„Wir schämen uns sehr“ INNENANSICHTEN AUS RUSSLAND

Die „Nowaja Gaseta“ ist eine der letzten kritischen Zeitungen in Russland. Dafür ist sie massiv unter Beschuss. Ihr Chefredakteur Dmitrij Muratow erhielt im Herbst den Friedensnobelpreis. Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Die ermordete Anna Politkowskaja war eine Mitarbeiterin der Zeitung. Anfang Januar machte mich die „Nowaja Gaseta“ nach meinem Ausschluss aus der Bundespressekonferenz zum freiberuflichen Berlin-Korrespondent – aus journalistischer Solidarität. Umso mehr bricht es mir das Herz, was nun mit der Redaktion, der ich kollegial wie freundschaftlich verbunden bin, und für die ich auch dieser Tage berichtete, geschieht. Lesen Sie hier den bewegenden „Abschiedsbrief“ von freier Berichterstattung aus der Nachrichtenredaktion vom 2.3.2022: 

Der Nachrichtendienst der „Novaja Gaseta“ stellt seine Arbeit ein. Aber wir werden wiederkommen. Bald.

Hallo zusammen, hier ist Nikita Kondratjev, Leiter der Nachrichtenredaktion der Novaya Gazeta.

Heute gehört unsere Redaktion zu den wenigen verbliebenen Vertretern des unabhängigen Nachrichtenjournalismus in Russland.

„Echo Moskau“ wird buchstäblich aus der Zeitgeschichte gelöscht, Meduza* hält sich in den sozialen Netzwerken, obwohl es blockiert ist, und Mediasona* arbeitet weiter wie bisher, aber ich bin sicher, dass sich die Kollegen aller Risiken bewusst sind.

Heute hat das russische Parlament de facto endgültig eine Militärzensur eingeführt, ohne sie tatsächlich de jure zu verhängen. Für die „Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte“ können wir Nachrichtenjournalisten bis zu 15 Jahre ins Straflager kommen. „Bewusst falsche“ Informationen sind Daten über Gefangene, getötete Menschen und den Beschuss von Zivilisten in der Ukraine. Wir werden aufgefordert zuzugeben, dass nichts von alledem geschehen ist.

Ja, wir können sagen, dass der Weg zum freien Journalismus über Kasernen und Stacheldraht führt. Das klingt sehr schön, aber ist nichts anderes als vollkommen irrer Blödsinn. Die Wahrheit ist, dass es außer uns und ein paar anderen Redaktionen niemanden im Land gibt, der noch echte journalistische Nachrichtenarbeit macht. Deshalb bleiben wir bis zur letzten Minute. Wir gehen nicht in Internierungslager und Kolonien. Wir gehen nicht nach Europa oder Georgien. Wir bleiben in Russland, es ist unser Land.

Sobald die militärischen Zensurgesetze in Kraft treten (nur die Unterschrift von Wladimir Putin fehlte noch – wurde aber inzwischen geleistet, Anm. d. Übers.), müssen wir leider auf die Veröffentlichung von Zusammenfassungen von der Front verzichten. Wir werden nicht mehr in der Lage sein, wahrheitsgemäß über die Kämpfe in der Ukraine zu berichten und beiden Seiten das Wort zu erteilen. Wir werden den Beschuss der Städte des Bruderlandes vorübergehend vergessen müssen. Wir werden wieder einmal – vorübergehend – das Schicksal unserer Soldaten, unserer Kameraden, vergessen müssen, die sich oft gegen ihren Willen in Krisengebieten befinden.

Was bleibt zu berichten? Welche Fakten müssen überprüft werden? Die Schließung eines weiteren Einkaufszentrums? Über Unternehmen, die sich aus unserem bequemen Leben verabschieden? Das ist alles lächerlich.

Wir werden weiterhin Informationen sammeln. Aber wann und in welcher Form wir sie veröffentlichen, wissen wir nicht. Wir schämen uns sehr, diesen Schritt zu tun, während unsere Freunde, Bekannten und Verwandten in der Ukraine die Hölle durchmachen. Und zwar auf beiden Seiten.

Muratow
Dmitrij Muratow, Chefredakteur und Friedensnobelpreisträger

Aber es wäre noch beschämender, wenn wir uns weigern würden, überhaupt über alles, was geschieht, zu berichten. Die Militärzensur erstreckt sich nicht auf die Tatsache, dass der Krieg in uns selbst stattfindet. Wie wirkt sich das Geschehen auf die mentale Verfassung der Russen und Ukrainer aus? Was bringt die Zukunft für unsere Wirtschaft und unsere persönlichen Finanzen? Wird Russland gegen das Geschehen protestieren? Welche Form wird die Repression annehmen? Was wird aus der Medizin? Ist das Thema der Folter im Strafvollzug etwa nicht mehr aktuell?

Wir bleiben dabei, diese große Bandbreite an Themen abzudecken. Die Korrespondenten der Nowaja Gaseta haben in diesen Tagen ohne Schlaf gearbeitet und werden dies auch weiterhin tun, allerdings in einer anderen Funktion – wir werden vorsichtig und leise darüber berichten, wohin die globale Zäsur am Morgen des 24. Februar das Leben aller Menschen führt.

Aber der Versuch, dem Leser ein Bild von der Realität zu vermitteln, indem man nur die Meldungen des Verteidigungsministeriums und Nachrichten aus dem zivilen Leben verwendet? Nein, das wird nie passieren.

Philip Graham, der erste Nachkriegsverleger der Washington Post, sagte: „Nachrichten sind der erste Rohentwurf der Geschichte.“

Wir, die erste militärische Generation in Putins Russland (viele von uns sind nicht einmal fünfundzwanzig), sagen: Wir können die russische Realität nicht verlassen, ohne zumindest diese groben Entwürfe der Geschichte zu kennen. Andernfalls wird alles, was in den 2020er Jahren in Russland geschah, in der Erinnerung unserer Kinder eine, von jemand anderem erdachte, Fiktion bleiben.

Ab 00:00 Uhr in der Nacht vom 4. auf den 5. März wird die Novaya Gazeta unter Androhung der strafrechtlichen Verfolgung von Journalisten ihre Berichterstattung für eine Weile einstellen. Ganz einfach, weil Gesetze in Kriegszeiten eher im Morgengrauen in Kraft treten. Wir werden auf jeden Fall herausfinden, wie wir überleben können, ohne ins Gefängnis zu gehen, und wir werden in derselben Eigenschaft und mit zumindest einigen guten Nachrichten zu Ihnen zurückkehren.

Nikita Kondratjew, Nachrichtenredaktion der Nowaja Gaseta

 

 

 

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!
Bild: Gregory Stein/Jarretera/Shutterstock
Text: br

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