Zum Abschied: Merkel wird heiliggesprochen Steinmeiers Rührstück für die Scheidende

Von Alexander Wallasch

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht bei der Entlassung der Bundeskanzlerin und der Mitglieder der Bundesregierung am 26. Oktober 2021 in Schloss Bellevue

„Mit der Konstituierung des neuen, zwanzigsten Deutschen Bundestages endet nach Artikel 69 Absatz 2 des Grundgesetzes Ihr Amt“, so beginnt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier laut Redeprotokoll noch ganz nüchtern seine Verabschiedung der Bundeskanzlerin nach sechzehn Amtsjahren, vier Legislaturen und einem in allen Belangen verunsicherten und gespaltenen Deutschland.

Ein tief verschattetes Land, über das Steinmeier selbst einmal sagte, es sei das beste Deutschland, das es jemals gegeben hätte.

Aber er sagte es schon so, als müsse man sich daran erinnern, wenn dereinst die Industrie abgewickelt, die Energieversorgung zusammengebrochen, die Meinungsfreiheit beerdigt, die Arbeitsplätze verloren und die einst von Billigangeboten aus aller Welt so prallvollen Supermarktregale nur noch an den Ostblock 1984 erinnern.

Als Bundeskanzlerin hätte Angela Merkel „Verantwortung getragen für unser Land, mit aller Kraft und Ernsthaftigkeit“, lobt Steinmeier. Und es kommt einem vor, wie den Regeln eines Arbeitszeugnisses nachgesprochen, wenn es darum geht, keine sichtbar negativen Einträge vorzunehmen.

Frank-Walter Steinmeier ist selbst auf besondere Weise mit Merkel verbunden, er war ihr Außenminister. Auch seine Tage als Bundespräsident sind gezählt. Fast schamlos hatten die potentiellen Nachfolger von Merkel den höchsten Posten des Landes mit verschachern wollen.

Steinmeier erinnert an Merkels Versuch, zu Beginn ihrer vierten Legislatur eine Jamaika-Koalition zu schmieden und wie schwierig also der Anfang war, bevor die Union dann doch wieder mit Steinmeiers SPD zusammenging.

„Aber am Ende galt ein gemeinsames Prinzip: Sie wollten die Verantwortung, um die Sie sich demokratisch beworben hatten, auch wahrnehmen. Das haben Sie getan und dafür gebühren Ihnen Respekt und Dank.“

Oder anders ausgedrückt: Merkel wollte die Macht und hat sie bis zuletzt nicht aus den Händen gegeben?

Steinmeier schaut auf die letzten Monate der Kanzlerin zurück und stellt ihr das allerbeste Zeugnis aus:

„Wir haben in den vergangenen Monaten erleben können, dass die Demokratie in unserem Land an Prüfungen gewachsen ist, weil ihre Vertreter verantwortungsvoll und als Demokraten handelten.“

Demokratie mal anders gedeutet

Die demokratischen Kräfte in Regierung und Parlament hätten dafür Sorge getragen, „dass Polarisierung und Provokation sich nicht durchsetzen konnten. Diese gemeinsame Anstrengung war erfolgreich. Und das ist ein Erfolg nicht nur für Sie, sondern für die Demokratie.“

Was für ein Missverständnis und eine absichtsvolle Missdeutung des Begriffs Demokratie: Sätze wie Ohrfeigen in die Gesichter all jener, die es laut einer Reihe von Studien schon nicht mehr wagen, ihre Meinung zu sagen. Die Demokratieverächter feiern sich selbst und Steinmeier gibt ihnen gemäß seiner traurigen Rolle den Zeremonienmeister.

Merkel ist die Beste, findet Steinmeier: „Rund 600 Gesetze sind in Ihrer Regierungszeit verabschiedet worden und damit viele konkrete Verbesserungen in der Gesellschaft.“

Selbst wenn dem so wäre, was nicht ist: Gegenüber einer imaginären Habenseite im besten Deutschland aller Zeiten steht ein dickes fettes Soll.

Das zu vermessen, wird die schwerste Aufgabe der nächsten Generation sein. Und wenn sie den Mund noch aufmachen dürfen, werden sie diese Frau aus der Uckermark verfluchen – um das zu verhindern, müssten alle Erzählungen über die „gute Zeit“ vor Angela Merkel verbannt und verbrannt werden.

Aber der bundespräsidiale Blumenkranz für Angela Merkel ist von Steinmeier hier noch lange nicht ausgeflochten. Der Sozialdemokrat kann noch viel zynischer als bisher jene Menschen verhöhnen, die unter Merkel ihre Stimme verloren haben, manche obendrauf ihre Freunde und ihr Auskommen.

Die beste Kanzlerin aller Zeiten

Davon vollkommen unbeeindruckt bescheinigt Steinmeier der besten Kanzlerin aller Zeiten, sie hätte „den Spaltungstendenzen in der Gesellschaft, der Verrohung und dem Hass nicht nur guten Willen entgegengesetzt, sondern konkrete Politik.“

Daran haben viele gedacht und sich mit Schaudern abgewandt von einer Merkel-Regierung, die sich zuerst die Medien untertan gemacht hat und dann hunderte von Nichtregierungsorganisationen (NGO) einkaufte mit hunderten von Millionen Euro (Projekt „Demokratie leben“ usw.), um sich ihre eigene außerparlamentarische Bewegung auf der Straße zu schaffen. Eine, welche aus Dankbarkeit gegenüber Merkel jede echte Opposition gegen diese Frau und ihre Politik im Keim erstickt, diffamiert, diskreditiert oder sogar zusammenschlägt.

Ohne Merkels Entscheidungen hätte Europa zusammenbrechen können, findet Steinmeier. Dass die Bundeskanzlerin u.a. mit ihrer Massenzuwanderungspolitik Großbritannien aus der EU getrieben und die osteuropäischen EU-Staaten zu weiteren potentiellen Ausstiegskandidaten gemacht hat, kommt beim Bundespräsidenten in seinem verlogenen Rührstück für die Scheidende nicht vor. Im Gegenteil: Die Fremdscham scheint auf dem Höhepunkt angekommen, wo Steinmeier formuliert:

„Was die heutige formelle Entlassung der Bundesregierung mehr als alles andere von vorangegangenen abhebt, ist das Ende einer Kanzlerschaft, die man zu den großen in der Geschichte dieser Republik rechnen darf.“

Galgenhumor hieße an der Stelle wohl, sich vorzustellen, Angela Merkel wäre als Mutter der Nation so gemütlich gewesen, solche Huldigungen entgegenzunehmen in einem Adidas-Sportanzug wie dereinst Fidel Castro – ein angesehener Sozialist auf der Weltbühne, so wie Angela Merkel eine im Herzen war und ist.

Merkels Jahre wären „beispielgebend“ gewesen, weiß Steinmeier. Ja, wenn er das schlechteste aller Beispiele meint, darf er damit Recht haben.

Für den Bundespräsidenten ist die Bundeskanzlerin „prägend für unser wiedervereintes Land und für das Bild unseres Landes in der Welt; prägend für eine ganze Generation junger Frauen und Männer, denen sie eine neue, ganz eigene Form der Führung vorgelebt hat.“

Ganz ehrlich, ist das bittere, beißende Ironie? Sarkasmus? Ist Steinmeier hier nur ganz besonders hinterfotzig oder meint er wirklich ernst, was er da vorträgt?

Danke für nichts

„Frau Bundeskanzlerin, wir haben Ihnen für sechzehn Jahre zu danken“, sagt Steinmeier. „Vor allem aber“ hätte Merkel „das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes gewonnen.“

„Ihre Entscheidungen“ hätten „Sicherheit vermittelt und Verbindlichkeit.“ Es wäre aber auch ihr überraschender Mut gewesen, so der Bundespräsident, „in der Zeit, in der Flüchtlinge aus Syrien bei uns Schutz suchten, Verantwortung zu tragen, nicht nur für das eigene Land, sondern für Europa.“

Merkel sei die Mittlerin in Europa gewesen, sagt Steinmeier, als hätte es diese schlimmen Verwerfungen seit Gründung der Staatengemeinschaft nie gegeben und London säße noch mit in Brüssel am EU-Fressnapf.

„Im Namen unseres Landes danke ich Ihnen“, so Steinmeier zu Merkel, „und wünsche Ihnen für die Zukunft alles erdenklich Gute.“

Die Bürger dieses Landes sehen nach Merkel allerdings einer düsteren Zukunft entgegen. Nicht, weil sie geht, sondern weil sie war. Das ist sicher die wichtigste Erkenntnis, die der Bundespräsident leider nicht in der Lage war, den Menschen begreiflich zu machen. Steinmeier wird ebenfalls bald nicht mehr auf dem Posten sein.

Nur in einer Sache kann er sich dann ganz beruhigt auf seinem Altenteil zurücklehnen: Der Schaden, den er angerichtet hat, war gegenüber jenem von Angela Merkel ein Fliegenschiss. Dieser Bundespräsident wird in Vergessenheit geraten und allenfalls einmal als Zeitgenosse jener Frau Erwähnung finden, die zu verantworten hat, was zukünftige Generationen werden zu beklagen haben.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine.

 

Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger und betreibt den Blog alexander-wallasch.de. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann), schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“ Seit August ist Wallasch Mitglied im „Team Reitschuster“.

 
Bild: Gints Ivuskans/Shutterstock
Text: wal

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