Von Prof. Dr. Thomas Rießinger
Wie schön, dass uns kompetente und urteilsfähige Menschen immer wieder die Welt erklären! Wer hatte nicht schon lange ein Wort Frank Ulrich Montgomerys, des Vorstandsvorsitzenden des Weltärztebundes, zur Impfsituation in Deutschland erwartet? Inzwischen hat er es geliefert, und die Öffentlichkeit konnte endlich aufatmen: „Momentan erleben wir ja wirklich eine Tyrannei der Ungeimpften, die über das Zweidrittel der Geimpften bestimmen und uns diese ganzen Maßnahmen aufoktroyieren“, ließ er vor wenigen Tagen bei der stets überparteilichen und neutralen Anne Will verlauten. Von den Ungeimpften werden somit die Maßnahmen aufoktroyiert, nicht etwa von Ministerpräsidenten wie Markus Nostradamus Söder oder gar Gesundheitsministern wie Jens Spahn, ganz zu schweigen von Gesundheitsexperten wie Karl Lyssenko Lauterbach.
Das ist gut zu wissen für alle, die sich noch vage an das Konzept des freien Willens erinnern, sich aus verschiedensten Gründen nicht mit einem der gegenwärtigen Impfstoffe gegen COVID-19 impfen lassen wollen und sich noch immer dem irrigen Eindruck hingeben, man wolle sie drangsalieren, vom öffentlichen Leben ausschließen, früher oder später zur Impfung zwingen, kurz: tyrannisieren. Nein, in Wahrheit sind sie selbst die Tyrannen, „denn in Ländern, in denen 97 % geimpft sind, wie in Portugal, gibt es all diese einschränkenden Maßnahmen nicht mehr, weil man sie nicht mehr braucht“. Kleinliche Menschen könnten darauf hinweisen, dass in Schweden, wo nach derzeitigem Stand gerade einmal 68 % der Bevölkerung die vollständige und immerhin 72 % eine partielle Impfung empfangen haben, nicht nur jetzt keine Rede von einschränkenden Maßnahmen sein kann, sondern man sich auch vorher auf sehr viel schwächere Maßnahmen beschränkt und es weitgehend bei Empfehlungen belassen hat – oder liegt Schweden inzwischen außerhalb der Welt, für die sich der Weltarzt Montgomery zuständig fühlt? Der Weltärztefunktionär denkt so schlicht, wie man als Funktionär eben denkt.
Wie dem auch sei, Montgomerys Diktum steht fest: Es gibt eine Tyrannei und damit auch eine Pandemie der Ungeimpften. Seltsam allerdings, dass der so bekannte wie beliebte Christian Drosten, dessen Biographie man vermutlich einmal unter dem Titel „Dr. Drosten oder: Wie ich lernte, das Virus zu lieben“ verfilmen wird, völlig andere Meinungen äußert. In einem Interview mit der ZEIT äußerte er die Auffassung: „Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften. Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften, wir haben eine Pandemie.“ Das ist zwar logisch etwas eigenartig, denn eine eventuelle Pandemie der Ungeimpften wäre ja immer noch eine Pandemie der Ungeimpften und damit eben eine Pandemie, aber Drosten war noch nie ein großer Freund klarer Formulierungen. Dennoch ist immerhin klar, was er meint: Es ist nicht sinnvoll, von einer Pandemie der Ungeimpften zu sprechen.
Wie können derart verschiedene Bewertungen der Lage entstehen? Der Gedanke drängt sich auf, dass zu wenige Informationen zur Verfügung stehen; man hatte schließlich nur etwa 20 Monate Zeit, um sich die nötigen Daten zu verschaffen. „Die Daten zur Beurteilung des Infektionsgeschehens sind leider nach wie vor sehr lückenhaft“, kritisierte vor Kurzem der Virologe Hendrik Streeck. Vermutlich würde der vermeintliche Satiriker und tatsächliche Propagandist Jan Böhmermann auch diesen Satz als „durchtränkt von Menschenfeindlichkeit“ charakterisieren, in solchen Zuschreibungen ist er geübt.
Aber hat Streeck vielleicht recht? Sollten all unsere Institutionen, an vorderster Front das verdienstvolle Robert Koch-Institut, es versäumt haben, die nötigen Daten bereitzustellen? Sehen wir uns einmal die verfügbaren Daten an, die uns das RKI über die Impfeffektivität in Form von Tages- und Wochenberichten präsentiert. Im Wochenbericht vom 11. November findet man auf Seite 22 die Tabelle 4, in der über wahrscheinliche Impfdurchbrüche und Impfquoten nach Altersgruppen informiert wird. Da ich mich in einem früheren Beitrag schon mit der Verteilung der reinen COVID-19-Fälle auf der Basis britischer Daten befasst habe, betrachte ich hier einen sogenannten harten Endpunkt und untersuche die Anzahl der gemeldeten Todesfälle, die man dem Ende der Tabelle entnehmen kann.
Die Daten beziehen sich auf die Kalenderwochen 41 bis 44, also auf den Vier-Wochen-Zeitraum vom 11. Oktober bis zum 7. November 2021. Wie man leicht nachrechnet, gab es in diesem Zeitraum 840 + 54 = 894 Covid-Tote mit Angabe zum Impfstatus, darunter 10 + 350 = 360 „wahrscheinliche Impfdurchbrüche“, also Fälle, bei denen eine vollständige COVID-19-Impfung vorlag. Auf Seite 17 des Berichts wird mitgeteilt, dass zum Zeitpunkt der Berichtserstellung 67,3 % der gesamten Bevölkerung in der einen oder anderen Form vollständig geimpft waren.
Das sind, so sollte man meinen, schon Daten, mit denen man etwas anfangen kann. Dass 41,7 % der Todesfälle der Altersgruppe über 60 Jahre bei vollständig Geimpften vorkamen, relativiert zwar einigermaßen deutlich die gern getroffene Aussage, die Impfungen würden vor schweren Verläufen oder gar vor dem Tod bewahren, aber diese Zahl sagt, für sich genommen, noch nicht viel aus, solange man nicht die angegebene Impfquote mit eingerechnet hat.
Wie man so etwas machen kann, hatte ich schon in dem bereits erwähnten früheren Beitrag beschrieben. Da man aber niemanden zwingen sollte, alte Beiträge zu lesen, um neue zu verstehen, soll das Prinzip noch einmal erklärt werden; wer die Methode noch parat hat, kann den folgenden Teil getrost überspringen.
Wir gehen aus von einer Population von 10.000 Menschen, von denen 60 % geimpft sind, 40 % aber nicht, sodass man es also mit 6.000 Geimpften und 4.000 Ungeimpften zu tun hat. Die gesamte Anzahl der „Fälle“ – was auch immer man unter „Fällen“ verstehen mag – in diesem fiktiven Beispiel beträgt 1.000, 800 davon geimpft, 200 ungeimpft. Da die Anzahl der Geimpften ungleich ist der Anzahl der Ungeimpften, ist es sinnlos, die Fallzahlen direkt miteinander zu vergleichen. Wenn sich nun aber die Quote der Ungeimpften und die Quote der Geimpften die Waage hielten, dann würde auch ein Vergleich der Fallzahlen etwas aussagen. Diese Situation lässt sich leicht herstellen. Hätte man nur 5.000 Geimpfte statt 6.000, dann wären das gerade fünf Sechstel der angenommenen Zahl, weshalb man auch von nur noch fünf Sechsteln der Fälle ausgehen sollte. Das ist dann, wenn man auf ganze Zahlen rundet. 5.000 Ungeimpfte dagegen wären etwas mehr als die angenommenen 4.000, der Faktor liegt bei fünf Vierteln. Daher hat man in einer Klasse von 5.000 Ungeimpften nicht mehr 200 Fälle zu erwarten, sondern eben. Jetzt erst haben alle die gleiche Chance, und die beiden Werte 667 und 250 können als realistische Vergleichszahlen betrachtet werden. Bei Umfangsgleichheit der Klassen müsste man also mit insgesamt 917 Fällen rechnen, 667 davon geimpft, das sind 72,7 %, und 250 ungeimpft, das sind 27,3 %. Hat man demnach in unserem fiktiven Beispiel genauso viele Geimpfte wie Ungeimpfte, so wird sich die Gesamtzahl der Fälle aufteilen in 72,7 % Geimpfte und 27,3 % Ungeimpfte.
Um sich diese umständliche Prozedur zu ersparen, kann man sich auch eine einfache Formel herleiten, mit deren Hilfe die bereinigten Prozentsätze – in diesem Fall also 72,7 % und 27,3 % – problemlos berechnen lassen. Man erhält dann den bereinigten Anteil der Geimpften unter den „Fällen“ durch:
Bereinigter Anteil = (Anteil der geimpften Fälle * Ungeimpftenquote)/( Anteil der geimpften Fälle * Ungeimpftenquote + Anteil der ungeimpften Fälle * Geimpftenquote). Das bedeutet im fiktiven Beispiel: (0,8 * 0,4)/(0,8 * 0,4 + 0,2 * 0,6) = 0,32/0,44 = 0,727 = 72,7 %.
Zurück zu den konkreten Daten. Nach RKI-Angaben liegt die Impfquote der Gesamtbevölkerung bei 67,3 % = 0,673. Die Todesfälle unter den Ungeimpften erhält man, indem man die Zahl der Todesfälle mit Impfung von der Gesamtzahl der Todesfälle abzieht; das ergibt 894 – 360 = 534. Der Anteil der geimpften Todesfälle liegt bei 360/894 = 40,27 %, der Anteil der ungeimpften Todesfälle bei 534/894 = 59,73 %. Die Ergebnisse der Berechnung findet man in der folgenden Tabelle.
Die bereinigten Anteile wurden nach der obigen Formel berechnet, wobei die beiden bereinigten Anteile sich zu 1, also zu 100 %, ergänzen müssen. Die relative Risikoreduktion RRR berechnet man dann nach der Formel: RRR = (bereinigt ungeimpft – bereinigt geimpft)/bereinigt ungeimpft.
Sie beträgt demnach etwa 67 %, und das heißt, dass ein Geimpfter im Vergleich zu einem Ungeimpften ein um 67 % reduziertes relatives Sterberisiko aufweist. Oder besser: aufweisen würde, wenn die verwendeten Daten tatsächlich brauchbar wären. Das sind sie aber nicht, und die berechnete Risikoreduktion ist einigermaßen nichtssagend, wie sich gleich zeigen wird. Denn die Angaben des RKI erinnern stark an die Laternenmethode bei der Suche nach einem verlorenen Schlüssel. Man kennt die Geschichte: Ein Mann, der nachts unter einer Straßenlaterne herumkriecht und offenbar etwas sucht, wird von einem Passanten gefragt, was er denn verloren habe. Es sei der Schlüssel, erfährt der Passant, und nachdem er eine Weile vergeblich bei der Suche geholfen hat, verfällt er auf die Frage, ob denn der Suchende sicher sei, gerade hier seinen Schlüssel verloren zu haben. Nein, das sei nicht hier gewesen, antwortet ihm der Suchende, sondern ein Stück weiter hinten, aber dort sei es viel zu dunkel, deshalb ziehe er es vor, hier zu suchen.
So entstehen die oben angeführten Zahlen. Man hat zwar die Todesfälle vermerkt, bei denen ein Impfstatus bekannt war – das ist der Bereich im Laternenlicht –, aber leider vergessen, dass es auch den einen oder anderen Fall ohne bekannten Impfstatus gab – das ist der Bereich im Dunkeln. Die Anzahl dieser Fälle lässt sich feststellen, wenn man auf die RKI-Tagesberichte zurückgreift. Im Tagesbericht vom 11. Oktober 2021, dem ersten Tag der Kalenderwoche 41, wird festgestellt, dass bis zum Beginn dieses Tages 94.209 Covid-Todesfälle aufgetreten sind. Dagegen war der letzte Tag der Kalenderwoche 44 der 7. November 2021, weshalb man den Tagesbericht vom 8. November zu Rate ziehen muss, um die Anzahl der relevanten Todesfälle bis zum Ende des 7. November herauszufinden. Sie beläuft sich auf 96.558. Und schon steht mit 96.558 – 94.209 = 2.349 die Gesamtzahl der Covid-Toten im Verlauf der Kalenderwochen 41 bis 44 zur Verfügung. Das sind nun aber einige mehr als die erwähnten 894 Fälle mit bekanntem Impfstatus, genau genommen sind es 1.455 weitere Tote, die man berücksichtigen müsste, denn 1.455 + 894 = 2.349.
Es wäre nun ein Leichtes, die Effektivitätsrechnung noch einmal durchzuführen und die weiteren 1.455 Todesfälle einzuarbeiten, sofern man irgendetwas über ihren Impfstatus wüsste. Das weiß man aber nicht, denn es handelt sich ja um genau die Toten, deren Impfstatus verborgen geblieben ist. Was kann man nun tun? Die Berechnung nach der Laternenmethode ist unsinnig, da man einen Großteil der Todesfälle nicht in Betracht zieht. Man kann daher nur verschiedene Szenarien untersuchen und zusehen, welche Ergebnisse sie zutage fördern.
Beginnen wir also mit dem hypothetischen Szenario, das man mit einem gewissen Recht als Lauterbach-Szenario bezeichnen könnte, auch der Name Söder-Variante wäre nicht unpassend: Man geht einfach davon aus, dass alle Toten ohne bekannten Impfstatus ungeimpft waren. Die Begründung ist nicht schwer, denn schließlich handelt es sich um eine Impfung, die vor Todesfällen schützen soll, und wenn so viele Menschen zusätzlich gestorben sind, dann müssen sie wohl auf den Impfschutz verzichtet haben. Leider ist das ein ausgesprochen zirkuläres Argument, bei dem man sich voller Freude im Kreis dreht. Man setzt einfach voraus – ohne es zu wissen –, dass die erdrückende Mehrheit der Toten ungeimpft war, berechnet dann die Impfeffektivität und stellt fraglos fest, dass man mit Impfung deutlich seltener stirbt als ohne. Kurz gesagt: Man setzt das gewünschte Ergebnis voraus und erhält dann zur allgemeinen Überraschung am Ende das gewünschte Ergebnis. Indem man das Resultat einfach postuliert, genießt man, wie der britische Philosoph Bertrand Russell einmal bemerkte, alle Vorteile des Diebstahls gegenüber ehrlicher Arbeit.
Ausrechnen kann man es trotzdem, denn es handelt sich zwar um kein begründbares, aber doch um ein mögliches Szenario. Da man nun alle Todesfälle ohne bekannten Impfstatus zu den Ungeimpften schlagen muss, ändern sich die Verhältnisse drastisch. Die 360 geimpften Verstorbenen bleiben bestehen, doch auf die 534 ungeimpften muss man noch die 1.455 neuen Fälle addieren, das ergibt 1.989 hypothetische ungeimpfte Covid-Tote.
Die relative Risikoreduktion liegt nun bei etwa 91%, weshalb in diesem Lauterbach-Szenario ein Geimpfter im Vergleich zu einem Ungeimpften ein um 91% reduziertes relatives Sterberisiko aufweist.
Nun haben wir für die Größe RRR schon die zwei möglichen Werte 67% und 91% ermittelt, aber das ist noch nicht alles. Wenn man denn schon dem eben angeführten Szenario die Ehre erweist, muss man sich auch die gegenteilige Situation vor Augen führen, denn schließlich ist nicht von vornherein auszuschließen, dass die Toten ohne Impfstatus ausnahmslos geimpft waren. Man darf es nicht vergessen: Über den Impfstatus dieser 1455 Todesfälle wissen wir nichts, und was der einen Hypothese recht ist, sollte der anderen billig sein. In diesem Falle bleibt es also bei den ursprünglichen 534 ungeimpften Todesfällen, und auf der Seite der geimpften schlagen nun 360+1455 = 1815 zu Buche. Die folgende Tabelle zeigt die Resultate.
Die Lage hat sich jetzt etwas geändert. Angenommene 100 Todesfälle verteilen sich auf etwa 62 Geimpfte und 38 Ungeimpfte, wenn man annimmt, dass die Gesamtanzahl der Geimpften und der Umgeimpften gleich ist – genau das ist ja der Sinn der bereinigten Anteile. Und die Impfeffektivität in Form des Wertes RRR wird deutlich negativ: Auf der Basis der gleichen Zahlen findet man unter einer anderen Annahme ein höheres Sterblichkeitsrisiko für Geimpfte als für Ungeimpfte. Und wir wissen nichts über die Impfsituation unter den 1455 COVID-Toten ohne bekannten Impfstatus, wir wissen also auch nicht, ob es überhaupt eine positive oder gar eine negative Impfeffektivität gibt. So gut ist die Datenlage des RKI.
Niemand ist gezwungen, sich auf die beiden beschriebenen Extremfälle zu beschränken. Immerhin kennen wir die Impfquote der Gesamtbevölkerung zum relevanten Zeitpunkt, sie lag nach Angaben des RKI bei 67,3%. Was liegt also näher als die Annahme, dass auch 67,3% der Toten mit unbekanntem Impfstatus die Impfung empfangen haben und daher zu den Impfdurchbrüchen zu zählen sind? Die daraus folgende Rechnung ist die gleiche wie vorher. Nimmt man 67,3% der 1455 COVID-Toten ohne bekannten Impfstatus, so ergeben sich weitere 979 Fälle, die man den dokumentierten 360 Fällen zuschlagen muss. Wieder zeigt eine Tabelle die Resultate.
Es ergibt sich eine bescheidene Impfeffektivität in Form einer relativen Risikoreduktion von 35,8 %, die weit entfernt ist von dem, was üblicherweise propagiert wird. Da man aber weiß, dass die überwiegende Anzahl der Covid-Toten eher dem höheren Alterssegment zugehört, kann man auch nicht ausschließen, dass die Toten mit unklarem Impfstatus ebenfalls diesem Segment entstammen und daher auch ihre unbekannte Impfquote der Quote der mindestens Sechzigjährigen entsprechen könnte. Die lag, wie man in der unerschöpflichen Tabelle 4 des RKI-Wochenberichts vom 11. November nachlesen kann, bei 85,1 %, während die Impfquote der Gesamtbevölkerung 67,3 % betrug. Auf eine weitere Tabelle will ich hier verzichten, sondern nur das Ergebnis für die relative Risikoreduktion angeben: Sie liegt dann bei -3,39 % und ist somit negativ.
Niemand weiß, wie die tatsächliche Verteilung innerhalb der Gruppe von Todesfällen mit unbekanntem Impfstatus ausgesehen hat, eben das – um es für Politiker und Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks noch einmal zu erklären – ist die Bedeutung des Begriffs „unbekannt“. Auf Basis der vorhandenen Daten über den Impfstatus und die Anzahl der Covid-Toten in der Gesamtbevölkerung kann man nur sagen, dass die Effektivität der Impfung im Hinblick auf Todesfälle irgendwo zwischen -65 % und 91 % liegt. Etwas prägnanter formuliert: Man weiß gar nichts.
Das ist aber nur die halbe Wahrheit, da verschiedene Altersgruppen auch verschiedene Impfquoten aufweisen und man die Daten auch separat für die einzelnen Altersgruppen untersuchen kann. Ein wenig erschwert wird das durch die Tatsache, dass die aktuellen Daten der gesamten Covid-Todesfälle noch nicht vorliegen; in der zur Zeit aktuellsten Zusammenstellung, abgerufen am 12. November 2021, findet man nur die Werte bis zur Kalenderwoche 42. Man muss sich mit dem begnügen, was vorliegt, und deshalb ziehe ich jetzt den entsprechenden RKI-Wochenbericht für die Kalenderwochen 39 bis 42 zu Rate. Die nötigen Informationen über Todesfälle mit bekanntem Impfstatus finden wir wieder in Tabelle 4; zusätzlich erhält man dort die Information, dass die Impfquote in der Altersgruppe von 18 bis 59 Jahren bei 71,2 % lag, während die Altersgruppe ab 60 immerhin schon 84,6 % aufzuweisen hatte. Die Altersgruppe von 12 bis 17 Jahren spielt hier offenbar keine Rolle, weshalb es ja manche Leute auch für besonders wichtig halten, die Minderjährigen unter Impfdruck zu setzen.
Betrachten wir zunächst die Gruppe im Alter von 18 bis 59 Jahren. Hier gab es laut Tabelle 48 Todesfälle mit angegebenem Impfstatus, davon nur zwei Impfdurchbrüche. Ich will hier nicht mehr sämtliche Tabellen anführen, die Rechenmethoden habe ich oben schon beschrieben. Nimmt man die vom RKI favorisierte Laternenmethode zur Hand, ergibt sich für diese Altersgruppe im Hinblick auf Todesfälle eine relative Risikoreduktion und damit eine Impfeffektivität von 98,24 %. Um die anderen Szenarien beurteilen zu können, braucht man aber wieder alle Covis-Todesfälle in dieser Gruppe, also auch die ohne bekannten Impfstatus. Die findet man an der oben erwähnten Stelle in Form einer Excel-Datei, bei der leider die Einteilung der Altersgruppen nicht ganz zur Einteilung im RKI-Wochenbericht passt und zudem unter 4, aber über 0 liegende Todesfallzahlen innerhalb einer Gruppe nur mit der pauschalen Auskunft „<4“ angegeben werden. Das macht die Sache nicht genauer, aber immerhin kann man den Daten entnehmen, dass in der untersuchten Altersgruppe im Verlauf der Kalenderwochen 39 bis 42 mindestens 170 und höchstens 176 Covid-Sterbefälle verzeichnet wurden.
Auch hier verzichte ich auf das Auflisten der Tabellen; jeder kann mit den beschriebenen Methoden nachrechnen, dass die Bandbreite für die Impfeffektivität bei 170 Todesfällen zwischen -9 % und 99 % liegt, während sich bei 176 Todesfällen ein Spielraum zwischen -14 % und 99 % ergibt. Unterstellt man innerhalb der Gruppe der Todesfälle mit ungeklärtem Impfstatus die gleiche Impfquote wie in der gesamten Altersgruppe, findet man in beiden Fällen eine Effektivität von etwa 55 %. Die Effektivität der Impfung im Hinblick auf Todesfälle in dieser Altersgruppe liegt also nach den vorliegenden Daten irgendwo zwischen -14 % und 99 %. Der Schluss ist auch hier zulässig: Man weiß gar nichts.
Was bleibt, ist die Gruppe der mindestens Sechzigjährigen. Mithilfe der Excel-Tabelle des RKI kann man ausrechnen, dass es in dieser Gruppe in den Kalenderwochen 39 bis 42 zu 1.460 Covid-Todesfällen kam. Nur 600 werden im entsprechenden Wochenbericht als Verstorbene mit Impfstatus angegeben, davon 270 als Impfdurchbrüche, also als sogenannte voll geimpfte Verstorbene. Die Impfquote für die gesamte Population über 60 lag im betrachteten Zeitraum bei 84,6 %. Damit hat man schon alle Informationen, um die Impfeffektivität in Bezug auf Todesfälle in den verschiedenen Szenarien durchrechnen zu können. Die Laternenmethode liefert eine relative Risikoreduktion in Höhe von 85,11 %, das Lauterbach-Verfahren landet bei 95,87 %, die umgekehrte Methode, allen Sterbefällen ohne Impfstatus eine Impfung zu unterstellen, erreicht 37,67 %. Nimmt man dagegen an, dass unter den Toten mit unbekanntem Impfstatus so viele geimpft waren, wie im Rest dieser Population, nämlich 84,6 %, so findet man eine Effektivität von 60,68 %.
Die Bandbreite ist kleiner geworden, die Ergebnisse in dieser Altersgruppe bewegen sich zwischen 37,67 % und 95,87 %. Es scheint also eine positive Wirkung vorzuliegen, auch wenn man sie bei weitem nicht konkret beziffern kann. Das ist allerdings ein guter Zeitpunkt, um zwei weitere Probleme ins Spiel zu bringen, die bisher nicht berücksichtigt wurden, weil das Nichtwissen auch ohne sie nachweisbar war.
Noch immer wird gerne die Formulierung benutzt, jemand sei „an oder mit COVID-19“ gestorben. Und tatsächlich ist es nur allzu oft unklar, ob COVID-19 die alleinige Todesursache war, ob es einen weiteren Faktor in einer Reihe schwerer Vorerkrankungen darstellte oder ob der Patient positiv getestet wurde, aber beispielsweise ausschließlich an einem Herzinfarkt starb. Großflächig vorgenommene Obduktionen könnten so etwas herausfinden, bisher weiß man es nicht. Da nun aber vor allem Ungeimpfte einem massiven Testregime unterzogen wurden und werden, muss man damit rechnen, dass gerade in dieser Gruppe auch mehr positive Testergebnisse vorliegen, die sich dann in der falschen Kategorisierung eines Todesfalls niederschlagen. Hätte man genauere Daten, könnte man das bestätigen oder ausschließen, doch auch hier wissen wir zu wenig. Um nur ein rechnerisches Beispiel zu nennen: Nimmt man einmal an, unter den 1460 verzeichneten COVID-Toten habe es 125 gegeben – das sind weniger als 10 % –, die dank einer nicht vorhandenen Impfung sich einem PCR-Test unterziehen mussten, ein positives Ergebnis erhielten und dann an einer völlig anderen Todesursache verstorben sind. Diese 125 Fälle wurden dann fraglos falsch verbucht. In diesem Fall fällt die untere Grenze der Effektivitätsspannweite bei korrigierter Verbuchung ziemlich genau auf 0 %, und man kann keine ernsthafte Aussage mehr über die relative Risikoreduktion treffen. Wir wissen aber nicht, ob 10 % solcher Fälle auftraten oder 90 % oder vielleicht 0 %. Solange wir das nicht wissen, ist auch keine korrekte Bestimmung der Impfeffektivität in Bezug auf Todesfälle möglich.
Nur kurz will ich auf das zweite Problem eingehen. Karl Lyssenko Lauterbach hat zwar noch im August verlauten lassen, die Impfung sei nebenwirkungsfrei, allerdings dürfte das außer ihm kaum jemand behaupten. In Deutschlands offiziellen Stellen wie dem RKI oder dem Paul-Ehrlich-Institut herrscht kein überbordendes Interesse an einer präzisen Untersuchung der Nebenwirkungen, schon gar nicht an eventuellen letalen Folgen. Im Sommer 2021 haben Harald Walach, Rainer Klement und Wouter Akema eine Untersuchung zum Pfizer-Impfstoff publiziert, die nach dem üblichen Peer-Review-Prozess der Begutachtung in einer Fachzeitschrift veröffentlicht, dann auf Druck interessierter Kreise zurückgezogen und schließlich nach einem neuen Begutachtungsprozess in einer anderen Zeitschrift wieder veröffentlicht wurde. Resultat: Im günstigsten Fall wird die durch Impfung erzielte Verhinderung von 11 Covid-Toten zu vier Impftoten führen, im ungünstigsten stehen sogar vier Impftote zwei verhinderten Covid-Toten gegenüber. Die übliche Punktschätzung ergab ein Verhältnis von drei verhinderten Covid-Toten zu zwei in Kauf genommenen Impftoten. Wie auch immer das tatsächliche Verhältnis aussieht – und man muss kaum erwähnen, dass wir es wie üblich nicht kennen –, in jedem Fall müsste man es in die Berechnung der Impfeffektivität aufnehmen. Und nicht nur das: Da stärkere Nebenwirkungen in der Regel bei jüngeren Menschen vorkommen, Covid-Todesfälle aber überwiegend in der älteren und alten Bevölkerung, könnte man der Idee nachgehen, auch jeweils die Anzahl der verlorenen Lebensjahre zu berücksichtigen, die bei Todesfällen unter jüngeren Leuten selbstverständlich deutlich höher ausfällt als unter alten.
Ein kleines Fazit ist angebracht. Ausgangspunkt war die Frage, ob die vorhandenen Daten ausreichen, um die Impfeffektivität in Bezug auf Todesfälle beurteilen zu können.
1. Betrachtet man die Gesamtbevölkerung in Deutschland, so ist auf der Basis der offiziellen Daten eine enorme Bandbreite für die Effektivität möglich, die von negativen Werten bis fast zu 100 % reicht. Wir wissen nichts.
2. Beschränkt man sich auf die Altersgruppe von 18 bis 59 Jahren, so ändern sich zwar die Werte im Detail, aber man bewegt sich noch immer zwischen negativen Werten und annähernd 100 %. Wir wissen nichts.
3. Erst in der Gruppe der mindestens Sechzigjährigen ändert sich das Bild, sofern man nur die gegebenen Daten zu Todesfällen und zu Impfquoten in Betracht zieht; die möglichen Werte liegen nun zwischen 37 % und 96 %, negative Werte kommen nicht mehr vor. Solange aber die ausgesprochen unscharfe Kategorie der an oder mit COVID-19 Verstorbenen verwendet wird, die eine korrekte Kategorisierung von Todesfällen verhindert, und solange keine einigermaßen verlässlichen Informationen über das Verhältnis zwischen letalen Impffolgen und durch Impfung verhinderten Todesfällen zur Verfügung stehen, ist auch in dieser Altersgruppe keine Bestimmung der Impfeffektivität möglich. Wir wissen fast nichts.
Ist damit bewiesen, dass die aktuellen Impfstoffe keinen Schutz gegen tödliche Verläufe von COVID-19 bieten? Nein. Der Nachweis, dass eine Behauptung nicht bewiesen ist, widerlegt nicht die Behauptung selbst. Klar ist nur, dass man wenig bis nichts über die tatsächliche Schutzwirkung weiß.
Auf der Basis des Nichtwissens werden weitreichende politische Entscheidungen getroffen, Grundrechte eingeschränkt und Existenzen ruiniert. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Text: Gast