Es war einmal in einem kleinen Königreich, regiert von einer kuriosen Königin … Sinn und Unsinn des Inzidenzwertes

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Rießinger

Das schöne Königreich zählte erstaunlicherweise genau 100.000 Einwohner. Eines Tages verfiel die rigorose Regentin der 100.000 auf die Idee, sich des schädlichen Alkoholkonsums ihrer Untertanen anzunehmen. Wie bei allem, was sie in ihrer Weisheit anpackte, dachte sie auch bei diesem löblichen Unternehmen vom Ende her und ersann eine Methode, die Neigung ihres Volkes zur Trunkenheit – sie sprach allerdings niemals vom Volk, sondern stets von den Menschen, die schon länger in ihrem Königreich lebten – in objektive Zahlen zu fassen. Es war ganz einfach. Ein eigens von ihr zu ihrem Hauptratgeber erkorener Wissenschaftler erfand einen leicht zu handhabenden Test, der unabhängig von etwaigen Symptomen übermäßigen Alkoholgenusses ohne jeden Zweifel die Trunkenheitsbelastung eines jeglichen Probanden ermitteln konnte. Über kleinliche Einwände sogenannter Kritiker, die sich sogar unverschämterweise als Wissenschaftler bezeichneten, obwohl sie doch den Ratschlüssen des königlichen Leibwissenschaftlers widersprachen und der Testmethode unübersehbare Schwächen attestierten – über solche Einwände setzte sich die kommunikationsbefreite Königin souverän hinweg, denn die Wissenschaft, die sie selbst berufen hatte, war auf ihrer Seite.

Einzig ein kleiner Hauch von Bedauern musste verbleiben: Nicht einmal in dem schönen kleinen Königreich vermochte man es, in jeder Woche jeden Bewohner mit einem Test zu beglücken, und so einigte man sich in den königlichen Beraterkreisen, in jeder ins Land gehenden Woche 2.000 Einwohner des Reiches der kompetenten Königin dem Alkoholtest zu unterwerfen, ob sie nun wollten oder nicht. Dem Volk, das es ja eigentlich gar nicht gab, da das Königreich von Menschen, die schon länger dort lebten, und von weiteren Menschen, die noch nicht so lange den Segnungen des Königreichs ausgesetzt waren, bewohnt war – dem Volk war alles recht, denn sie wussten, wie sehr sich die konsistente Königin um ihre Gesundheit sorgte.

Und so begann es. Um einen schönen Begriff bei der Hand zu haben, wurde das Resultat der Testungen als Inzidenz bezeichnet, und die Messungen ergaben eine Inzidenz von 100 Alkoholgeplagten. Die konsternierte Königin war entsetzt, so konnte das nicht bleiben. Die mit der neu erfundenen Inzidenz verbundenen Probleme, die von den lästigen Pseudowissenschaftlern beharrlich und immer wieder vorgebracht wurden, wusste sie in königlicher Souveränität zu ignorieren – wer braucht Einwände, wenn er über Hofwissenschaftler verfügt? Um aber die Lage zu verbessern, ließ die kompromissfreie Königin eine Kampagne ins Leben rufen, eine hocheffiziente und außergewöhnlich schnell entwickelte Aktion zur Förderung der Abstinenz, der sich mit der Zeit ein jeder zu unterziehen hatte, auf dass er vom Laster der Trunkenheit befreit werde. Wie bei der kolossalen Königin nicht anders zu erwarten, erwies sich die Kampagne als voller Erfolg. Wer sich der Abstinenzförderung unterzogen hatte, war ohne Frage immun gegen Trunkenheitsversuchungen, und die Durchführung der Kampagne – den üblichen bewährten Kräften überlassen, die schon früher nicht durch Widerspruch aufgefallen waren – verlief erst etwas schleppend, dann aber immer zügiger, da nicht einmal die besten Berater einer katastrophalen Königin immer alles falsch machen können.

Als dann die Abstinenzförderung bei der Hälfte der Menschen im Lande durchgeführt worden war, ergab sich eine neu gemessene Inzidenz von 100. Nichts hatte sich geändert. Sofort erhoben die üblichen Verdächtigen wieder ihre hässlichen Häupter und ätzenden Stimmen und wiesen darauf hin, dass die Abstinenzförderung keineswegs zur vollständigen Immunität führen könne und der Wert von 100 genau die gleiche Bedeutung habe wie zu früheren Zeiten. Wie gut, dass sich die konsequente Königin nicht beirren ließ! Sie hatte die Wissenschaft und vor allem die Zahlen auf ihrer königlichen Seite, ganz zu schweigen von der Fantasie einer königlich akkreditierten Modelliererin, die eben jene Zahlen korrekt zu deuten wusste. Habe man nämlich der Hälfte der Menschen mithilfe der Abstinenzförderung zur Immunität gegen Alkohol verholfen, so müsse man selbstverständlich die magische Inzidenzzahl von 100 auf die verbliebene Hälfte beziehen, da die bereits geförderte Hälfte nichts mehr zur Inzidenz beitragen könne. Und da 100 von 50.000 genau das Gleiche bedeuten wie 200 von 100.000, laute der wirkliche und wissenschaftliche Wert nun 200 statt 100. Begeistert nahm sich die rasende Regentin dieses Arguments an: Das segensreiche Konzept der Grundinzidenz war geboren, gepriesen wurde die kreative Königin für ihre Findigkeit.

Die Kampagne zur Förderung nahm ihren unvermeidlichen Lauf, und bald konnte man eine Förderungsquote von 80 Prozent vermelden; 80.000 Einwohner des kleinen Königreiches waren außer Gefahr. Ein neuer Durchgang der Messungen ergab eine rohe und unbearbeitete Inzidenz von 60, doch zum Glück ließen sich die wirklichen Wissenschaftler und die hochgebildete Herrscherin nicht von den nackten Zahlen blenden. Die 60 Verbliebenen musste man schließlich, da 80.000 Menschen nichts mehr zu ihnen beitragen konnten, auf die geringere Menge von 20.000 restlichen Einwohnern beziehen. Da nun aber 60 von 20.000 gerade 300 von 100.000 entsprechen, hatte sich die Lage in Richtung auf eine Grundinzidenz von 300 verschlimmert. Zeter und Mordio schrien die sogenannten kritischen Wissenschaftler in Anbetracht dieses Wertes, aber durch nichts ließen sich die mustergültige Monarchin und ihre Getreuen vom rechten Wege abbringen.

Ein wenig Unruhe entstand im Land, als wiederum kurze Zeit später die Quote der Geförderten bei stolzen 97 Prozent lag und somit 97.000 Einwohner des schönen Königreichs zu keiner Inzidenz mehr einen Beitrag leisten konnten. Und tatsächlich lag der unbearbeitete Wert der Inzidenz nur noch bei 30! Aber ach! Es waren ja nur noch 3.000 Menschen übrig, die nach modellierter Meinung für diese Inzidenz Verantwortung zu tragen hatten. Und viele hatten sich noch nicht so recht an die wichtige und realistische Idee der Grundinzidenz gewöhnt, die in diesem Falle sagte, dass 30 von 3.000 nichts anderes bedeuten als 1.000 von 100.000, sodass bedauerlicherweise die Grundinzidenz nun den Wert 1.000 annehmen musste. Niemand war darüber mehr bestürzt als die mitfühlende Monarchin, jedoch hatte sie keine Wahl. Die unbestechliche Wissenschaft sagte ihr, dass nun klare und harte Maßnahmen ergriffen werden mussten, um solch hohe Zahlen für jetzt und alle Zeiten zu unterbinden. Ernsthafte Probleme ergab das nicht, in weiser Voraussicht hatte man bereits den einen oder anderen Wasserwerfer zur Unterstützung der allgemeinen Erkenntnisfähigkeit angeschafft.

Schließlich wurde das maximal Mögliche erreicht. Bis auf 20 hartnäckige Unbelehrbare hatten sich alle anderen 99.980 Einwohner des kleinen Königreiches sämtlichen Förderaktionen anbequemt und sich auf die sichere Seite des Lebens begeben. Und wirklich konnte man feststellen, dass die gemessene Inzidenz nur noch den Wert 20 annahm, was manch einer voreilig als großen Erfolg der königlichen Kampagne verzeichnen mochte. Das hieß aber, die Rechnung ohne den Wirt zu machen. Denn man bedenke: Nur noch 20 seltsame Subjekte konnten die Inzidenz von 20 erzeugt haben, und da man nach den ehernen Gesetzen der modernen Wissenschaft immer auf 100.000 umrechnen musste, ergab sich zwangsläufig, dass einerseits 20 von 20 und andererseits 100.000 von 100.000 genau gleichbedeutend sind. Die Grundinzidenz hatte den historischen Höchststand von 100.000 erreicht.

Der eine oder andere kam nun sicher auf den Gedanken, schlimmer könne es nicht mehr werden, doch sollte man die Möglichkeiten einer hochgradig hartnäckigen Herrscherin nicht unterschätzen. Als man sich nämlich kurz darauf zu einer neuen Messung von 2.000 Probanden durchrang, erhielt man den Wert 25. Die Katastrophe war eingetreten. Nur noch 20 Verantwortliche hatte man zur Verfügung, alle anderen waren definitionsgemäß nicht mehr in der Lage, den neuen Wert zu beeinflussen. Und so sagte die stets unbestechliche Wissenschaft: 25 von 20 entspricht nun einmal 125.000 von 100.000. Die Grundinzidenz musste mit dem Wert 125.000 angesetzt werden; man hatte davon auszugehen, dass von 100.000 Einwohnern des kleinen Königreichs 125.000 der Trunkenheit ergeben waren.

Dass nun eine konsequente Königin nicht mehr die geringste Wahl hatte, liegt auf der Hand. Sie ließ das Land absperren, und sie ließ alle Einwohner in ihren Behausungen einschließen, um das Problem endlich aus der Welt zu schaffen. Dann warf sie die Schlüssel weg. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann rechnet sie noch heute.

Eine absurde Geschichte, nichts weiter als ein albernes Märchen, wer wollte das bestreiten?

Vor kurzem ließ im Hinblick auf Covid-19 die so bekannte wie beliebte Modelliererin Viola Priesemann verlauten, bei einer Impfquote von 50 Prozent und einem Impfschutz von 100 Prozent entspreche eine Inzidenz von 100 in der Gesamtbevölkerung einer Inzidenz von 200 in der ungeimpften Gruppe plus einer Inzidenz von 0 bei den Geimpften. Die konsensfreudige Kanzlerin ließ sich nicht lumpen und übernahm innerhalb von kürzester Zeit die neue und so kreative Berechnungsmethode, die genau der entspricht, von der in unserem Märchen die Rede ist. Man kann es auch in eine einfache Formel fassen, die jeder mit Ausnahme von Politikern und Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verstehen kann: Ist „I“ die gemessene Inzidenz, mit der man sich trotz aller Schwächen bisher begnügte, und bezeichnet „P“ die in Prozent ausgedrückte Impfquote, so gilt für die neu eingeführte Grundinzidenz G = 100 * I / (100 – P). Eine gemessene Inzidenz von 100 führt bei einer Impfquote von 50 Prozent zu einer Grundinzidenz von G = 100 * 100 / ( 100 – 50 ) = 10.000 / 50 = 200. Hat man dagegen eine gemessene Inzidenz von 10 und eine Impfquote von 99 Prozent, so findet man schnell die Grundinzidenz 1.000, die nach neuester Lesart viel besser geeignet sein soll, die Lage realistisch zu erfassen, obwohl sich – man wird es müde, ständig das Gleiche zu wiederholen – solche Inzidenzen problemlos über Testanzahl, Teststrategie und Falsch-positiv-Raten erzeugen lassen und auch die Vorstellung vom einhundertprozentigen Schutz der Geimpften nichts weiter als ein Märchen ist.

Das Märchen, das alberne Märchen, die absurde Geschichte soll nach dem Willen der konsequent katastrophalen Kanzlerin Wirklichkeit werden. Deutschland ist zum Märchenland geworden. Aber nicht alle Märchen nehmen für jeden ein gutes Ende.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

 

 

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Bild: Billion Photos/Shutterstock
Text: gast

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