Von Alexander Wallasch
Es wird immer so hingenommen: Die Union macht halt in der nächsten Legislatur mit dem grünen Wunschpartner. Aber ist dem Wähler eigentlich klar, was er da bekommt? Nun weiß jeder in der Union, dass es kontraproduktiv wäre, so kurz vor der Wahl die Unterschiede zu betonen oder gar auf Unvereinbarkeiten hinzuweisen, welche die CDU/CSU von den Grünen in der Nach-Merkel-Ära trennen.
Das allerdings spielt den Grünen in die Hände: Annalena Baerbock macht gerne Gebrauch davon und fordert aktuell, die Migrationsverwaltung aus dem Innenministerium abzutrennen, um so neben dem Umweltministerium ein weiteres klassisch-grünes Ministerium zu schaffen.
Nein, eine neue Idee der Spitzenkandidatin Baerbock ist das gar nicht, es wurde so bereits im grünen Wahlkampfprogramm festgeschrieben. Da ist noch so einiges geplant, das bei der Union schon längst hätte für Empörung sorgen müssen, aber die Grünen bringen eine starke Mitgift von aktuell rund zwanzig Prozent Wählergunst nach Umfragen mit. Und es scheint so, dass es potenzielle Grünwähler gibt, die diese Partei zwar ein Stück weit unwählbar finden, aber gerne auf das Gespann CDU/CSU/Bündnis90/Die Grünen setzen.
Anders gesagt: Es ist durchaus wahrscheinlich, dass eine Koalitionsabsage der Union an die Grünen auch den Grünen schaden könnte. Und die Union möglicherweise sogar stärken würde. Der mögliche grüne Koalitionspartner hängt dem Unionskanzlerkandidaten bei den eigenen Wählern längst schon wie ein Mühlstein am Hals, wird aber hingenommen als Alternative zu Rot-Rot-Grün.
Oder um es drastischer auszudrücken: Viele Wähler der Union scheinen darauf zu bauen, dass die Union den grünen Juniorpartner dann schon einhegen wird. Ist das blauäugig? Längst scheint vergessen der magische Moment des Kaninchens vor der Schlange, als die Grünen in den Wahlumfragen sogar noch vor der Union gesehen wurden. Vergessen oder posttraumatisch verdrängt?
Stand alles schon im Wahlprogramm
Niemand in der Union wird sich allerdings später rausreden können, nichts davon gewusst zu haben, was die Grünen vorhaben. Das Wahlprogramm liegt vor. Angestrebt wird beispielsweise eine „sozial-ökologische Transformation“ in einer „multipolaren Welt“, „Feminismus, Queerpolitik und Geschlechtergerechtigkeit“ soll in den Fokus gerückt werden, in der Verwaltung ebenso. Private Unternehmen sollen zukünftig zusätzlich zu weiteren Quoten auch Migranten einstellen und das in ihren Unternehmensleitbildern festschreiben: „Wir werden verbindliche Zielvorgaben zur Erhöhung des Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund einführen.“ Die Liste ist lang.
Und um das durchzusetzen, schwebt den Grünen laut Wahlprogramm vor, die Migrationsthemen aus dem Bundesinnenministerium herauszulösen und in ein eigenes, neu geschaffenes Ministerium zu überführen. Im Wahlprogramm Seite 90/91 klingt das dann so:
„Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, wollen wir die verschiedenen gesellschaftlichen Themen, die die Teilhabe an der offenen und vielfältigen Einwanderungsgesellschaft betreffen, bei einem Ministerium bündeln und diese Themen aus dem Innenministerium herauslösen.“
Das alles weiß die Union schon längst. Aber im selben Moment, wo Annalena Baerbock es wagt, öffentlich aus dem Wahlprogramm der Grünen vorzutragen, geht das Geschrei bei der CDU schon los. Die Grünen können die Union vor sich hertreiben, weil das Team Laschet sich scheut, initiativ die grünen Inhalte anzugreifen.
Laschets Angst vor Merkels Grün
Im Detail dazu gleich mehr. Erst einmal die Frage, warum sie sich scheut. Der Grund ist einfach: Weil immer noch die Gefahr bestände, dass die ergrünte Bundeskanzlerin eine Bemerkung machen und Laschet damit in eine grüne Richtung zwingen könnte – jenen Laschet, der die erstaunlich hohe Merkel-Beliebtheit in Umfragen immer noch meint für einen Wahlerfolg dringend zu benötigen. Laschet profiliert sich nicht gegen, sondern durch Merkel. Das unterscheidet ihn von Friedrich Merz, aber der ist längst sediert mit einem von Laschet in Aussicht gestellten Ministerposten, ebenso wie Jens Spahn.
Die Grünen wollen ein eigenes Migrationsministerium – denn selbstredend werden sie es in einer Koalition mit der Union auch für sich beanspruchen und bekommen.
Das grüne Wahlprogramm ist ja schon länger auf dem Markt, aber Unionsvertreter bellen reflexartig lautstark und in Schützenhilfe für den positionierungsscheuen Laschet. Die Süddeutsche Zeitung schreibt über die Reaktionen auf Baerbocks jüngste Thematisierung des Migrationsministeriums: „Die Union hat die grüne Idee eines Ministeriums für Einwanderungsfragen scharf zurückgewiesen.“ Aber warum erst jetzt? Weil man hoffte, dass die Grünen es bis nach der Wahl unterm Teppich im Wahlprogramm vor sich hin gären lassen?
Und es ist auch nicht so, dass Baerbock dieses Thema aus Versehen in den Vorwahlkampf eingebracht hätte, sie hat es gezielt in einem Interview mit der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD) lanciert.
Auf der Webseite der Organisation läuft die Rubrik „Bundestagswahlen 2021: Menschen mit Migrationsgeschichte als Wählerpotenzial“, klar, dass die grüne Kanzlerkandidatin hier Stimmen abholen will, die Fragen wurden schriftlich gestellt, Baerbock schickt ein gut gelauntes Video oder wie immer man den überdrehten Auftritt der Kandidatin umschreiben mag, ohne unhöflich zu werden.
Der Auftakt erwartbar: „Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kamen Menschen. Und man kann nur sagen: Zum Glück. (…) Ihre Eltern haben die westdeutsche Gesellschaft damals wirtschaftlich, kulturell, sozial und politisch maßgeblich mitgeprägt.“
Die türkische Einwanderungsgeschichte sei zudem eine große deutsche Erfolgsgeschichte, so Baerbock. Das mag angesichts der Verwerfungen durch die Massenzuwanderung ab 2015 rückblickend so wirken, aber auch die Probleme der türkischstämmigen Community in Deutschland waren über Jahrzehnte angewachsen, sind vielfältig geblieben und haben sich über Generationen hinweg noch verschärft.
Sinnbildlich hierfür soll sein, dass über 60 Prozent der hier lebenden in der Türkei wahlberechtigten Türken bzw. Deutschtürken dem Despoten Erdogan ihre Wahlstimme gegeben haben. Ebenfalls zur Erfolgsgeschichte der Türken in Deutschland à la Baerbock gehört folgende Meldung der taz, die noch 2008 beklagte: „Türken gehen in Berlin unter. 75 Prozent der Migranten türkischer Herkunft haben keinen Schulabschluss, fast jeder zweite ist arbeitslos. (…) Jeder zweite Berliner türkischer Herkunft lebt von Sozialleistungen.“
Baerbock auf Wahlstimmenfang in der türkischen Community
Baerbock fordert nun in ihrem überdrehten Wahlwerbevideo auf der türkischen Webseite, dass die Erfolgsgeschichte der Türken in Deutschland zukünftig „in Schulbüchern und im gemeinsamen geschichtlichen Erinnerungsgedächtnis“ mehr Platz findet, „denn wir sind eine Einwanderungsgesellschaft“, wird die Grüne nicht müde zu betonen. Deutschland sei nicht nur ein Einwanderungsland, so Baerbock, sondern schon in der dritten, vierten Generation eine Einwanderungsgesellschaft.
Annalena Baerbock klingt hier, als machte sie eine Kampfansage an den Koalitionspartner in spe. Nein, es ist sogar eine Kampfansage an diejenigen Bürger, welche Unionspolitiker früher einmal als Mehrheitsgesellschaft definiert hatten.
Und dann folgt im einwanderungsideologischen Baerbock-Clip, was bei der Union aktuell für so eine Art Panikstimmung gesorgt hatte, weil Baerbock so frei heraus äußerte, was man schon aus dem Wahlprogramm der Grünen kannte, aber wohl froh war, dass es dafür bisher keinen grünen Lautsprecher gab:
„Dafür muss Einwanderungspolitik nicht zuletzt aus dem Innenministerium herausgelöst werden und eben die Vielfaltspolitik, die Teilhabepolitik in den Mittelpunkt eines gebündelten Ministeriums gestellt werden.“
Die Christdemokraten Ziemiak und Frei vergießen falsche Tränen
Tatsächlich ist die gespielte Überraschung und die Empörung der Unionsvertreter eine echte Mogelpackung, ein Windei. Der Bundestagsfraktionsvize der CDU, Thorsten Frei, beispielsweise nannte die Grünen-Idee „absoluten Unfug“ und sagte gegenüber der Deutschen Presse-Agentur: „Anstatt komplett überflüssige bürokratische Strukturen zu schaffen, muss Integration auch weiterhin eine Querschnittsaufgabe aller Ministerien sein.“
Da will auch der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak seinen Senf dazugeben und erklärte via Twitter: „Wir brauchen kein grünes Multi-Kulti-Ministerium, in dem linke Aktivistinnen und Aktivisten ihre Agenda umsetzen. Wir müssen Migration wirksam ordnen und steuern.“
Und dann schwant einem, was so eine schwarz-grüne Koalition bedeuten könnte: Hatte Merkel im letzten Jahrzehnt ihre Abkehr von klassischen Unionspositionen immer mal mit höheren Instanzen begründet, also darauf verwiesen, dass ihr von EU- oder gar UN-Zuständigkeiten die Hände gebunden seien, werden ihre Nachfolger die Nichteinhaltung ihrer Wahlversprechen zusätzlich noch mit dem grünen Koalitionspartner entschuldigen. Mit einem Partner, mit dem sie sich allerdings aus Machterhaltungsgründen ganz freiwillig ins Bett gelegt haben.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger und betreibt den Blog alexander-wallasch.de. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Volkswagen tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann) schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“
BildText: wal
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