Von Gregor Amelung
Dienstag, 24. August. Vor neun Tagen ist Kabul gefallen. Berlin. Bundespressekonferenz. Marcus Grotian betritt den Saal. Grotian ist Berufssoldat und hat an Auslandseinsätzen in Bosnien, im Kosovo und 2011 im afghanischen Kunduz teilgenommen. Im Moment trägt Hauptmann Grotian allerdings keine Uniform, sondern Anzug und Krawatte, denn er tritt hier auch in seiner Rolle als Gründer des Patenschaftsnetzwerks »Afghanische Ortskräfte e.V.« auf.
»Wir sind verbittert«
Nachdem Grotian auf dem Podium der Bundespressekonferenz Platz genommen hatte, übte er vor der Hauptstadtpresse scharfe Kritik am Umgang der Bundesregierung mit den Ortskräften: »Wir sind überwältigt und verbittert in einem Maße, das wir nicht in Worte fassen können.« Die »politischen und bürokratischen Entscheidungen«, »um Ortskräfte zu retten«, seien »viel zu spät oder immer noch nicht getroffen« worden.
»Ortskräfte mit einem Arbeitsvertrag für ein deutsches Ministerium, die abgelehnt werden, weil sie zur falschen Zeit für das falsche Ministerium gearbeitet haben«, so Grotian weiter. »Und da sind wir noch nicht mal bei der Sub-Unternehmer-Thematik, [über] die es sich immer noch lohnt zu streiten, aber ich rede hier erstmal nur von Ortskräften.«
Um sein Anliegen zu unterstreichen, hält »der Soldat«, so die TAZ einen Tag später, »sein Smartphone in den Saal der Berliner Bundespressekonferenz. Er zeigt den JournalistInnen das Foto eines Babys. Das Kind sei im Juli geboren, die Eltern, beide im Besitz eines Visums, hätten wegen der Schwangerschaft vor der Geburt nicht ausreisen können. Jetzt sitze die Familie in Kabul fest, weil sie kein Visum für das Kind besorgen konnte. ›Wir sind moralisch verletzt‹, sagt Grotian. Nicht vom Vorgehen der Taliban, sondern von der Regierung.« Einer Bundesregierung, die sich »unterlassene Hilfeleistung« vorwerfen lassen müsse, so Grotian.
Mindestens 10.000 Ortskräfte und ihre Familienangehörige sind betroffen
Eine derartig scharfe Kritik an der Berliner Corona-Politik hätten einem Polizisten – mit oder ohne Uniform – nicht nur eine Menge Ärger mit seinem Dienstherrn, sondern auch entsprechende Kommentare in der Presse eingebracht. Grotians Kritik dagegen wurde selbst in ihrer Schärfe positiv aufgenommen und medial breit besprochen. In der Süddeutschen (24.08.) vom Redaktionsnetzwerk Deutschland (24.08.), bei der Deutschen Welle (25.08.), von der Illustrierten Stern (25.08.) und bei Markus Lanz im ZDF (26.08.).
»Ich fühle mich verletzt«, erklärte Grotian dort einem Millionenpublikum. »Denn diese Menschen haben wir zurückgelassen. Das finde ich furchtbar.« Grotian selbst rechnet mit rund 10.000 Ortskräften und Familienangehörigen, denen gegenüber die Bundesrepublik Deutschland in der Pflicht steht.
Am selben Tag war in der Frankfurter Allgemeinen der Leserbrief eines anderen Afghanistan-Veteranen erschienen. Hier der ungekürzte Wortlaut (mit den Verlinkungen der Online-Ausgabe der FAZ):
»Es lohnte sich, für uns zu arbeiten«
Zur Afghanistan-Berichterstattung in der F.A.Z. vom 24. August und hier insbesondere die zur Evakuierung von Ortskräften plus Angehörigen: Haben Sie besten Dank für die ausführliche Berichterstattung zu den Vorgängen in Afghanistan, vor allen Dingen zu den Bemühungen, Ortskräfte und deren Angehörige auszufliegen. Auch ich gehöre zu den Soldaten der Bundeswehr, die in Afghanistan eingesetzt waren. 2005/2006 war ich, Dienstgrad Oberst, im 9. und beginnenden 10. Deutschen Einsatzkontingent Kommandant von Camp Warehouse in Kabul, des damals größten internationalen Camps mit ungefähr 2.400 Soldaten aus mehr als 20 Nationen. Was die Ortskräfte angeht, so habe ich einen anderen Zugang als der, der üblicherweise in den Medien verbreitet wird. Als Kommandant von Camp Warehouse hatte ich einige Ortskräfte. Diese jungen Männer (bei Radio Andernach gab es sogar einige Afghaninnen) kannten haargenau die Situation in der sie umgebenden Gesellschaft. [Anmerkung von Gregor Amelung: Radio Andernach ist ein Truppenbetreuungssender der Bundeswehr, zu dem auch Bundeswehr TV (BWTV) gehört.]
Selbstlosigkeit war das Letzte, was diese Leute angetrieben hat, um für uns zu arbeiten. Diese romantisch-idealisierenden Vorstellungen sind dort unbekannt beziehungsweise stoßen auf völliges Unverständnis. Das Leben ist viel zu hart, um sich mit derartigen Wohlstandsgefasel zu beschäftigen.
Unsere Ortskräfte wurden für afghanische Verhältnisse fürstlich entlohnt, gut behandelt und nahmen wie selbstverständlich an unserer ausgezeichneten Mittagsverpflegung teil. Von den Soldaten des deutschen Kontingents wurden sie in der Regel bei Kontingentwechseln mit Kleidung, Schuhen und so weiter beschenkt. Ich habe Dutzende sogenannte Mitnahmebescheinigungen unterschrieben, damit ihnen diese Geschenke bei der Kontrolle an der Wache nicht abgenommen wurden.
Es hat sich also gelohnt, für uns zu arbeiten. Dies war selbstverständlich auch ihrer Umgebung bekannt. Gehörten sie starken Familien, Stämmen, Clans an, haben auch diese davon profitiert und schützten diese Leute. Gut zu wissen: Ein Afghane definiert sich ausschließlich über seine Familien- beziehungsweise Stammeszugehörigkeit; Individualismus ist unbekannt. Gehörten sie zu schwächeren Gruppen, waren Schutzgeldzahlungen fällig, um nicht umgebracht zu werden. Darüber hinaus waren Informationen zu liefern. Die Taliban oder ähnliche Gruppierungen waren somit bis ins Detail über unsere Zahl, Ausrüstung, gegebenenfalls sogar über unsere Absichten informiert.
Meine beiden deutschen Soldaten, die mich bei der Führung des Camps unterstützt haben, waren entsprechend instruiert und zur Vorsicht bei der Informationsweitergabe ermahnt. Dass gerade diese Ortskräfte jetzt sämtlich zu uns kommen wollen, überrascht mich nicht; hatten sie doch einen recht genauen Einblick über unseren Lebensstandard erlangt. Innerlich verachten uns diese Menschen, was sie aus nachzuvollziehenden Gründen natürlich nie zugeben werden. Sie wollen ja etwas erreichen: den Wohlstandsmagneten Deutschland. Ich will nicht verkennen, dass es Ausnahmen geben mag. Nur: mir sind sie nicht begegnet. Aber vielleicht war und bin ich ja blind. Mit Letzterem befinde ich mich, wenn ich mir die Berichterstattung über den Zusammenbruch der durch die westlichen Staaten geförderten politischen Ordnung in Afghanistan betrachte, jedoch in bester Gesellschaft.
Dr. Thomas Sarholz, Oberst a. D., Andernach
Am Pranger beim Berliner Tagesspiegel
Obwohl auch Sarholz »als Soldat« in Afghanistan gewesen war und obwohl auch er eine begründete Meinung zu den dortigen Ortskräften hat, fand sein Debattenbeitrag in der Presse keinerlei Forum. Lediglich der Berliner Tagesspiegel ließ sich vier Tage später dazu herab, Sarholz’ Leserbrief in einem Artikel einzustampfen. Dort hieß es bereits direkt unter der Überschrift: »Ein ehemaliger Oberst urteilt in einem Leserbrief abschätzig über die afghanischen Ortskräfte. Sie locke der ›Wohlstandsmagnet Deutschland‹.« Weiter hieß es, Sarholz würde »verächtliche Pauschalurteile« benutzen und er »unterstelle« den Ortskräften, »sich aus Berechnung in die Dienste der Bundeswehr gestellt zu haben.«
Selbst Sarholz’ Afghanistan-Kompetenz stellte man indirekt in Frage, indem man schrieb, er sei »nach eigenen Angaben 2005/2006 Kommandant von Camp Warehouse« gewesen. Ein Detail, dass man beim Tagesspiegel eigentlich auch hätte recherchieren können. Wollte man aber nicht, denn sonst hätte man nicht den leicht fluiden Passus »nach eigenen Angaben« benutzten können.
»Gelegentlich Vollkornbrot und frische Vollmilch wären schön«
Oberst a. D. Dr. phil. Thomas Sarholz war in seiner aktiven Zeit Offizier im Generalstabsdienst, kurz »i.G.« genannt. Das und die Tatsache, dass das »Camp Warehouse« eine Militärbasis der »Multinationalen Brigade Kabul« gewesen ist, hätte man beim Tagesspiegel zu der naheliegenden und sachlichen Kritik verarbeiten können, dass Sarholz als Stabsdienstler und Kommandant eines derart großen Lagers, das noch dazu am östlichen Rand der Millionenstadt Kabul gelegen war, in seiner täglichen Praxis vielleicht doch weniger direkten Kontakt zu Ortskräften gehabt hat als beispielsweise Marcus Grotian in Kunduz. Aber auch das wollte man beim Tagesspiegel nicht. Man wollte ausgrenzen – das ist leicht. Zuhören ist dagegen anstrengend und recherchieren zeitaufwendig.
Nach seinem Afghanistan-Einsatz 2005/06 war Sarholz 2009 Mitglied der EUSEC-Mission, einer EU-Mission zur »Beratung und Unterstützung« der kongolesischen Armee nach dem dortigen Bürgerkrieg. Ab Februar 2010 war Sarholz als »Berater Ausbildung« (Conseiller Formation) in der Hauptstadt Kinshasa eingesetzt, wo er die Offiziersausbildung und den Neubau einer Offiziersschule beriet. In dieser Funktion führte das Magazin »Bundeswehr aktuell« im Juni 2010 ein Interview mit dem Oberst. Auf die Frage, was für den Offizier denn die »größten Entbehrungen« in Afrika seien, antwortete Sarholz recht menschlich schlicht: »Gelegentlich Vollkornbrot und frische Vollmilch wären schön.«
Engagement jenseits der Armee
Die kongolesische Hauptstadt, wo Sarholz’ Ehefrau »drei Jahre ihrer Kindheit« verbracht hatte, war der insgesamt dritte Auslandseinsatz des Bundeswehroffiziers gewesen. Hier engagierte er sich auch privat für die Stiftung »MiTo«, die 2011 von der kongolesischen Journalistin Michèle Esther Mondo gegründet worden war. »MiTo« möchte durch die Unterstützung kleiner Handwerksbetriebe wie etwa Friseuren und Schneidereien, »Frauen und Jugendlichen, Hilfe zur Selbsthilfe… geben.«
Insofern hätte man dem ehemaligen Bundeswehroffizier beim Tagesspiegel wenigstens ein bisschen Mitmenschlichkeit und Weltoffenheit zubilligen können, hätte man sich denn für ihn und seine Meinung tatsächlich interessiert. Lediglich die Bildzeitung verstand sich im Fall Sarholz als »Zeitung« im eigentlichen Sinne und führte am 1. September ein Interview mit dem Ex-Oberst.
Der Westen hat »nur eine hauchdünne Oberschicht erreicht«
Er sei, so Sarholz gegenüber Bild, vor seinem Einsatz in Afghanistan »etwas blauäugig« gewesen und habe sich auch noch nach seiner Rückkehr 2006 »sehr, sehr engagiert für diesen Einsatz« geäußert.
»Ich habe jedoch im Laufe der Zeit feststellen müssen, dass wir vielleicht… doch zu blauäugig und mit zu weit gesteckten Zielen… in diesen Einsatz gegangen sind, ihn geführt haben und dann halt eben erkennen mussten, dass wir nur eine hauchdünne Oberschicht – wenn überhaupt – erreicht haben. Und es ist uns eben leider nicht gelungen ist, in die breiten gesellschaftlichen Schichten einzudringen.« Jeder Tag, so der Ex-Oberst, sei in Afghanistan »ein Kampf ums Überleben«, deshalb könne man »unsere Maßstäbe nicht auf diese Gesellschaft übertragen. Das wäre Hybris.« Also Hochmut, Überheblichkeit oder Vermessenheit, so der Duden.
Unterschiedliche Definition von »Ortskräften«
Während Marcus Grotian vom Partnerschaftsnetzwerk »Afghanische Ortskräfte e.V.« Ortskräfte, die Deutschland aufnehmen muss bzw. soll, u.a. an ihrem »Arbeitsvertrag« festmacht, definiert Sarholz die Zugangsberechtigung deutlich anders: »Dass wir denjenigen helfen müssen – ich unterstreiche: denjenigen, die wirklich mit uns auf dem Gefechtsfeld waren, die für uns wirklich den Kopf hingehalten haben – dass wir denen helfen müssen, da gibt es [für mich] überhaupt keine Diskussion. Und natürlich auch ihren Familien. Aber… wenn Sie mal sehen, wie viele jetzt plötzlich Ortskräfte gewesen sein wollen…, dann… möchte ich doch zu einer gewissen Vorsicht mahnen.«
Danach stellt Bild-Live-Chef Claus Strunz angesichts dessen, dass inzwischen sogar von »70.000 Menschen, vielleicht über 100.000 Menschen« im politischen Berlin die Rede ist, eine ganz wesentliche, bisher aber nie offen diskutierte Frage: »Wenn ich formulieren würde ›Achtung, liebe Bundesregierung, auch Ortskräfte können böse Menschen sein‹, was würden Sie dazu antworten?«
»Wir müssen uns dieser Tatsache klar werden.«
»Ich meine: Das lehrt [schon] die tägliche Praxis. Wir haben doch Ortskräfte erlebt, bei uns Deutschen weniger, aber zum Beispiel bei anderen Staaten, die sich als Selbstmordattentäter… entpuppt haben. Wir haben Ortskräfte erlebt, die als Wachmänner eingesetzt von den Wachtürmen aus, wenn Konvois die Camps verlassen haben, dies nach draußen gemeldet haben. (…)
Wir müssen uns doch mal die Gesellschaft dort anschauen. In Afghanistan ist der Einzelne nicht überlebensfähig und insbesondere keine Frau. Das heißt: wir sind hier mit einer Gesellschaft konfrontiert, in der der Zusammenhalt der Familien, der Clans, der Stämme überlebenswichtig ist. (…) Dass diese Menschen dort versuchen, in dieser Umgebung zu überleben, das kann man ja niemand vorwerfen. Das werfe ich auch niemandem vor. Wir müssen uns [aber] dieser Tatsache klar werden. Das ist das, was… ich mit diesem Leserbrief zum Ausdruck bringen wollte.«
»Ich hatte gar kein Vertrauen zu Ortskräften.«
Am 3. September meldeten sich drei weitere Veteranen zu Wort, die Sarholz’ »verächtliche Pauschalurteile« (Tagesspiegel) stützen. So erklärt etwa der ehemalige Fallschirmjäger Denny Vinzing: «Ich hatte gar kein Vertrauen zu Ortskräften.» Vinzing war wie Marcus Grotian in Kunduz stationiert gewesen. Dort hatte er 2010 auch am sogenannten »Karfreitagsgefecht« teilgenommen, in dem 3 Bundeswehrsoldaten getötet und 8 verwundet worden waren.
Bezeichnender Weise kamen Vinzing und seine beiden Kameraden nicht bei Markus Lanz zu Wort sondern in einem Artikel der Neuen Züricher Zeitung.
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Bild: Shutterstock
Text: Gast
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