Hand aufs Herz: Haben Sie es nicht auch satt, ständig negative Nachrichten zu lesen? Bei denen man denkt, es seien „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“? Was sie aber leider nicht sind – denn es sind reale Neuigkeiten aus Deutschland. Ich möchte Ihnen ein Kontrastprogramm bieten, aus meiner Zeit in Russland. Zum Entspannen und Schmunzeln. Voilà:
Das Glück ist nur zwei Schritte entfernt – und doch unerreichbar. Beim Versuch, es unerlaubt zu betreten, werde ich barsch zurechtgewiesen: „Da dürfen Sie nicht hin!“, sagt eine hagere junge Frau mit Sophie-Loren-Frisur und baut sich wie ein Verkehrspolizist mit Absperr-Auftrag vor die einladenden beigen Ledersofas mit den braunen Couchtischen auf: „Weg hier!“ Sie dreht sich ab von der Polsterecke und weist mit ihrem Zeigefinger auf die spartanischen Holzstühle und Tische mit rot-weiß karierten Plastiktischdecken: „Hier, das ist für Sie!“ Ich blicke sehnsüchtig Richtung Ledermöbel: „Warum darf ich mich nicht hierher setzen?“ Die Bedienung in dem italienischen Restaurant in Sankt Petersburg sieht mich an wie einen Geistesgestörten: „Das ist nur für VIP-Gäste und Freunde unseres Besitzers!“
Die arme Frau ist über meine verwunderte Reaktion genauso verwundert wie ich über diese moderne Form der Apartheid. „Da sind doch sechs Tische leer, so viele VIPs können doch gar nicht kommen“, sage ich. „Das ist nun mal so“, hält sie dagegen, als handle es sich um ein Naturgesetz. „Aber es ist doch kein getrennter Saal, diese Tische und Stühle stehen doch hier mitten im Restaurant.“ Doch alle meine Anmerkungen und Fragen gehen ins Leere. „VIP ist VIP“, sagt die Bedienung mit einem entschuldigenden Lächeln.
VIP sitzt weicher und bleibt unter sich
VIP – „very important“ und mithin sehr wichtige Personen, auf Russisch ausgesprochen, wie man es schreibt, dürfen in Russland fast überall mit einer Sonderbehandlung rechnen. Allerdings sind die Maßstäbe, wer dazu gehört zu der feinen Gesellschaft, überall verschieden – oder genauer gesagt der Eintrittspreis in die VIP-Welt. Zumindest in den Flughäfen herrscht eine gewisse Ordnung. An den Warteschlangen vorbei durch den VIP-Saal wird geschleust, wer Abgeordneter ist, hoher Beamter, oder wer – ganz offiziell – für die VIP-Abfertigung einen Obolus entrichtet: von 10.000 Rubel im Moskauer Flughafen Domodedovo (ca. 280 Euro) pro Flug bis zu 6.500 Rubel im Sonderangebot im Konkurrenz-Flughafen Scheremetjewo, Terminal 3 (ca. 180 Euro).
Damit nicht genug: Künftig soll es sogar im Schnellzug zum Flughafen einen extra VIP-Waggon geben. Schneller wird der nicht sein, aber VIP sitzt weicher und bleibt unter sich, so heißt es. Selbst bei so banalen Dingen wie der Wäsche gibt es Unterschiede zwischen normalen und VIP-Kunden: Jedenfalls hängt seit kurzem eine Anzeige in meinem Treppenaufgang, in dem eine chemische Reinigung für ihren VIP-Service Reklame macht. Wie genau sich der Reinigungsprozess für die VIPs von dem für normal Sterbliche unterscheidet, wird freilich nicht verraten auf dem Plakat. Informativ, bunt – bestellen Sie hier den BUNTE.de-Newsletter!
Vom VIP-Notarzt bis zum VIP-Krankenhaus
Offenbar gilt es in der Moskauer Reklame-Szene als Gesetz, dass der Zusatz „VIP“ (oder, abgewandelt, „Elite“) die Nachfrage für Waren und Dienstleistungen jeder Art geradezu multipliziert – oder zumindest den Preis. So wird im Internet geworben für VIP-Discos, für VIP-Kindermädchen, VIP-Krankenhäuser, VIP-Notarztwagen und für VIP-Restaurants, mit dem dezenten Hinweis, dass dort auch ein VIP-Trinkgeld fällig wird.
Manche Angebote sind erklärungsbedürftig, zumindest für arglose Mitteleuropäer. VIP-Telefonnummern etwa: Das sind solche, die sich dank leicht einprägbarer Nummernfolge offenbar auch von gestressten VIPs oder solchen mit Rechenschwäche problemlos auswendig lernen lassen. Hinter der Annonce „VIP-Freizeit“ verbirgt sich bei genauerem Hinsehen ein Begleitservice, der VIP-Eskorte und VIP-Mädchen anbietet, entweder in „VIP-Bars“ oder „VIP-Saunas“, oder mit Zustellung frei VIP-Haus oder VIP-Hotel. „VIP-Salons“ dagegen können durchaus koschere Dienste anbieten, selbst sie „VIP-Personal“ versprechen: In vielen Fällen handelt es sich nur um besonders teure Friseure.
Ebenso wenig anrüchig – und wohl deshalb auch besonders teuer – sind mit großer Wahrscheinlichkeit die „Mobilen Elite-Toiletten“, die auf der vielsagenden Internet-Seite www.wcvip.ru angeboten werden. Offenbar können nur Basisdemokratie-geschädigte Westler auf den Gedanken kommen, dass alle Menschen zumindest an einem Örtchen vor Gott gleich sind. Wie wenig das zutrifft, zeigen Pläne in Sankt Petersburg, wo eine Gruppe von Geschäftsleuten (VIPs natürlich) der Stadtverwaltung vorschlug, künftig auch an die U-Bahnen VIP-Waggons anzuhängen: mit eigenem Eingang, weichen Sesseln, Klima-Anlange, Mini-Bar und natürlich auch einer eigenen Toilette. Die Behörden lehnten diese progressiven Pläne in einem ungeheuren Rückfall zu sowjetischer Gleichmacherei ab. So wird bis auf Weiteres unter der Erde eine segensreiche Einrichtung fehlen, die obenauf schon lange Sitte ist: Vorfahrt für VIPs. Selbst beim Parken – mit VIP-Parkplätzen für wichtige Beamte und „Bisnesmeny“, denen ihre Wachleute einfach einen Teil der Fahrbahn mit Absperrbändern reservieren, damit sie ohne jede Verzögerung ihren Geschäften nachgehen können. Nur chronische Neidhammel und pathologische Kommunisten kann es da aufregen, dass deswegen Nicht-VIPs im Stau stehen müssen.
Für VIPs ist diese Gefahr Gott sei Dank eher marginal. Auch wenn zuweilen umstürzlerische Gefahr droht. Hat doch tatsächlich heftiger Protest von Nicht-VIPs dafür gesorgt, dass etwa den – per Amt besonders wichtigen – Duma-Abgeordneten die lebenswichtigen Blaulichter auf den Dächern ihrer Dienstwägen verboten wurden. Aber zum Wohl von Mütterchen Russland haben die VIP-Abgeordneten dagegen ein Mittel gefunden und können jetzt ihre Zeit wieder uneingeschränkt dem Vaterland widmen, statt mit dem gemeinen Volk im Stau zu stehen: Sie lassen sich jetzt einfach von Polizei-Eskorten durch die fast 24-stündige „Rush hour“ in Moskau lotsen – denn den Ordnungshütern kann ja niemand das Signalhorn verbieten.
Nach dem wirklich unangenehmen „Job“ mit dem Lauterbach-Interview bin ich Ihnen für ein Schmerzensgeld besonders dankbar – und verspreche dafür, auch beim nächstem Mal wieder in den sauren Apfel zu beißen und wachsam an dem gefährlichen Minister dran zu bleiben! Aktuell ist (wieder) eine Unterstützung via Kreditkarte, Apple Pay etc. möglich – trotz der Paypal-Sperre: über diesen Link. Alternativ via Banküberweisung, IBAN: DE30 6805 1207 0000 3701 71. Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut.
Bild: Igor GavrilovLust auf mehr Geschichte über Igor und aus Russland? Die gibt es auch als Buch:
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