Hand aufs Herz: Haben Sie es nicht auch satt, ständig negative Nachrichten zu lesen? Bei denen man denkt, es seien „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“? Was sie aber leider nicht sind – denn es sind reale Neuigkeiten aus Deutschland. Ich möchte Ihnen ein Kontrastprogramm bieten, aus meiner Zeit in Russland. Zum Entspannen und Schmunzeln. Wobei hier ergänzt werden muss – der Straßenverkehr zumindest in Moskau und Kiew ist heute viel zivilisierter als vor fast zwanzig Jahren, als diese Geschichte entstand. Heute hat sich alles ein wenig umgedreht – und manchmal kommen mir die Verkehrs-Sitten Berlin roher vor als in Moskau. Voilà:
Langsam, aber bedrohlich nähert sich unsere Motorhaube den zierlichen Beinen der jungen Fußgängerin. Ich traue meinen Augen nicht: Statt zu bremsen, drückt der Mann mit dem kämpferischen Kurzhaarschnitt und der rabenschwarzen Sonnenbrille am Steuer unseres Taxis auf die Hupe und lehnt sich Richtung Fenster: „Zisch ab, Schlampe!“. Die Frau redet mit ihrem Freund, bemerkt uns hinter ihrem Rücken nicht. Ich will gerade „Stopp“ schreien, da ist ein dumpfer Schlag zu spüren. Für einen Moment verschwindet die junge Frau vor der Windschutzscheibe aus dem Blickfeld.
Faustrecht statt Regeln
Es ist ein heißer Sommertag, in einer Fußgänger-Zone vor einem alten Zaren-Palast in Jalta, dem Nizza der Krim: Unser Fahrer, ein junger Mann mit Oberarmen so breit wie Abflussrohre, bewegt sich zwar nur im Schritttempo. Doch eigentlich dürfte er hier gar nicht fahren. Und umso mehr ist es verboten, Fußgänger hupend und fluchend aus dem Weg zu jagen. Doch wer kein Steuer in der Hand hält, sitzt oder läuft auf den Straßen der früheren Sowjetunion am kürzeren Hebel: Vorfahrt hat meist der Stärkere: Jeep sticht VW, Opel Lada, und der tattrigste Moskwitsch hat Vorfahrt vor Fußgängern. Fahrradfahrer trauen sich erst gar nicht auf die Straße. Statt der Verkehrsordnung gilt Faustrecht. Besonders, wenn es Fahrer eilig haben – was meistens der Fall ist.
Auch bei uns: Weil der „Taxist“ erst mit zwanzig Minuten Verspätung vor dem Hotel vorgefahren ist und wir zu spät zu einem Termin kommen, will er die eigene Unpünktlichkeit mit Brachialgewalt wettmachen.
'Du dumme Kuh'
Mit schmerzverzerrtem Gesicht greift die schmale junge Fußgängerin an ihren Schenkel. Ich lange instinktiv zum Türgriff, will aussteigen und helfen. Doch unser Wagen rollt weiter. Da dreht sich unser Fahrer auf seinem Sitz Richtung Tür. Endlich, denke ich: Jetzt wird er anhalten. Doch es gibt weder eine Entschuldigung noch erste Hilfe: „Du dumme Kuh, pass doch auf, wo Du läufst!“, schreit der Rüpel am Steuer sein Opfer an: „Bist Du taub? Ich habe doch gehupt!“
In ihrem Ärger schlägt die hübsche Frau mit ihrer Hand auf die Motorhaube: „Idiot, bist Du verrückt geworden? Pass doch auf, wo Du hinfährst.“ Unser kraftfahrendes Muskelpaket rastet aus: „Ich schlage Dich gegen die Wand, Du Hure!“ Als sich der schmächtige Freund der jungen Frau einmischt, bekommt er nicht minder freundlich Antwort. Unser Auto-Rohling drückt aufs Gas und fährt weiter.
'Unverschämte Fußgänger'
Ehe ich mich von meinem Schreck erhole und mich einmischen kann, hält er endlich an: Nicht etwa aus später Einsicht – nur, weil wir an unserem Ziel angelangt sind. Vom Fahrersitz dringt Zigarettenrauch und ein finsteres Brummen zur Rückbank: „Unverschämt, diese Fußgänger heutzutage, solche Huren“.
Dass der Fahrer wegen uns anhalten muss, ist ein Glücksfall für sein Opfer: Etwas später fährt die Miliz vor. Nach einem eindringlichen Gespräch mit den Uniformierten schnaubt der junge Mann vor Wut: „So eine Schweinerei. Ich soll dieses A…. angefahren haben! Die ist mir doch vor den Wagen gelaufen. Ins Krankenhaus wollte sie! Simuliert hat sie! Dabei habe ich sie kaum erwischt! Den Führerschein wollen sie mir wegnehmen. A…! Vor Gericht soll ich! Aber ich habe einen Freund bei der Miliz, der wird das schon zurechtbiegen.“
Spurt über die Ampel
Ein Irrtum – hoffentlich. Wenn sie jemanden anfahren und ernsthaft verletzen, haben Autofahrer in der früheren Sowjetunion schlechte Karten. In weniger gravierenden Fällen bewegen sich Fußgänger dagegen eher im rechtsfreien Raum. Viele Fußgänger-Ampeln sind so geschaltet, dass das Überqueren einer Hetzjagd gleicht: Sobald das grüne Männchen erlischt, bekommen die Autofahrer grünes Licht – und drücken ohne jede Rücksicht wie blind aufs Gas. Meinen Weg zur Arbeit beginne ich so regelrecht mit einem Spurt. Was für mich eher eine kostenlose Fitness-Übung ist, kann für eine Babuschka schon mal zum Wettlauf ums Überleben werden.
Dabei hat man als Fußgänger keine Garantie, dass nicht irgend ein besonders hastiger Autofahrer auch bei rot über die Kreuzung rauscht: Kein Wunder, es gibt in Russland keine Verkehrssünder-Kartei wie in Flensburg – und sind die meisten Regelverstöße mit einem Bestechungsgeld zu tilgen. Die meisten Vertreter der Verkehrspolizei, abgekürzt „GAI“, benehmen sich eher wie Wegelagerer denn Ordnungshüter.
Gesetz zum Abkassieren
Die Staatsdiener mit ihren alten, klobigen Sowjet-Uniformen, in denen sie im Winter oft Michelin-Männchen ähneln, sehen die Straßenverkehrsordnung meist weniger als verbindliches Regelwerk denn als Lizenz zum Abkassieren. Eine rote Ampel oder 120 km/h in geschlossenen Ortschaften sind oft schon für ein paar Dollar verziehen; Betrunkene werden für das Auge des Gesetzes ab 100 Dollar nüchtern.
Chaos auf den Straßen herrscht nicht erst seit den Wirren nach dem Kollaps der UdSSR. Fußgänger sind eine seltene Gattung, die man schützen muss, mahnten die russischen Satiriker Ilf und Petrow schon unter Stalin: Mitleid erregende Gestalten, eingepfercht auf enge Fußwege, wo sie in Angst und Schrecken ihr Dasein fristen, seit die Autos zu den Herrschern der Straßen wurden. Geändert hat sich wenig: Kaum ein Rechtsabbieger kommt in Russland auf den Gedanken, für Fußgänger, die grün haben, anzuhalten. Wer sich am Steuer an die Regel hält, kann den Verkehr zum Stocken bringen: Die verängstigen Fußgänger trauen dem Frieden oft nicht und bleiben trotz Grünlicht stehen, wenn ein Autofahrer wie für sie anhält.
Fußgänger im Galopp
Russlands Verkehrspolizisten sehen bei solchen Regelverstößen seelenruhig zu – selbst, wenn Autofahrer am Zebrasteifen Fußgänger zum Galopp treiben. Offenbar sind die vorgeschriebenen Strafen nicht lukrativ genug, um den schwarz-weißen Anhalte-Stab zu strecken: Von einem Betrunkenen ist mehr Geld zu holen.
Der Gerechtigkeit halber muss angemerkt werden, dass auch die meisten Fußgänger in Sachen Regeln alles andere als Unschuldslämmer sind: Wo sie im Rudel auftreten, nehmen sie ihrerseits den Autos die Vorfahrt und marschieren schon mal bei Rotlicht los. Selbst nüchterne Passanten überqueren regelmäßig die Straßen, wann und wo sie Lust haben, ohne sich auch nur umzusehen.
So sind denn auch viele russische Autofahrer entsetzt, dass nach dem Umwelt-Schutz vom Westen her ganz zaghaft auch der Gedanke des „Fußgänger-Schutzes“ gen Osten vordringt. Etwa bei den ukrainischen Verkehrs-Polizisten, abgekürzt „DAI“, was soviel wie „Dawai“ und damit ironischerweise zugleich „gib her!“ bedeutet. Die „DAIs“ haben nicht nur die alte klobige Sowjet-Kluft gegen etwas schnittigere Uniformen ausgetauscht – sondern auch die Fußgänger als lukrative Einnahmequelle entdeckt. Seit sie regelmäßig hinter Zebrastreifen auf der Lauer liegen, lassen ukrainische Autofahrer Passanten brav passieren.
So viel Rücksicht ist gefährlich, kommentierte kürzlich ein russischer Freund ironisch die neue Strenge der ukrainischen Ordnungshüter. Wenn Besucher aus Moskau oder Petersburg sich fern der Heimat erst einmal daran gewöhnen, dass sie am Zebrastreifen oder bei grün gefahrlos über die Straße gehen können, drohe ihnen Lebensgefahr, sobald sie auf Russlands Straßen im trügerischen Vertrauen auf ihre Vorfahrt loslaufen: „Die sind dann bei uns fast so gefährdet wie Ihr Deutschen – Ihr seid ja so unvernünftig, bei grün einfach über die Ampel zu gehen!“
PS: Und noch eine Aktualisierung aus dem Jahr 2023. Inzwischen ist das Anhalten an Zebrastreifen auch in Russland und der Ukraine selbstverständlich. Was mich gleich doppelt freut: Erstens für die Fußgänger. Und zweitens, weil es all jene Lügen straft, die den Menschen dort wenig zutrauen.
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