Am 3. Oktober jährt sich die deutsche Einheit zum 30. Mal. Ich habe deshalb mehrere Bürgerrechtler von damals gebeten, für meine Seite zu schreiben, was aus ihren Hoffnungen von damals geworden ist. Hier der erste, exklusive Beitrag in dieser Kurzserie – von Gunter Nooke, dem persönlichen Afrikabeauftragten der Bundeskanzlerin:
Wir hatten 1989 die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit, auf so etwas wie Rechtssicherheit, zumindest Berechenbarkeit: Ein Leben ohne Gängelung und Angst vor Repressalien und Willkür der SED-Mächtigen; mit Zugang zu der Bildung und den Themen, die uns wichtig waren; auf Medien, die berichten, was geschieht, und nicht, was der Ideologie der Mächtigen und ihrem Machterhalt nützt; auf eine ideologiefreie Schule für unsere drei Töchter; auf Mitgestaltung der Gesellschaft; auf Reisen zu Freunden und Bekannten im anderen Teil Deutschlands, zu den Orten deutscher Geschichte, zu den Kulturstätten und Naturwundern weltweit oder auch nur auf einen Urlaub irgendwo im Ostblock, ohne ein Drei-Tage-Durchreisevisum und die Flasche Johnnie Walker aus dem Intershop dafür nutzen zu müssen.
In unserem Ökumenischen Friedenkreis der Region Forst, der für die örtlichen Kirchengemeinden das Informationsblatt „Aufbruch“ herausgab, kam hinzu: Das Ende der Umweltzerstörung und Devastierung von Dörfern durch die Braunkohlentagebaue rund um meine Heimatstadt Forst (Lausitz); ehrliche Berichterstattung über Umweltverschmutzung und Gesundheitsrisiken durch Glasindustrie und Landwirtschaft; eine weniger naive, um nicht zu sagen weniger verlogene Haltung meiner Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und insbesondere der Kirchenverantwortlichen wie des Generalsuperintendenten in Cottbus und der Superintendenten in Guben und Spremberg; statt einer „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ Friedensbrücken auch zu unseren östlichen Nachbarn.
Wenn ich heute, 30 Jahre danach, Bilanz ziehe, dann überwiegt Freude und Dankbarkeit über das Erreichte. Wir leben in Einheit, Recht und Freiheit, im demokratischen und sozialen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland und niemand kann uns mehr strafrechtlich verfolgen, weil wir etwas sagen, was den Mächtigen nicht gefällt. Ich kann mich in einer Partei meiner Wahl einbringen, wo ich meine, am meisten politisch mitgestalten zu können. Ich hatte Möglichkeiten, an herausgehobenen Stellen selbst gestaltend einzugreifen. Und zwar in einem Maße, das ich vor 30 Jahren für schlechterdings unmöglich gehalten hätte: Als Mitglied der letzten, einzig frei gewählten Volkskammer der DDR; im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt; als Fraktionsvorsitzender in einer Regierungskoalition im Landtag Brandenburg; in der Braunkohlesanierung bei der Rekultivierung der ostdeutschen Braunkohlentagebaue und -veredlungsanlagen, einem der größten Umweltverbrechen der DDR; als Abgeordneter des Deutschen Bundestages, zuständig für Ostdeutschland, später für Kultur und Medien, als Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe, als Persönlicher Afrikabeauftragter der Bundeskanzlerin. Wenn Jemand wie ich klagen würde, wäre das wirklich nicht zu verstehen!
Und doch gibt es heute auch im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat Leerstellen und die Verfolgung Andersdenkender. Das ist selten physisch gefährlich wie zu DDR-Zeiten in der SED-Diktatur. Aber den Ruf und die berufliche Existenz kann es schon kosten, wenn man dem offiziellen Mainstream nicht folgt, sondern immer noch selbst denkt und sagen möchte, was man für richtig hält.
Ich hätte nie gedacht, in einem freien Land wieder einmal so viel Selbstzensur und neue Ideologien vorzufinden, wie wir es heute erleben! Das fängt an bei den Gender-Sternchen in offiziellen Texten; bei einem Abitur ohne „Klassiker“ und Integralrechnung und betrifft vor allem zahlreiche Medien und Journalisten, die nicht Fakten berichten wollen, sondern Meinungsjournalismus betreiben, die komplexe Themen auf Klickniveau vereinfachen und sich daran beteiligen, Menschen bis hin zu Bundespräsidenten zu jagen, die dazu beitragen, die Welt recht selektiv wahrzunehmen, und im Verdacht stehen, doch nicht immer so unabhängig zu sein, wie die Gebühren der Bürgerinnen und Bürger es ihnen erlauben.
Vielleicht hilft da ein Spruch aus DDR-Zeiten: Der Preis, den man für die Freiheit zahlen muss, sinkt, wenn die Nachfrage steigt. (Stanislaw Lec)
Günther Nooke, 61, ist ein ehemaliger DDR-Bürgerrechtler und ein Politiker (früher Bündnis 90, dann CDU). Nooke ist seit 2010 Persönlicher Afrikabeauftragter der Bundeskanzlerin und zusätzlich seit 2014 Afrikabeauftragter des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Von 2006 bis März 2010 war er Beauftragter für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe der Bundesregierung. Ich lernte Nooke in seiner Zeit als Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung (2006 bis 2010) in Moskau kennen. Wie nur wenige andere unterstützte er mich demonstrativ, als ich unter Druck geriet. Und er setzte sich vehement für andere Menschen ein, die ins Visier der Behörden gekommen ist. Seitdem schätze ich ihn sehr. Nie werde ich ein gemeinsames Treffen mit Natalia Pasternak, einer guten Freundin von mir und Direktorin des Pasternak-Museums, vergessen, die damals unter Druck war, und der Nookes sehr symbolträchtiger Besuch sehr half.
Text: gast