Am Montag vor 35 Jahren explodierte der vierte Reaktor des Kernkraftwerks im ukrainischen Tschernobyl. Mein Freud und Fotograf Igor Gavrilov war einer der ersten Fotografen, der am Unglücksreaktor Bilder machte. Es gab keine Schutzkleidung, aber jede Menge Naivität. Igor erinnert sich im Interview an das unglaubliche Chaos vor Ort, den haarsträubenden Umgang mit der Radioaktivität – und deren Tücken für die Psyche. Das Gespräch ist nicht neu – aber heute so aktuell wie damals, als es geführt wurde.
Wie hast Du von dem Unglück in Tschernobyl erfahren?
Die ersten Tage, bis zur 1.-Mai-Feier, haben wir in Moskau überhaupt nichts mitbekommen. Als ich danach wieder in die Arbeit kam – ich war damals Fotokorrespondent bei der Zeitschrift „Ogonjok“ – rief mich mein Chef zu sich und sagte, ich solle nach Kiew fahren. Er meinte, in Tschernobyl sei irgendetwas passiert, unser Fotograf vor Ort brauche Hilfe. Ich wusste nicht, worum es geht, und sagte zu.
Waren damals alle so blauäugig?
Offenbar nicht. Später erfuhr ich, dass andere Fotografen sich geweigert hatten. Die hatten offenbar bessere Informationsquellen als ich. Ich war – mit Verlaub – der Depp.
Wie ging es weiter?
Ich setzte mich in das nächste Flugzeug nach Kiew. In der Stadt, die ja nicht mal 100 Kilometer Luftlinie von Tschernobyl entfernt ist, spürte man eine gewisse Anspannung.
Wussten die Leute dort, was passiert war?
Sie wussten, dass etwas passiert war, und sie ahnten, dass es etwas Schlimmes war, denn die Parteiführung hatte ihre Kinder bereits aus der Stadt gebracht, in Sicherheit. Aber niemand wusste auch nur annähernd, was genau passiert war und wie groß die Gefahren sind. Ich erinnere mich bis heute, ich saß im Bus, da fragten mich andere Fahrgäste, wozu ich nach Kiew gekommen bin. Als ich sagte, dass ich nach Tschernobyl weiter fahre, schüttelten sie nur den Kopf und sagten: „Sie sind verrückt!“ Dann meinten sie: „Aber wenn Sie zurück sind, müssen Sie uns erzählen, was dort wirklich los ist.“ In den Häusern hatten die Leute schon feuchte Lappen in die Treppenhäuser gelegt – um den Staub zu binden, weil sie gehört hatten, dass der besonders viel Radioaktivität enthält.
Also gab es doch Informationen und Warnungen?
Gawrilow: Nein, ich kann mich an keine erinnern. Es gab nur unzählige Gerüchte und Mutmaßungen. Deshalb war wohl auch meinem Kollege vor Ort, zu dessen Unterstützung sie mich ja nach Kiew geschickt hatten, die Sache zu heiß geworden. Er sagte, er habe andere wichtige Termine, und schickte mich alleine nach Tschernobyl.
„Es herrschte überall Chaos“
Wir kamst Du dort dort hin? Das Gebiet um das Kernkraftwerk war doch sicher Sperrzone?
Gawrilow: Es herrschte überall Chaos! Natürlich hatten sie schon einen Kontrollposten errichtet, aber mit meinem Journalistenausweis kam ich durch, problemlos. Es ging zu wie im Ameisenhaufen, bis heute erinnere ich mich an die Unzahl von Menschen, Autos, von schwerem Gerät.
Waren die Menschen vor Ort nicht in Panik?
Gawrilow: Die Zivilbevölkerung war schon evakuiert. Die Stadt Tschernobyl war völlig verwaist, da gab es nur Hasen und Katzen. Den Einsatzkräften war eine große Anspannung anzumerken. Aber keiner hatte eine Ahnung, was wirklich passiert war, und was sie für ein Risiko eingehen. Es gab viele Leute in weißer Spezialkleidung, das waren die Atomspezialisten; die anderen hatten normale Militärkleidung, in Kaki-Farbe.
Bekamst Du Schutzkleidung?
Machst Du Witze? Es gab keine! Nicht mal richtige Schutzmasken! Die Leute hatten sich Mullbinden vor den Mund geklebt. Ich hatte gar nichts. Und mit der Kleidung, in der ich dort war, bin ich zurück nach Moskau, war bei meiner Familie, und ein paar Wochen darauf bin ich nach Rom gefahren in den Klamotten – zur Belohnung für den Tschernobyl-Einsatz durfte ich die Leichtathletik-WM in Italien fotografieren. Als ich dort den Kollegen sagte, dass ich mit den Kleidern, die ich auf dem Leib hatte, gerade aus Tschernobyl komme, sind denen fast die Augen aus dem Kopf gesprungen, die hechteten sofort zur Seite. Da wurde mir endgültig klar, dass etwas faul ist an der Sache.
Du bekamst auch kein Strahlenmessgerät?
Glaubst Du, das war eine Übung, bei der alles nach Vorschrift ging? Natürlich nicht. Ich war auf einer Sitzung des Krisenstabes, da waren die ganzen Chefs, ich fotografierte sie, und ich war selbst baff, wie ratlos die waren, die hatten ganz offensichtlich keinen Schimmer, was abläuft, und was sie tun sollen. Und sie haben auch viel Quatsch gemacht, wie sich später herausstellte.
Was bekamst Du zu Gesicht?
Ich flog in einem Hubschrauber über den zerstörten Reaktor. Um einen guten Blickwinkel zu haben, wollte ich mich aus dem Fenster lehnen. Aber irgendein Instinkt zog mich zurück, ins Innere des Hubschraubers. Vor ein paar Jahren bekam ich einen Anruf von einem der Piloten. Er sagte, alle seine Kollegen, die damals die Einsätze flogen, seien tot, er sei der letzte Überlebende, aber auch ihm ginge es schon dreckig. Der ganze Schutz der Männer bestand damals darin, dass sie einen Bleimantel auf ihre Sitze im Hubschrauber gelegt hatten. Selbst die Hubschrauber mussten später als radioaktiver Sondermüll vergraben werden.
Hattest Du keine Angst?
Das ist der Wahnsinn an der Sache! Ich war im Krieg, in Tschetschenien, in Afghanistan. Da spürst Du auf Schritt und Tritt Angst. In Tschernobyl – nicht. Die Vögel sangen, es blühte überall, die Sonne strahlte – das spielt der Psyche einen Streich. Man weiß zwar, dass da eine Gefahr ist – aber man nimmt sie nicht wahr. Ich war sogar so blöd, da Erdbeeren zu essen. Aber das machten viele. Ich sah immer wieder ganze Gruppen von Leute, die etwa auf dem Gras saßen. Es gab etwa die Vorschrift, dass man zum Austreten nicht ins Gebüsch darf, sondern – es waren ja fast nur Männer da – direkt auf dem Asphalt Wasser lassen muss, weil der nicht asphaltierte Boden zu stark belastet war. Aber wir gingen natürlich trotzdem alle ins Gebüsch. Richtige Angst hatten nur die, die in den ersten Tagen an vorderster Front waren, und erlebten, wie ihre Kameraden binnen Tagen dahin gesiecht sind und starben. Etwa die Feuerwehrleute. Die durfte im Krankenhaus nicht mal jemand besuchen, so stark strahlten die.
„Ich wundere mich selbst über meine Naivität“
Hattest Du nie daran gedacht, wegzulaufen?
Nein. Es ging mir so wie den meisten der Helfer damals – da herrschte eine Welle des Patriotismus, nach dem Motto: „Wer soll helfen, wenn nicht ich.“ Heute wäre das nicht mehr so, denke ich.
Wann hast Du begriffen, welcher Gefahr Du ausgesetzt warst?
Gawrilow: Ich verstehe es bis heute nicht. Das heißt, ich weiß es natürlich, aber verstehen – nein. Ich sage mir bis heute – es hat offenbar nicht geschadet. Das ist die Heimtücke dieser Radioaktivität: Wenn sie dich nicht gleich umhaut, denkst du, sie kann dir nichts anhaben. Und man vergisst das Ganze sehr schnell.
Was würdest Du heute anders machen in der Situation damals?
Natürlich wäre ich viel vorsichtiger. Zumindest ein bisschen klüger bin ich geworden. Hätte es mir damals jemand erlaubt – ich wäre sicher zum Fotografieren mit Freuden auch auf das Dach hochgestiegen, wo das Plutonium lag. Ich war ja in den Wochen nach dem Unglück im Auftrag der Redaktion noch mehrmals in Tschernobyl – kein anderer wollte hin, und in der Redaktion hieß es deshalb, ich sei jetzt Fachmann, und wenn ich so weiter mache, könne ich noch ein Buch rausgeben. Ich war ganz wild darauf, dachte mir, Mann, da kannst du Geld verdienen, und am Ende reicht es vielleicht sogar für ein Auto. Rückblickend wundere ich mich selber über meine Naivität damals. Aber die anderen waren nicht weniger naiv. Und die Fachleute leider offenbar auch.
Wie reagierten damals Deine Freunde und Bekannten?
Ich werde nie deren Blicke vergessen! Die waren ja überzeugt, da unten würden überall massenhaft Leichen rumliegen, und die sowjetischen Medien das verheimlichen. Ich erzählte ihnen, dass dort die Sonne scheint und die Vögel zwitschern. Sie sahen mich misstrauisch an, wie einen KGB-Agenten, der ihnen Propaganda-Lügen auftischt. Die Leute haben mir nicht geglaubt. Und in gewissem Sinne haben sie ja auch recht behalten – es war ja schrecklich, und die Medien logen. Nur zu sehen war das für mich halt nicht.
Wurdest Du irgendwie belohnt oder ausgezeichnet?
Gawrilow: Ach wo! Die Dienstreise nach Italien, damit hatte es sich dann auch. Geblieben ist mir die Wut. Und die kommt manchmal wieder hoch. Etwa, als ich jetzt nach Fukushima im Fernsehen unseren früheren Atomminister sah, der sagte, an den Folgen atomarer Unfälle seien nachweislich bisher erst drei Menschen auf der Welt gestorben – alle anderen Todesfälle, die in diesem Zusammenhang genannt werden, hätten andere Ursachen. Ich zuckte zusammen vor Empörung! So eine Aussage ist ein Fußtritt gegen die Opfer! Posthum!
Bilder: Igor Gawrilow/Boris Reitschuster
Text: br
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