Von Daniel Weinmann
Geht es darum, die Corona-Lage zu dramatisieren, um so den allgemeinen Impfzwang hoffähig zu machen, verzerren die Regierenden allzu gern die Inzidenz der Ungeimpften. Nach Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und dem Hamburger Oberbürgermeister Peter Tschentscher (SPD), fiel nun auch Sachsens Landesvater Michael Kretschmer (CDU) damit auf, die Panik mit falschen Angaben geschürt zu haben.
Dort schafften es die überhöhten Daten sogar in einen Gesetzesentwurf. Die „Welt“ wollte erstmals am 2. Dezember wissen, wie viele Neuinfektionen es in Sachsen in der davorliegenden Kalenderwoche gab, die bereits vollständig ausgewertet wurde. Weitere Fragen waren, bei wie vielen Neuinfizierten in dieser Kalenderwoche der Impfstatus bekannt war und ob die Personen, bei denen der Impfstatus nicht bekannt war, in eine der beiden Gruppen – geimpft oder ungeimpft – eingeordnet wurden.
Diese Fragen zu beantworten sollte kein Problem darstellen – gerade in Zeiten, in denen Ungeimpfte immer wieder für das Versagen der Politik bei der Bekämpfung der Coronakrise herhalten müssen. Tatsache war indes, dass das Ministerium zwar bereits einen Tag später ausführlich antwortete – aber ohne Zahlen. Die diesbezügliche Datenlage sei „aktuell nicht belastbar“, lautete die Entschuldigung.
Ministerpräsidenten Michael Kretschmer hielt dies offenbar nicht davon ab, im Vorfeld mit verzerrten Inzidenzen seine harte Linie zu rechtfertigen. Am 5. November etwa verwies er im „Deutschlandfunk” auf eine Inzidenz von 700 bis 800 bei Ungeimpften – gegenüber 70 bis 80 bei Geimpften. „Es war ein verheerendes Signal dieser neuen Koalition, die sich aufmacht, Deutschland zu regieren, die pandemische Lage für beendet zu erklären“, wetterte der Maßnahmen-Hardliner mit Bezug auf diese Zahlen.
Steilvorlage, um neue Corona-Maßnahmen anzukündigen
Am 18. November behauptete Kretschmer im sächsischen Landtag: „In der Tat ist es so, dass die Inzidenz bei den nichtgeimpften Bürgerinnen und Bürger bei 1800 liegt und bei denen, die geimpft sind, bei 63.“ Tags darauf nutzte er dies als Steilvorlage, um neue Corona-Maßnahmen anzukündigen.
Für die Fraktionen von SPD, Grünen und FDP kamen diese Daten genau richtig, um ihren Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze anlässlich der Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ darauf aufzubauen. Zugleich wurde bundesweit die Arbeitsschutzverordnung verschärft.
Laut Recherchen der „Welt“ im Dezember beruhten die enormen Inzidenz-Unterschiede in anderen Bundesländern teils auf unbrauchbaren Daten. Obwohl beispielsweise in Bayern in einer Beispielwoche im November der Impfstatus der Neuinfizierten in 70 Prozent der Fälle nicht bekannt war, wurden diese Personen kurzerhand den Ungeimpften zugerechnet. Nach dieser Lesart überstieg die Zahl der ungeimpften Infizierten diejenige der Geimpften um das 16fache. Die Regierung Söder weigert sich bislang, sämtliche Zahlen herauszugeben – die Bayern-FDP zieht daher eine Verfassungsklage in Betracht.
Impfstatus in vielen Fällen unbekannt
Der Hamburger Senat wollte offensichtlich nicht auf diese Verweigerungstaktik setzen und beantwortete eine Kleine Anfrage der FDP. Danach ist der Impfstatus meist nicht bekannt, zuletzt nur in etwa zehn Prozent der Fälle. Brüskierender noch: Während der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher in der Kalenderwoche 45 von 90 Prozent Ungeimpften gesprochen hatte, waren es de facto nur 14,3 Prozent der Infizierten.
Sachsen wiederum teilte auf eine Anfrage der „Welt“ zunächst mit, man brauche noch Zeit, um genauere Angaben zu den Daten zu machen, die aber längst im Gesetzentwurf verwendet wurden. Zwei Tage später lieferte Dresden diese Zahlen: 12.374 Fälle in der Woche vor dem 2. November, Inzidenz 72 zu 597. Zudem sei in 30 bis 40 Prozent der Fälle nach Angaben der Landesuntersuchungsanstalt in diesem Zeitraum angegeben worden, dass der Impfstatus nicht erhoben bzw. nicht ermittelbar gewesen sei.
Fragt sich also, wie Michael Kretschmer auf sein Zahlenwerk kam. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass sich der sächsische Ministerpräsident auf eine Anfrage der „Welt“ zu dieser Causa nicht äußern wollte.
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Daniel Weinmann arbeitete viele Jahre als Redakteur bei einem der bekanntesten deutschen Medien. Er schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Michael Bihlmayer/ShutterstockText: dw