Von Sönke Paulsen
Schwer zu sagen, seit wann es Todeslisten gegen politische Gegner gibt. Vermutlich schon lange, bevor es digitale soziale Netzwerke gab. Derzeit scheinen diese aber Konjunktur zu haben. Denn innerhalb eines halben Jahres kursieren Listen, auf denen hunderte „todgeweihte“ Personen stehen, sowohl von Rechtsextremen als auch von Linksextremen. Gemeinsam haben beide Gruppen, Rechte wie Linke, die Sprache, die von den Nationalsozialisten stammt. Von rechts tauchen Begriffe auf wie Volksfeinde und Volksverräter und in den linken Mordaufrufen wird von Menschenfeinden und Unmenschen gesprochen, die schlimmer seien als Tiere.
Nazi-Propaganda als Blaupause für beide Extreme, rechts und links!
Beides ist nationalsozialistische Propagandasprache, die man in Wochenschauen, Zeitungsartikeln und Hassreden des „Dritten Reiches“ problemlos wiederfindet. Beide extremistischen Gruppen machen nicht vor Juden halt und schreiben sie auf ihre Todeslisten.
Gemeinsam ist diesen Gruppen auch der unbedingte Vernichtungswille, den wir aus dem „Dritten Reich“ kennen und in beiden Gruppen wird dieser Vernichtungswille als Kaskade aufgebaut. Erst droht die soziale Vernichtung, danach die Biologische. Auch dies ist identisch mit dem Vorgehen der Nationalsozialisten.
Müßig zu erwähnen, dass die Nationalsozialisten sowohl extrem rechte als auch extrem linke Positionen in ihren Programmen hatten und auch beide Extrempositionen in ihrer Diktatur realisierten. Sozialistische sowie kapitalistische Extreme.
Allerdings gab es damals noch kein Twitter!
Die digitalen sozialen Netzwerke müssen aber berücksichtigt werden, wenn man darüber nachdenkt, wie widerstandsfähig unsere Gesellschaft heute gegen diese national-sozialistischen Schablonen ist.
Wahrnehmung wird zunehmend als Halluzination betrachtet
Wenigstens in den Neurowissenschaften wissen wir heute mehr als in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Wir wissen eben nicht nur, dass Menschen unter Gruppendruck bereit sind, andere Menschen zu foltern, zu quälen und zu töten, was die Experimente des Psychologen Stanley Milgram bereits in den Fünfzigern gezeigt haben. Wir wissen auch, dass Menschen, unter den Bedingungen einer relativen und weitgehenden Absonderung von der realen Umwelt, Halluzinationen entwickeln, die früher oder später in Psychosen enden.
Inzwischen gibt es auch neurowissenschaftliche Studien, die eine neue Theorie der menschlichen Wahrnehmung fordern und begründen. Grob skizziert, werden dort Wahrnehmungen ganz generell als Halluzinationen bezeichnet, weil sie sich nie mit dem wahrgenommenen Objekt und seiner realen Beschaffenheit decken. Mit anderen Worten: Wahrnehmung geht immer an der Realität vorbei!
Das Mittel gegen diese Unzulänglichkeit ist der ständige Abgleich mit der Realität, den wir vornehmen. Die Interaktion mit unserer Umwelt, die hilft, unsere „Halluzinationen“ an die Realität anzupassen.
Genau dieser ständige Realitätsabgleich fällt in der digitalen Welt aus!
Wenn allerdings die Realität als Korrektiv ausfällt, werden schnell Monster halluziniert. Dann geht es um archaische Ängste und Befürchtungen, die sich auch auf andere Menschen beziehen. So können unter den Bedingungen eines relativen Ausfalls der realen Umwelt Menschen als Monster wahrgenommen werden, die mit allen Mitteln zu bekämpfen sind.
Ein zweifelhafter Verdienst der Digitalisierung und ein besonders zweifelhafter Verdienst der sozialen Welt von Twitter.
Denn die digitale Welt besteht nicht aus der Realität, sondern aus Entwürfen der Realität, auch Entwürfen von scheinbar realen Menschen, die sogenannte Influencer und Multiplikatoren ins Netz stellen. Diese Entwürfe sind inzwischen recht monströs geworden. Sie sind holzschnittartig und zeigen eine hohe Polarität zwischen Gut und Böse.
Wenn man die Hass-Posts auf Twitter und Facebook, auf Telegram und Instagram anschaut, kann man nur von einem Realitätsverlust ausgehen, der sich dort in halluzinierten Feindbildern manifestiert.
Kein realer Kontakt mit den Andersdenkenden bedeutet dann auch, dass keine Korrektur möglich ist. Jede Relativierung der Halluzinationen fällt aus.
Twitter führt also zu Halluzinationen ohne Korrekturmöglichkeit.
'There is no way back? There is no return?‘
Wenn bereits Menschen im größeren Umfang als vermeintliche Monster ins Visier genommen werden, ist das ein ganz schlechtes Zeichen für unsere Gesellschaft. Es bedeutet, dass die Widerstandskraft gegen politische Extremisten, also Menschen, die den Kontakt zur Realität verloren haben, abnimmt.
Todeslisten sind ein Beispiel. Schlimmer aber sind klammheimlich geäußerte Sympathien mit solchen Vorstufen zum Massenmord. Fast genauso schlimm ist auch die Tatsache, dass sich politische Parteien und Medien generell nur über die eine „halluzinierende“ politische Gruppe von Extremisten aufregen, und die ebenso schlimme Gruppe im eigenen politischen Spektrum ungeschoren lassen.
Es gibt also nicht nur den Realitätsverlust, sondern auch die politische Instrumentalisierung des Realitätsverlustes im mittleren Segment unserer Gesellschaft zum Zwecke der eigenen politischen Hegemonie und der Diskreditierung der politischen Gegner.
Dafür werden dann sogar Todeslisten hinter vorgehaltener Hand legitimiert.
Auch das kennen wir ausgiebig aus den Jahren vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Es waren bekannte Verhaltensweisen der bürgerlichen Mitte zur Zeit der Weimarer Republik.
Die Frage, ob man mit Halluzinationen Politik machen kann, ist also schon hinlänglich beantwortet.
Die Antwort lautet 'Ja' und führt zu einer Politik der Verbitterung, des Hasses und der Radikalisierung!
Es fehlt noch die Frage, ob unsere Zeit besonders anfällig für politische Halluzinationen ist?
Damit wären wir wieder bei Twitter und den digitalen, sozialen Netzwerken. Vermutlich spielt hier auch der Realitätsentzug im Rahmen der Corona-Pandemie eine Rolle. Denn viele Menschen sind in den letzten zwei Jahren vor ihren Bildschirmen quasi eingesperrt gewesen. Gerade auch junge Menschen, die noch weniger Realitätserfahrung und noch weniger Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen hatten, sind hier hochgradig gefährdet worden.
Der Zulauf, aber vor allem die Sympathie für extremistische Positionen von Influencern und Multiplikatoren im politischen Bereich, entsteht dann überwiegend dadurch, dass deren Halluzinationen von „monströsen Menschen“, von „Unmenschen“, von „Volksfeinden“ und „Volksverrätern“, mangels Korrekturmöglichkeiten übernommen werden.
Die digitale Welt wird dadurch zu einem Videospiel mit nationalsozialistischen Vernichtungsregeln. Erst kommt die soziale und dann die biologische Vernichtung der „gegnerischen Monster“. Das gilt für beide politischen Extreme in unserer Republik.
Einzige Korrekturmöglichkeit dieser Fehlentwicklung ist die Einbindung in die reale Umwelt, also das, was man als reale, gesellschaftliche Teilhabe bezeichnet. Die Zensur macht die politischen Fehlwahrnehmungen im Netz nur noch interessanter. Gerade für junge Menschen. Es gibt aber leider noch einen weiteren, bitterbösen Aspekt dieser Anfälligkeit von Menschen für die allgegenwärtigen Halluzinationen im Netz.
Das ist der kapitalistische Wettbewerb
Wer publizistisch im Netz unterwegs ist und damit Geld verdienen will, muss via Twitter, Telegram, Facebook und so weiter auffallen. Das funktioniert zunehmend nur noch, wenn man gesellschaftliche Empörung eskalieren kann. Besonders im politischen Sektor haben wir das im abgelaufenen Bundeswahlkampf erlebt.
Vermutlich tauchen die Todeslisten auch nicht ohne Grund im Superwahljahr vermehrt auf. Egal, ob Greta Thunberg Deutschland als klimapolitischen Schurkenstaat bezeichnet oder Querdenker Mitglieder der Bundesregierung als Kriminelle darstellen. Gleichgültig, ob Politiker und Medien wiederum Querdenker als verfassungsfeindlich und rechtsradikal diskreditieren oder politische Parteien des demokratischen Spektrums, wie die AfD, als Naziparteien darstellen.
Im politischen Kampf kann mit digitaler Hilfe jeder Gegner zu einem Monster gemacht werden, ohne dass die Öffentlichkeit in der Lage ist, diese digitalen Halluzinationen an der Wirklichkeit abzugleichen und zu relativieren.
Das ist das Profitable an Twitter und Co und das ist äußerst gefährlich für unsere Gesellschaft.
Diese Entwicklung optimistisch zu sehen, dürfte auch dem sonnigsten Gemüt nicht mehr gelingen!
Wie es gelingen kann, diesen halluzinierten Wahnsinn zu stoppen, dürfte für unsere Gesellschaft relevanter sein als der Klimawandel. Denn die psychologischen Folgen sind schon deutlich erkennbar. Es fehlt wenig, bis die künstlich provozierten Konflikte zu größeren Gewaltausbrüchen führen, die dann Menschenleben kosten können. Die Tatsache, dass diese Eskalation auch unsere Demokratie ruinieren wird, als Kollateralschaden mit eingerechnet. Dann kann es gerne wärmer werden, weil wir sowieso nichts mehr zu verlieren haben.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt auch in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“. Hier finden Sie seine Fortsetzungsgeschichte „Angriff auf die Welt“ – der „wahre“ Bond.
Bild: ShutterstockText: Gast