„Reichstags-Sturm“: Polizei wußte vorab von Gefahr Antworten der Behörde deuten auf Führungsversagen hin

Tagelang hat der vermeintliche „Sturm auf den Reichstag“ die Gemüter in Deutschland erregt. Für die einen war es ein in letzter Sekunde von drei Helden-Polizisten abgewehrter Beinahe-Putsch von Rechtsextremen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die drei Beamten am nächsten Werktag ins Schloss Bellevue eingeladen und ihnen persönlich gedankt. Viele Medien überschlugen sich in Lob für die Männer. Kritiker hingegen hielten die ganze Geschichte vom „Reichstags-Sturm“ für aufgeblasen bzw. für eine Farce. Zu diesem Schluss kam auch ich nach einer ausführlichen Analyse (siehe hier). Aber da man sich ja immer irren kann und den Dingen auf den Grund gehen muss, habe ich zwei Presseanfragen gestellt. Eine an die Polizei. Und eine an die Bundestagsverwaltung – wer die rätselhaften Männer auf dem Dach waren, die die ganze Zeit alles filmten. Jetzt liegen die Antworten vor. Sie sind überaus interessant. Sie deuten auf ein Führungsversagen hin. Ich dokumentiere sie unten.

In meinen Augen besonders brisant: Die Kundgebung war von einem Verein angemeldet, der dem Reichsbürgerspektrum zuzuordnen ist, und der Polizei war das nach eigener Aussage bekannt. Ebenso war sie im Bilde, dass das Parlamentsgebäude und Botschaften „im Fokus der Versammlungsteilnehmenden standen“ und voran sogar von einem Sturm die Rede war. Nachdem dies nun amtlich ist, stellt sich noch dringender als zuvor die Frage: Warum waren unter diesen Voraussetzungen nur so wenige Beamte vor dem Reichstag eingesetzt, als der so genannte „Sturm“ erfolgte?

Interessant auch: Das Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes (BefBezG) grenzt jeweils für den Deutschen Bundestag, den Bundesrat und das Bundesverfassungsgericht einen ,Befriedeten Bezirk´ ab, in dem Versammlungen unter freiem Himmel grundsätzlich verboten sind. Insofern stellte sich die Frage, wer da für die Reichsbürger eine Sondergenehmigung gegeben hat. Das weiß offenbar die Polizei auch nicht: Denn auf meine entsprechende Frage antwortete sie:Ein Zulassungsbescheid des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat zur Durchführung einer Versammlung am 29. August 2020 innerhalb des befriedeten Bezirks des Deutschen Bundestages lag bei der Versammlungsbörde nicht vor. Dies gilt auch für einen entsprechenden Ablehnungsbescheid.“
mvg

Erstaunlich auch, dass es für die Veranstaltung aus dem Reichsbürgermilieu laut der Auskunft keinerlei Auflagen gab, insbesondere im Hinblick auf die Corona-Vorschriften (siehe Antwort auf Fragen 4 und 5). „Querdenken 711“ dagegen wurden massive Auflagen auferlegt. Und deren Veranstaltung stand wiederholt kurz vor der Auflösung aufgrund von Problemen bei der Einhaltung dieser Auflagen.

So erfreulich es ist, dass die Pressestelle der Polizei hier offen antwortet – die Frage nach einem Versagen der Polizeiführung und vor allem der politischen Führung stellt sich hier noch dringender als zuvor. Man kann nur hoffen, dass die Sache ein Nachspiel hat – politisch und juristisch.

Dabei passiert genau das Gegenteil: Im Bundestag wurden heute die beteiligten Polizisten geehrt, auch mit stehenden Ovationen. Mit dabei: Ihr oberster Dienstherr, der Verantwortliche, Andreas Geisel. Berlins Innensenator, der früher in der SED war und heute in der SPD. Aufregung und kritisches Hinterfragen gab es nicht über Geisel Rolle – sondern über das Nicht-Applaudieren der AfD. Wie etwa FDP-Chef Christian Lindner:

Die FDP lässt keine Gelegenheit aus, vor dem quasiamtlichen linksgrünen Zeitgeist Männchen zu machen. Bei allem Respekt vor den Polizisten vor dem Reichstag – diese absurde „Helden“-Inszenierung zu befeuern, statt kritisch zu hinterfragen, ist einer bürgerlichen Partei unwürdig.

Interessant auch, dass es sich bei den Männern auf dem Dach, die alles filmten, um Polizisten handelte. Hier sollte das Berliner Parlament versuchen, an die Aufnahmen zu kommen, um eine restlose Aufklärung zu erreichen.

Antwort der Berliner Polizei auf meine Fragen:

1. War die Demonstration mit Lautsprecheranlage und Videowand im Winkel zwischen Reichstag und Bundeskanzleramt am 29.8.2020 genehmigungspflichtig?

Nein, der Aufbau der Lautsprecheranlage und Videowand war nicht genehmigungspflichtig.

2. Wer war der  Anmelder dieser Demo/Kundgebung?

Die Kundgebung wurde durch einen Verantwortlichen der Organisation, staatenlos.info – Comedian e.V., angemeldet.

3. Waren es so genannte Reichsbürger?

Der Verein „staatenlos.info e.V.“ ist dem Reichsbürgerspektrum zuzuordnen.

4. Welche Auflagen im Sinne der Eindämmungsverordnung wurden auferlegt?
5. Wurden diese aufrecht erhalten?

Die Kundgebung konnte ohne weitere Auflagen stattfinden, nachdem das OVG das Verbot der Versammlungsbehörde nicht bestätigt hat. 

6. Das Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes (BefBezG) grenzt jeweils für den Deutschen Bundestag, den Bundesrat und das Bundesverfassungsgericht einen ,Befriedeten Bezirk´ ab, in dem Versammlungen unter freiem Himmel grundsätzlich verboten sind. Warum wurde die Versammlung in diesem Bereich dennoch erlaubt?

Ein Zulassungsbescheid des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat zur Durchführung einer Versammlung am 29. August 2020 innerhalb des befriedeten Bezirks des Deutschen Bundestages lag bei der Versammlungsbörde nicht vor. Dies gilt auch für einen entsprechenden Ablehnungsbescheid.

a) Hätte auch eine andere  Standortzuweisung weiter weg vom  Reichstag, z.B. am anderen Ende der großen Wiese erfolgen können, wenn ja, warum erfolgte dies nicht?

Siehe Antwort zu Frage 4 (gemeint ist offenbar die gemeinsame Antwort auf die Fragen 4 und 5 oben/Anmerkung von Boris Reitschuster)

7. Im Vorfeld hatten so genannte Reichsbürger angekündigt, den Reichstag zu stürmen, es war von einem „Sturm auf Berlin“ die Rede.

a) War der Polizei das bekannt?

Es war bekannt, dass das Parlamentsgebäude und Botschaften im Fokus der Versammlungsteilnehmenden standen.

b) Wenn ja – welche Maßnahmen wurden geplant? Welche wurden ergriffen? 

c) Wenn nein – wann wurde der Polizei bekannt, dass Reichsbürger vor Ort sind und welche Maßnahmen wurden zu den Fragen b) und c) ergriffen?

Es wurden Polizeikräfte zum Schutz des Reichstagsgebäudes und der vor Ort befindlichen Versammlung eingesetzt.

Der erfundene „Reichstags-Sturm“

8. Zum Zeitpunkt der Tumulte waren Beamte auf der Wiese, aber wenige direkt am Reichstag. Warum?

Zum Schutz der Versammlung und zur Sicherung des Regierungsviertels (inclusive Reichstag) waren insgesamt 279 Einsatzkräfte eingesetzt, die sich lageangepasst in ihrem Einsatzraum bewegten. Die Maßnahmen (u.a. Schutz des Reichstages) der eingesetzten Polizeibeamten/innen wurden zudem durch Absperrgitter unterstützt. 

9. Während der Versammlung wurde die Hundestaffel, die fast den ganzen Tag den Reichstag bewachte, abgezogen. Warum? 

Im Verlauf des Einsatzes mussten die Diensthundführer in der Scheidemannstraße eingesetzt werden, um den Druck der Personen an den Absperrgittern in der Scheidemannstraße zu verringern.

An: Pressereferat Deutscher Bundestag <[email protected]>
Betreff: Presseanfrage

Sehr geehrte Damen und Herren,
gestatten Sie mir folgende Anfrage:

„Staatlich inszeniertes Theater“

1.) Warum befanden sich am 29.08. Menschen auf dem Dach des Paul-Löbe-Hauses in Berlin?
2.) Welche Aufgabe hatten diese Personen?
3.) Welcher Behörde/Firma/Organisation gehören sie an?
4.) Warum waren diese Personen mit hochwertigem Kamera-Equipment ausgestattet?
5.) Wer hat diesen Personen genehmigt, das Dach des Paul-Löbe-Hauses zu begehen?

Besten Dank im Voraus und freundliche Grüße

Boris Reitschuster
www.reitschuster.de

Antwort:

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Betreff: Ihre Anfrage | Paul-Löbe-Haus
Sehr geehrter Herr Reitschuster,

vielen Dank für Ihre Anfrage.

Während der Versammlungslage im Parlamentsviertel am 29. August 2020 befanden sich in Absprache mit der Polizei beim Deutschen Bundestag Einsatzkräfte der Berliner Polizei mit eigener Aufgabenwahrnehmung auf dem Dach des Paul-Löbe-Hauses. Bei weiteren Fragen bitte ich Sie, sich direkt mit der Pressestelle der Berliner Polizei in Verbindung zu setzen.

Freundliche Grüße

Deutscher Bundestag
CXXX HXXXXXX
Presse und Medien (PräsB1)
Platz der Republik 1
11011 Berlin
Telefon +49 30 XXXXXXX
Fax +49 30 XXXXXX

Bild: Screenshot Youtube
Text: br

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