Von Alexander Wallasch
Was geht uns Kabul an? Nicht viel, könnte man meinen, mal davon abgesehen, dass dort über fünfzig deutsche Bundeswehrsoldaten ihr Leben verloren haben, davon weit über dreißig bei Kampfhandlungen.
Der frühere deutsche Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) hatte 2002, also noch ganz zu Beginn des deutschen militärischen Engagements in Afghanistan den später viel zitieren Satz gesagt: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“
Strucks Satz wurde oft kritisiert. Heute allerdings wird in der Niederlage des Westens die eigentliche Bedeutung des Struck-Satzes erst klar: Das Mittelalter ist auf diesen 7000 Kilometer von Deutschland entfernten Flecken Welt zurückgekehrt und hat mit einem Schlag diese ungeheuerliche westliche Idee von Frieden, Freiheit und Sicherheit jedenfalls für diejenigen Menschen, die sie hochhielten, einfach für sehr lange hinweggefegt.
Heute, am 15. August 2021, steht der Fall von Kabul unmittelbar bevor oder ist die afghanische Hauptstadt bereits in die Hände der Taliban zurückgefallen. Zwanzig Jahre nach der Vertreibung der Taliban und der Auflösung des islamischen Taliban-Emirats unter Mullah Omar geht wieder das Licht aus in Afghanistan.
Nein, das Land war nie wirklich zur Ruhe gekommen, nie wirklich befriedet worden. Aber die Anwesenheit der westlichen Truppen blieb bei allen Verwerfungen und dem Leid eine lebendige Gegenkraft zur Herrschaft des Schreckens.
Wer zu den Kritikern des Engagements der USA und dieser Koalition der Willigen in Afghanistan gehört, hat ein paar gute Argumente dagegen. Möglicherweise sogar noch ein paar mehr als die Befürworter dieses Kriegs gegen den Terror, dieses Rachefeldzugs der USA nach dem Fall der Zwillingstürme — damals, als nicht mehr unterschieden werden sollte zwischen den Taliban unter der Führung von Omar und den im Islamischen Emirat Afghanistan untergekommenen al-Qaida-Kämpfern um Osama bin Laden.
Heute dann der Anrufversuch aus der Redaktion über fast siebentausend Kilometer hinweg in die Deutsche Botschaft in Kabul. Das Freizeichen am anderen Ende ist klar und deutlich. Aber es geht keiner mehr ans Telefon. Der für die Deutschen Botschaften in aller Welt verantwortliche Heiko Maas hat das Kabuler Personal in plötzlicher Hektik zum Kabuler Flughafen hin evakuiert. Wir hören weiter das Freizeichen, dann springt irgendwann der Anrufbeantworter an im Gebäude der Deutschen Botschaft, Wazir Akbar Khan, Mena 6 in Kabul:
„Die gewählte Rufnummer ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte rufen sie den Teilnehmer zu einem späteren Zeitpunkt erneut an.“
Wann könnte das sein? Auch wenn Heiko Maas heute davon spricht, dass seine Botschaftsangehörigen nicht den Taliban in die Hände fallen dürften, so war der Kontakt zu den Taliban in den letzten Jahren nie wirklich abgerissen oder abgebrochen worden.
Diese Gesprächsbereitschaft hat im Afghanistan-Konflikt eine lange Tradition. Im April 2010 bestärkte Außenminister Guido Westerwelle (FDP) im Namen der Bundesregierung den damaligen Präsidenten Hamid Karsai darin, Verhandlungen mit den Taliban zu führen. Und die heutige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte 2018 noch als deutsche Verteidigungsministerin, Gespräche mit den Taliban zu führen.
Vor wenigen Stunden hat nun der grüne Politiker Jürgen Trittin Außenminister Heiko Maas „ein beispielloses Versagen“ bei den Bemühungen um die Evakuierung der Botschaft in Kabul vorgeworfen. Die fehlende oberste Dringlichkeit bei der Rettung der afghanischen Ortskräfte und ihrer Familien rächt sich jetzt bitter. Möglicherweise können etliche Menschen nicht mehr ausgeflogen werden und fallen den Taliban in die Hände – was immer das dann für sie bedeuten kann.
Der Grüne Jürgen Trittin mag sonst ein grüner Steinzeitgenosse sein, der sich gerade über das drohende Mittelalter über Kabul erregt, aber hier kann man ihn verstehen: Trittin wirft Maas zu Recht vor, er sei verantwortlich, wenn es in dessen direktem Verantwortungsbereich demnächst Todesopfer geben wird.
Es sind bewegte und bewegende Bilder wie die des Abrückens der Amerikaner aus Saigon, die sich tief ins kollektive Gedächtnis des Westens eingegraben haben. Und es sind auch solche vielfach mit dem Oscar ausgezeichneten Hollywood-Produktionen wie „The Killing Fields“ mit Szenen der überhasteten Räumung der US-Botschaft in Phnom Penh aus Angst vor den Roten Khmer. Im Film musste ein amerikanischer Journalist seinen kambodschanischen Fotografen Dith Pran zurücklassen, der dann den Khmer in die Hände fällt.
Ja, das ist Hollywood, aber es basiert auf einer wahren Geschichte. Bleibt willigen einheimischen Helfern dieser Koalition der Willigen jetzt wieder nur der Weg über Hollywood, damit die Welt von ihrem Schicksal irgendwann erfährt?
In den zwanzig Jahren des militärischen Engagements des Westens in Afghanistan sind hunderttausende von Fotoaufnahmen gemacht worden. Unter anderem auch solche von hoffnungsvollen jungen Mädchen, die erstmals und ganz anders als Generationen von afghanischen Frauen vor ihnen eine Schule von innen sehen und lernen dürfen.
Beispielhaft sollen hier und heute, am 15. August 2021, die glücklichen Gesichter noch einmal betrachtet werden, die UNICEF online veröffentlicht hat. Das drohende Schicksal dieser fröhlichen Mädchen wird sich im Dunkel der Schreckensherrschaft der Taliban verlieren. Auch das ist, was der Westen zurücklässt: den Tod hochgesteckter Ziele, das rasche Absterben der kleinen zarten Pflanze Hoffnung und das Ende jeden Vertrauens in die eine gute Macht, die es schon richten wird.
Wie wenig der Westen tatsächlich ausrichten konnte, zeigt sich jetzt im schnellen Vormarsch der Taliban und der fast vollständig ausgebliebenen Gegenwehr. Die wahre düstere Kraft des Islamismus in einer eindrucksvollen Machtdemonstration.
Die vielen investierten Milliarden hatten letztlich nur ein Ziel: Afghanen gegen Afghanen auszubilden. Polizei und Militär gegen Taliban. Ein Clash der Kulturen im Inneren. Der Transfer solcher westlichen Werte wie Freiheit und Gleichberechtigung, hineingebombt in die afghanische DNA, ist auf ganzer Linie gescheitert. Das Lachen der Mädchen verschwindet hinter einer Vollverschleierung und wird dahinter schnell verloren gehen.
Wer erinnert sich heute beispielsweise noch daran, dass die dreizehnte Documenta 2012 auch in Kabul stattfand, auf Kosten des Auswärtigen Amtes? Später kamen afghanische Künstler nach Kassel zum Ursprungsort der Documenta. Kabul war nie Afghanistan. Als Enklave eher vergleichbar mit West-Berlin. Auch in Kabul flogen die Rosinenbomber Tag und Nacht und brachten Schokoriegel. Der afghanische Präsident ist heute aus Kabul geflohen. Ashraf Ghani* hatte zuvor noch eine friedliche Machtübergabe verkündet, die Menschen sollten nicht in Panik verfallen. Dann setzte er sich ab.
*Ashraf Ghani studierte an der amerikanischen Universität in Beirut und promovierte später an der Columbia University in New York, er lehrte acht Jahre lang an Universitäten in den USA und war Berater der Weltbank. 2001 kehrte er nach Afghanistan zurück. Ghani ist mit einer christlichen Libanesin verheiratet, eine seiner beiden Töchter ist Videokünstlerin, die als Wohnadressen New York und Kabul angibt.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger und betreibt den Blog alexander-wallasch.de. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann) schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“ Seit August ist Wallasch Mitglied im „Team Reitschuster“.
Bild: Wandel Guides/ShutterstockText: wal