Die Mainzer Rechtsanwältin Jessica Hamed hat vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in Ansbach gegen die Einschränkungen im Zuge der Corona-Krise im Frühjahr geklagt. Sie bestreitet, dass diese verhältnismäßig waren: insbesondere die Eingriffe in die Bewegungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und das Recht auf freie Berufsausübung. Im Rahmen des Verfahrens kam nun Erstaunliches zu Tage: Laut Bayerischem Gesundheitsministerium sind keinerlei Akten zu den Entscheidungsprozessen vorhanden.
Die Juristin klagt nun, es sei deswegen überhaupt nicht möglich, herauszufinden, auf welcher Basis die Beschlüsse ergingen. Damit sei eine juristische Überprüfung massiv erschwert. Denn es fehlen etwa die Angaben, auf Grundlage welcher Gefahrenprognose der Freistaat seine Entscheidung traf. Die Justiz könne nun auch gar nicht überprüfen, ob den Behörden überhaupt klar war, dass sie Rechtsgüter abwägen mussten. Und wie genau diese Abwägung ausfiel. Also warum etwa die Behörden zu dem Schluss kamen, dass die Gesundheitsgefahr schwerer wiegt als die Grundrechte.
Das Bayerische Gesundheitsministerium machte über eine Sprecherin geltend, bei Verordnungen wie denen zur Corona-Pandemie gebe es keine Vorschrift, alles zu dokumentieren. Zudem habe damals Zeitnot geherrscht und der Forschungsstand ändere sich laufend.
Juristen wundert diese Begründung. Tatsächlich sei zwar im Gesetz nicht vorgeschrieben, dass jede Verordnung in ihrer Entstehung bzw. ihre Gründe dokumentiert werden. Dies ergebe sich aber aus dem allgemeinen Prinzip der Rechtsstaatlichkeit der Verwaltung, so der Regensburger Juraprofessor Gerrit Manssen. Nur so sei es nämlich möglich, dass die Gerichte Verwaltungs-Entscheidungen überprüfen könnten.
In der „Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung von Korruption in der öffentlichen Verwaltung“ von 2004 heißt es unter Punkt 3.1. ganz eindeutig:
„Transparente Aktenführung
1.) Akten müssen die einzelnen Bearbeitungsschritte vollständig, nachvollziehbar und dauerhaft erkennen lassen.
2.) Vorgangsrelevante mündliche Erklärungen und Informationen sind schriftlich zu dokumentieren.
3.) Nähere Festlegungen finden sich in der Allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaates Bayern (AGO). 4.) Für Vergabeverfahren wird insbesondere auf die Dokumentationspflicht des § 30 VOL/A bzw. § 30 VOB/A (Vergabevermerk) hingewiesen.“
Verstößt Söders Regierung gegen die eigenen Richtlinien?
Bayerns Gesundheitsministerium verweist lediglich auf Berichte des Robert Koch-Instituts, des Landesamtes für Gesundheit und Gespräche mit Medizinern. Für die Klägerin Hamed ist das nicht ausreichend. Ihrer Ansicht nach müssten die Entscheidungsprozesse transparent sein für die Bürger. Diese müssten nachvollziehen können, was genau die Grundlage für den Lockdown und das Aussetzen von Grundrechten war. Dazu müsse bekannt sein, wie Besprechungen genau verliefen, wie die Argumentation und die Abwägung ausfielen.
Fast ebenso erstaunlich wie das Fehlen von Unterlagen für die massivsten Grundrechts-Einschnitte in der Geschichte der Bundesrepublik ist der Umgang der Medien damit. Man sollte davon ausgehen, dass sich Journalisten, die ihren Beruf ernst nehmen, auf so einen möglichen Fehler der Regierung stürzen. Genau das Gegenteil ist aber der Fall. Bis auf zwei Berichte im Bayerischen Rundfunk und in der Süddeutschen Zeitung ist zumindest bei Google-News nichts zu dem brisanten Thema zu finden.
Und auch die Süddeutsche versteckt es hinter einer Überschrift, die das Gegenteil von dem tut, was sie sollte. Nämlich das Thema überreißen und Neugierde wecken. „Corona-Maßnahmen: Aktenzeichen XY unbekannt“, steht da. Auch der Vorspann ist eher geeignet, die Brisanz zu verschleiern, statt sie herauszustellen, wie es journalistisches Muss wäre: „Eine Rechtsanwältin will wissen, auf welcher Grundlage die Staatsregierung in der Corona-Krise die Ausgangsbeschränkungen verhängt hat. Aus dem Gesundheitsministerium heißt es, das sei nicht erfasst worden.“ Im Beitrag wird dann alles korrekt geschildert – aber die meisten Leser werden den aufgrund der Schlafpillen am Einstieg wohl gar nicht gelesen haben.
Keine Kontrolleure der Regierung mehr
Ausgerechnet der Bayerische Rundfunk macht dagegen vor, wie es sauber gegangen wäre. Nach der Überschrift „Staatsregierung: Keine Akten zu Corona-Beschlüssen“ kommt ein handwerklich sauberer Vorspann: „Die Corona-Maßnahmen haben die Grundrechte eingeschränkt. Ob das verhältnismäßig war, soll jetzt juristisch geklärt werden. Doch dabei kam heraus, dass es laut Gesundheitsministerium keine Akten zu den Entscheidungsprozessen gibt.“
Schelmisch könnte man nun annehmen, dass der „Bayerische Rundfunk“ so auf linksgrün gedreht ist, dass er gerne mal der nicht ganz so linksgrünen Staatsregierung aus CSU und Freien Wählern eine auswischt. Aber im vorliegenden Fall wurde wohl schlicht und einfach sauber gearbeitet. Dass dies offenbar nur eine Redaktion in Deutschland schaffte und die anderen mehrheitlich schweigen, sagt viel über die Zustände und das Selbstverständnis unserer Medien aus. Sie sind mehrheitlich schon lange keine Kontrolleure der Regierung mehr. Viele agieren heute wie deren verlängerter Arm.
Text: red