Ein Gastbeitrag von Vera Lengsfeld
Seit gestern wissen wir, dass der Volkswagen-Konzern „Exklusionslisten“ führt. Das hat eine Mitarbeiterin des Unternehmens ganz unbefangen ins Feld geführt, als der bekannte Journalist und Achse-Autor Henryk M. Broder anfragte, warum Audi umgehend auf eine anonyme Denunziation auf Twitter reagiert. Wörtlich:
„Vielen Dank für diesen Hinweis! Derartige Anzeigen werden automatisiert ausgespielt und wir haben keinen Einfluss auf die Platzierung. Wir werden den Fall jedoch prüfen und unsere Blacklist entsprechend überarbeiten“.
Auf Broders irritierte Nachfrage, wer denn die Ehre hätte, auf einer solchen Blacklist zu stehen, kam folgende Antwort:
„Sie verstehen sicherlich, dass wir jegliche Hinweise überprüfen, die uns erreichen. Und genau das behalten wir uns auch in diesem Fall vor: Eine Prüfung des Mediums auf dem Anzeigen für unser Unternehmen ausgespielt werden. Und die stetige Überarbeitung unserer Inklusions- und Exklusionslisten für Werbeanzeigen“.
So läuft das also inzwischen im besten Deutschland. Der Denunziant ist nicht mehr der größte Schuft im ganzen Land, sondern ein strenger Hinweisgeber, dem man umgehend gehorcht, auch wenn er anonym bleibt. Denunziation als staatsbürgerliche Pflicht kennt man bisher aus Diktaturen, in einer Demokratie gilt dagegen die Unschuldsvermutung und anonyme Denunziationen bleiben unbeachtet, weil sie als verächtlich angesehen werden.
Als vor 30 Jahren das Spitzelsystem der DDR aufflog, war ganz Deutschland entsetzt und man hielt die Ostdeutschen für eine Spezies, die irgendwie anfällig für Verräterei und deshalb demokratieunfähig sei. Dabei mussten die Stasioffiziere ihre IMs noch mühsam rekrutieren, sie ständig beobachten, sich heimlich mit ihnen treffen und sie bei Laune halten. Daneben gab es auch Denunzianten im eigenen Auftrag, aber die waren höchst selten und sie mussten das Licht der Öffentlichkeit scheuen.
Heute wimmelt es von selbsternannten Aufpassern, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Öffentlichkeit von allen Abweichlern zu reinigen. Das wird nicht nur mit Wohlwollen von den Herrschenden und den Meinungsmachern begleitet, sondern geradezu herausgefordert und mutmaßlich mit Demokratie-Programmen finanziert, denn niemand, der einer ordentlichen Arbeit nachgeht, kann sich stundenlang im Netz herumtreiben, um missliebige Bemerkungen zu entdecken und zu melden. Jeder Benutzer kennt inzwischen die Mitteilungen von Twitter, dass sein Tweet gemeldet, aber festgestellt wurde, dass sein Inhalt nicht gegen die AGBs verstößt, oder die Sperrungen – längere oder kürzere. Wobei man wie bei Kafka nicht weiß, was einem eigentlich vorgeworfen wird.
Wir haben Meinungsfreiheit, aber man muss, wenn man seine Meinung äußert und die nicht dem vorgegebenen Korridor entspricht, eben die Konsequenzen tragen. In diesem Sinne herrschte auch Meinungsfreiheit in der DDR und sogar in der Sowjetunion, nur sind die Konsequenzen heute nicht mehr ganz so drastisch. Wer unter Stalin auf der Exklusionsliste landete, endete im Gulag oder vor dem Erschießungs-Peloton, im Nationalsozialismus unter dem Fallbeil oder im KZ, in der DDR im Gefängnis und heute wird er „nur“ noch öffentlich an den Pranger gestellt, als Person, mit der man besser keinen Kontakt haben sollte, gebrandmarkt und/oder wirtschaftlich ruiniert. Manchmal auch kriminalisiert, wie jener YouTuber, bei dem überraschend ein Rollkommando der Polizei morgens um sechs vor der Tür stand, die anschließende Wohnungsdurchsuchung nichts als die Waffen eines Jägers und Sportschützen zu Tage brachte, von denen dann aber in der Zeitung stand, es müsste überprüft werden, ob ein Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz vorliege.
In dem damit erzeugten Klima der Angst soll den Abweichlern die Lust vergehen, sich ihrer Meinungsfreiheit zu bedienen. Um ganz klarzumachen, worum es geht, hat der Verfassungsschutz, der inzwischen eher ein Regierungsschutz ist, einen neuen Beobachtungsgrund „Delegitimierung des Staates“ eingeführt, der alle Kritik an der Regierung verstummen lassen soll. Damit ist das demokratische Prinzip der „Checks and Balances“ außer Kraft gesetzt – eines der Erfolgsgeheimnisse des Westens.
Zurück zu VW und Audi. Die unfreiwillige Offenbarung einer Mitarbeiterin der Social-Media-Abteilung zeigt, dass der dünne Firnis der Reeducation, die den Westdeutschen als Crashkurs in Demokratie nach dem Nationalsozialismus zuteilwurde, nicht nur Risse bekommen hat, sondern großflächig abblättert. Die wichtigste Lehre, dass man die Methoden der Totalitären scheuen muss, wie der Teufel das Weihwasser, ist so vollkommen vergessen, dass die Ungeheuerlichkeit von Exklusionslisten nicht nur nicht empfunden wird, sondern man scheint noch stolz darauf zu sein, dass man dem Zeitgeist so eifrig dient. Ein deutsches Unternehmen setzt einen jüdischen Autor auf eine solche Exklusionsliste – sollte das eigentlich nie wieder geschehen?
Wirklich überraschend ist das Verhalten von VW jedoch nicht. Wenn ein Automobilhersteller eifrig den Entschluss der Politik beklatscht, seine Produkte, mit denen er noch Weltmarktführer ist, zu verbieten, dann folgt er wieder einmal kritiklos einer Ideologie. Wahrscheinlich hofft er, dass alles schon nicht so heiß gegessen wird, wie es serviert wurde. Aber es hätte ihm eine Lehre sein müssen, dass er versucht hat, die politisch festgelegten und von ihm begrüßten Abgaswerte heimlich durch Tricksereien zu umgehen. Das hat nicht geklappt und nichts weist darauf hin, dass die Zerstörung des Individualverkehrs und damit die Abschaffung der Autoindustrie abgenickt und durch irgendeinen Trick verhindert werden könnte.
Völlig absurd ist, dass VW mit seinen Exklusionslisten genau diejenigen bekämpft, die eigentlich seine Verbündeten sind. Nur in offenen Gesellschaften mit Meinungsfreiheit kann Marktwirtschaft gedeihen. Auf dem Weg in die Kommando-Ökonomie, auf dem Deutschland immer schneller fortschreitet, ist für Unternehmen nichts zu gewinnen, auch wenn sie sich noch so servil in ein System von richtiger Haltung und Moral einfügen. Ja, sie verspüren Druck, aber statt sich diesem zu widersetzen, wollen sie lieber vermeiden, in den öffentlichen Verdacht einer „falschen“ Gesinnung zu geraten. Deshalb wird den Denunzianten, die Abweichler gern an den Pranger stellen, nachgegeben und ihnen damit eine große Macht gegeben.
Wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, wo die Macht nicht vom Volk, sondern von den Denunzianten ausgeht? Das ist nämlich die Konsequenz, von der niemand sagen sollte, er hätte sie nicht voraussehen können.
Vera Lengsfeld, geboren 1952 in Thüringen, ist eine Politikerin und Publizistin. Sie war Bürgerrechtlerin und Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Von 1990 bis 2005 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages, zunächst bis 1996 für Bündnis 90/Die Grünen, ab 1996 für die CDU. Seitdem betätigt sie sich als freischaffende Autorin. 2008 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Sie betreibt einen Blog, den ich sehr empfehle. Der Beitrag erschien zuerst auf Vera Lengsfelds Blog.
Text: Gast