“ hat, ist eine Wortschöpfung des Juristen. Ex-Mitarbeiter werfen Nawalny vor, sein Führungsstil sei autoritär. Seine Unterstützer rechtfertigen dies damit, anders sei Politik in Russland heute nicht zu betreiben. Kritiker vor allem im Westen stoßen sich an nationalistischen Tönen, die nach Maßstäben hiesiger Medien teilweise eher als „rechtspopulistisch“ einzustufen wären. Seine Anhänger verweisen darauf, dass der Oppositionsführer sich nicht gänzlich den Stimmungen in der Bevölkerung entziehen könne. Und dass seine Positionen im Vergleich zu den nationalchauvinistischen Motiven in den vom Kreml gesteuerten Medien gemäßigt seien. Fakt ist, dass dem 44-Jährigen großrussisches Denken nicht fremd scheint: In einem Interview erklärte er, die annektierte Krim würde auch er „niemals an die Ukraine zurückgeben“.
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Text: br